Efeu - Die Kulturrundschau

Welch albernes Gesichtshaar

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12.07.2021. Reichlich überholt erscheinen dem Tagesspiegel die Stargesten der männlichen Hollywood-Riege in Cannes, die Europäer liefern dagegen zumindest laut der ebenfalls missgestimmten FR schlechtes Fernsehen. In der taz erzählt Tilman Baumgärtel, wie nervig es ist, NFT-Kunst zu kaufen. Die SZ erlebt in Roland Schimmelpfennigs "Skizzen der Dunkelheit", wie Lust zur Pflicht verkommt. Im Standard erklärt Lars Eidinger, nicht hip, sonder echt konservativ zu sein. In der FAZ erinnert die russisch-tschadschikische Sängerin Manizha daran, auf welchen Widerstand Feminismus auch stoßen kann. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.07.2021 finden Sie hier

Film

In Cannes steigt die Zahl der Corona-Positivtests und drückt damit erheblich auf die Laune, die Festivalleitung verbreitet derweil mitunter irritierende "The Show Must Go On"-Stimmung, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel: "Kaum jemand zweifelt daran, dass die Maßnahmen in Frankreich bald wieder verschärft werden. Thierry Frémaux täte als verantwortungsvoller Gastgeber gut daran, nicht erst auf eine Regierungserklärung zu warten. Auch auf der Leinwand erweisen sich die Stargesten der männlichen Hollywood-Riege als reichlich überholt". Gemeint ist damit Sean Penns neuer Film "Flag Day": "Hinter welchem albernen Gesichtshaar sich Damon und Penn auch verstecken, ihr Schauspiel sucht selbst in der Jedermanns-Rolle noch die große Geste. Ihre Menschlichkeit bleibt ein Eitelkeitenprojekt." Immerhin: Dylan Penn, Sean Peanns Tochter, ist in dem Film ein Großereignis, schreibt Tobias Kniebe in der SZ.

Das Festival mag sich ja erfolgreich gegen den Angriff der Streamingdienste auf das Kino wehren, aber die im Wettbewerb gezeigten Filme von Joachim Trier und Nanni Moretti wirken trotzdem wie "schlechtes Fernsehen", seufzt Daniel Kothenschulte in der FR und sucht Trost bei Todd Haynes' (allerdings von Apple und damit ebenfalls von einem Streamer vertriebenem) Dokumentarfilm über The Velvet Underground, der "wie ein Manifest gegen die Gleichförmigkeit so vieler Netflix- oder Amazon-Produktionen wirkt. Haynes erzählt die Geschichte der Band "mit den Mitteln des Avantgardefilms. Andy Warhols berühmte stumme Porträtfilme, die 'screen tests', bieten die Stilvorlage - und verschmelzen mit akustischen Interviewfragmenten von zum Teil atemberaubender Recherchetiefe. ... Todd Haynes gibt damit zugleich die beste Antwort auf die Frage: 'Quo vadis, Cinema?'" Einen kleinen Eindruck vermittelt der Trailer:



In der FAZ kommt Andreas Kilb dem auf diese Weise arg gescholtenen Nanni Moretti zu Hilfe: Dessen "Tre Piani" bietet ihm den Anlass zu einer kleinen Meditation, was filmische Meisterschaft bedeutet. "Die Beherrschung der filmischen Mittel allein ist es nicht, der Stil ebenso wenig. Ein Erzählrhythmus, der im einen Fall perfekt ist, kann in einem anderen fehl am Platz sein. Am ehesten kommt man dem Phänomen des Meisterlichen womöglich nahe, wenn man es als eine Form des Schauens bezeichnet. Das betrifft den Blick auf Menschen ebenso wie den auf Gegenstände und Geschichten, das einzelne Bild ebenso wie den Film im Ganzen. Bei Nanni Moretti zeigt es sich in der Art, wie er einzelne Dinge hervorhebt und andere weglässt." Und die Schauspielerin Margherita Buy beschere gar "eine der großen schauspielerischen Erfahrungen dieses Festivals."

Mehr von der Croisette: Hanns-Georg Rodek bespricht in der Welt Ari Folmans Animationsfilm "Where is Anne Frank", mit dem sich der israelische Filmemacher an der Antwort auf die Frage versucht, "wie es mit der Vermittlung des Holocaust weitergehen soll, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind." Außerdem sahen Dominik Kamalzadeh (Standard) und Andreas Busche (Tagesspiegel) Paul Verhoevens Nonnenfilm "Benedetta" (mehr dazu bereits hier). Und: Es ist "nicht alles Palmen und Party in Cannes", seufzt Andreas Kilb im FAZ-Blog in seinem Bericht von den Beschwerlichkeiten des Kritikerdaseins, der am Tag nicht nur mindestens drei Filme sehen, sondern auch Zeit zum Nachdenken und Schreiben finden muss.

Themenwechsel: Ulrike Nimz spricht in der SZ mit dem Dokumentarfilmer Mario Schneider, der sich auf ostdeutsche Lebensrealitäten spezialisiert hat. Es geht um Bergungsarbeiten im historisch Verschütteten: "Dass binnen weniger Jahre nichts mehr ist wie vorher - das ist schon eine sehr ostdeutsche Erfahrung. Aber ich versuche da möglichst wenig didaktisch zu sein. Bei mir erklärt keine Stimme aus dem Off: Hier sehen Sie, warum manche Ostler so wütend sind. Wenn meine Filme nicht auch in China verstanden werden, bin ich nicht zufrieden."

Weitere Artikel: Im Filmdienst resümiert Marius Nobach das Filmfest München. In der Zeit stellt Sebastian Markt das feministische Filmmagazin Another Gaze vor, das mit Another Screen auch ein Filmportal betreibt. Marie-Luise Goldmann erklärt in der Welt, warum sie den Marvelblockbuster "Black Widow" besser als "James Bond" findet. Anna Vollmer berichtet in der FAS vom Erfolg eines Open-Air-Kinos in Rom. Isabella Caldart erzählt auf 54books von ihrer Wiederbegegnung mit der Sitcom "King of Queen".

Besprochen werden Jean Boués Dokumentarfilm "Die letzten Reporter" zum Stand der Dinge im Lokaljournalismus (Freitag) und Lee Isaac Chungs "Minari" (NZZ).
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Kunst

In der taz erzählt Tilman Baumgärtel, wie er auf die bescheuerte Idee kam, NFT-Kunst zu kaufen und eine irre nervige Prozedur über sich ergehen zu lassen. Meist werden auf den NFT-Börsen nur Manga-ähnliche Fantasybilder verkauft, die für viel Geld nach Singapur verhökert werden, aber der Münchner Künstler Volker Möllenhoff hatte eine Arbeit geschaffen, die sich mit der technischen Grundlage von NFTs beschäftigt. Das interessiert Baumgärtel: "Möllenhoff aber hat gar kein Bild geschaffen, sondern bei Openseas eine Datei hochgeladen, die zwar für einen Computer wie eine Bilddatei aussieht, aber keinerlei Daten enthält - ein sogenanntes Zero-Byte File. Wenn man sich die Arbeit auf der Plattform ansehen will, versucht diese ein Bild zu zeigen, das es überhaupt nicht gibt. Stattdessen sieht man lediglich einen 'Throbber', also einen kleinen rotierenden Kreis, der signalisiert, dass da etwas geladen wird - so ähnlich wie bei YouTube, wenn das Video nicht starten will. Ich habe also im Grunde nichts gekauft - wie übrigens auch alle anderen NFT-Inhaber. Ich besitze lediglich ein Stück Code, das beweisen soll, dass mir diese leere Datei gehört."

Weiteres: Berückt berichtet Kevin Hanschke in der FAZ, wie eine mehrkanalige Soundlandschaft des nigerianischen Tonkünstler Emeka Ogboh gerade Frankfurt verzaubert. Von einem Ausflugsboot auf dem Mai dringt die tröstliche, von ihm selbst komponierte Hymne  "This Too Shall Pass": Sie verbindet Elemente des christlichen Chorals mit afrikanischen Rhythmen und neukomponierten, experimentalen Klängen." Ingo Arend berichtet in der SZ von der Sonsbeek-Biennale im niederländischen Arnhem, die Bonaventure Ndikung kuratiert hat.

Besprochen die Ausstellung "Bellum et Artes" im Grünen Gewölbe in Dresden zum Dreißigjährigen Krieg in der Kunst (SZ), die Ausstellung "Beyond States. Über die Grenzen von Staatlichkeit" im Zeppelin Museum Friedrichshafen (Welt) und Yayoi Kusamas bereits vielfach gefeierte Retrospektive im Berliner Gropiusbau (taz).
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Bühne

Hat er eine Rolle für sie? Foto: Katrin Ribbe

Exzellent findet Adrienne Braun in der SZ Tina Laniks Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit", am Stuttgarter Schauspiel, aber auch schon Schimmelpfennigs Überschreibung von Arthur Schnitzlers Roman "Reigen" erscheint ihr grandios: "Er nutzt das Ringelrein, um unterschiedliche Lebensentwürfe anzudeuten - mit Typen, die man zu kennen scheint: Prenzlauer-Berg-Mutti, braver Familienvater, Filmproduzent und gealterte Schauspielerin. Es geht um Macht und Missbrauch, Betrug und Berechnung, dabei lässt sich Schimmelpfennig aber nicht zu plakativen Rollenzuweisungen hinreißen, sondern erzählt wie nebenbei vom verzweifelten Ringen um Lust, die heute mühsam mit Viagra, Pornos, Gewalt und SM-Spielen angeheizt werden muss. Hundert Jahre nach der Uraufführung des 'Reigen' scheint Sex zur leidigen Pflicht verkommen zu sein. 'Tut mir leid, so schnell kann ich nicht', sagt Frank beim Tinder-Date mit Nina. Sie hatte beim Chatten schon geahnt, was sie erwartet: 'jämmerliches Leben', aber 'geiler Körper'."

Etwas zu grell erscheint der Abend Nachtkritiker Steffen Becker, aber auch für ihn hatte er seine Momente: "Highlight des Abends ist Paula Skorupas Darstellung einer Jugendlichen, die sich erst mit dem gehörnten Ehemann der One-Night-Stand-Frau in Kokslinien wälzt. Dann verletzlich ihre Einsamkeit offenbart. Und in der nächsten Skizze beides kombiniert beim unbeholfen-durchgeknallten Anbandeln an einen Drehbuchautor, von dem sie sich einen Job erhofft. Die Skizzen sind überspitzt, die Figuren reduziert. Aber Skorupa zeigt, dass man sie dennoch facettenreich und berührend spielen kann."

Im Standard-Interview mit Stephan Hilpold räumt Schauspieler Lars Eidinger mit dem Missverständnis auf, er sei hip: "Ich bin eher konservativ, auch was meine Vorstellung von Theater anbelangt." Und auf seine Rolle als "Jedermann" - oder auf den "Faschingsprinz von Salzburg", wie Klaus Maria Brandauer sagen würde - freut er sich natürlich: "Ich habe noch nie ein Bierfass angestochen, will das auch nicht vorschnell bewerten. Ich bin ein neugieriger Mensch. Als DJ bin ich oft auf Veranstaltungen, zu denen ich sonst nicht gehen würde. Anstrengend wird das dann, wenn man angehalten ist, den Erwartungen der Menschen zu entsprechen. Diesen Druck spüre ich aber nicht."

Besprochen werden Brigitte Fassbaenders Inszenierung von Richard Wagners "Rheingold" im Festspielhaus von Erl gegönnt (Musikalisch "ein Glanzstück", wie Helmut Mauro in der SZ meint), Matthew Wilds Inszenierung von Engelbert Humperdincks "Königskinder" in Erl (deren solide Hoffnungslosigkeit NZZ-Kritiker Michael Stallknecht zu  goutieren wusste), die Uraufführung von Kaija Saariahos Oper "Innocence" beim Festival in Aix-en-Proevence (taz), Claus Guths Inszenierung von Poulencs "Dialogen der Karmelitinnen" in Frankfurt (Welt) und die Uraufführung von Gerd Kührs Oper "Paradiese" nach Hans-Ulrich Treichel in Leipzig (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Sieglinde Geisel unterzieht Prousts "Recherche" dem Page-99-Test von Tell und eröffnet damit eine Proust-Reihe des Literaturmagazins. Frank Heibert erinnert sich im Zuge daran, Proust mit Anfang 20 gleich zweimal gelesen zu haben. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein daran, wie Henry Kissinger Ingeborg Bachmann auch ohne Reisepass in die USA brachte.

Besprochen werden unter anderem Fatima Daas' "Die jüngste Tochter" (Standard), Frédéric Beigbeders "Der Mann, der vor Lachen weinte" (online nachgereicht von der Welt), Ralf Königs "Lucky Luke"-Hommage "Zarter Schmelz" (Standard), Stefan Matuscheks Studie "Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik" (NZZ) und Quentin Tarantinos Romanversion seines Films "Once Upon a Time in Hollywood" (Tagesspiegel, FAS),

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hartmut Leppin über Dracontius' "Über den Ursprung der Rosen":

"Verletzt wird die fruchtbare Venus, als sie dem Liebesdrängen des Mars sich entzieht
und mit ihren bloßen Füßen auf die Blumenwiese tritt:
..."
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Musik

Kerstin Holm unterhält sich für die FAZ mit der russischen, tadschikisch-stämmigen Sängerin Manizha, die nach ihrem Eurovision-Auftritt mit dem Stück "Russian Woman" einerseits angefeindet wurde, von anderen aber auch "zum Symbol eines neuen Selbstbewusstseins nichtslawischer Russländer und solcher mit Migrationshintergrund" erklärt wurde. Neben ihrer Musik hat sie eine Organisation gegründet, die Frauen aus traditionelleren ethnischen Kulturen in Russland stützt: "Der Nordkaukasus gehört zu Russland, die zentralasiatischen GUS-Staaten sind russisch geprägt. Dennoch sind unsere Mentalitäten sehr unterschiedlich. Wenn sich eine Frau im Kaukasus scheiden lässt, werden ihr normalerweise die Kinder weggenommen, zumeist kann sie auch nicht zu den Eltern zurückkehren, das wäre peinlich. Man verliert alles. ... Es ist wichtig, dass der Feminismus - dass du Rechte, dass du die Wahl hast, dass das normal ist - in die Sprache von Menschen mit orientalischer Mentalität übersetzt wird. Man muss sich Zeit nehmen, die richtigen Worte finden, wozu westliche Frauen oft keine Lust haben. Sie verstehen nicht, warum es unmöglich sein soll, sich scheiden zu lassen."



Außerdem: Anja Maier berichtet auf ZeitOnline von ihrem Besuch bei Konstantin Wecker. Beatrix Borchard erinnert in der FAZ an die vor 200 Jahren geborene Sängerin und Komponistin Pauline Viardot-García.

Besprochen werden das Buch "Listening" des Pianisten Nik Bärtsch (NZZ), neue Jazzveröffentlichungen aus den Archiven der Rundfunkanstalten (NMZ), das neue Album von Inhaler (Standard) und neue Musikveröffentlichungen, darunter András Schiffs Aufnahme von Brahms' Klavierkonzerten (FAZ).
Archiv: Musik