Efeu - Die Kulturrundschau

Die Leute werden jetzt ein bisschen verrückt

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05.04.2022. Im Tagesspiegel erklärt der ukrainische Autor Yuriy Gurzhy, dass wir von nun an Russland klein schreiben sollten: "Am Massaker von Butscha ist russland schuld." Die FAS stellt den neuen feministischen Horror aus Lateinamerika vor. Erleichtert quittiert die SZ die Meldung, dass Igor Zelensky nun doch sein Amt als Direktor des Bayerischen Staatsballetts niederlegt. In der taz erklärt die kubanische Künstlerin Eileen Almarales Noy, warum sie sich nicht dem Boykott gegen die Bienal de la Habana anschließt. FR und FAZ schmelzen dahin unter dem Wohlklang von Jonathan Tetelman und Nadja Stefanoff in Giordanos "Fedora". Und: der Mariupol-Film von Mantas Kvedaravičius ist bei Youtube zu sehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2022 finden Sie hier

Literatur

Vollkommen schockiert ist der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy, nachdem er die Fotos aus Butscha sah. "Dafür gibt es keine Worte, in keiner Sprache der Welt. Das übersteigt alles", schreibt er in seinem von Berlin aus geführten Kriegstagebuch im Tagesspiegel. "Die Menschen, die das gemacht haben, kann man nicht verstehen. ... Wird es in Deutschland noch Menschen geben, die es danach wagen, von 'Putins Krieg' zu sprechen? Man kann es nicht oft genug sagen, laut, klar und deutlich - wir haben es hier mit dem Genozid des ukrainischen Volkes zu tun, den russland (ab jetzt sollte der Name dieses Landes nur noch kleingeschrieben werden) mit den Händen seiner Bürger betreibt. Am Massaker von Butscha ist russland schuld. Am Massaker von Butscha sind russen schuld."

In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch aus Charkiw erzählt Sergei Gerasimow davon, wie der Freund seiner Tochter unter grotesken Umständen verhaftet wurde, weil das von irritierten Nachbarn herbeigerufene ukrainische Militär ihn für einen Spion hielt. "Am nächsten Tag ließen sie Witalik frei. Jetzt leben wir also alle zusammen: vier Menschen, fünf Katzen und eine Maus, die eigentlich ein Zwerghamster ist. Die verängstigten Nachbarn - ich hoffe, dass sie alle überleben werden - werden ihren Kindern und Enkeln eine Horrorgeschichte über den Tag erzählen, an dem sie Spione überfallen haben, die feindlichen Flugzeugen Signale gaben. Die Leute werden jetzt ein bisschen verrückt."

Junge lateinamerikanische Schriftstellerinnen wie Mariana Enríquez, Samanta Schweblin und Mónica Ojeda beleben die Horrorliteratur neu, schreibt Hernán D. Caro (online nachgereicht) in der FAS: "Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: 'lateinamerikanischer Gothic', 'anomaler Realismus', 'feministischer Horror'. Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen. ... Was ihre Geschichten so furchteinflößend macht, ist der oft bloß angedeutete Bezug auf reale Missstände, auf die ungeheure Ungleichheit Lateinamerikas und die Gleichgültigkeit - oder Brutalität - seiner Institutionen."

Außerdem: Für die SZ porträtiert Karin Janker den portugiesischen Schriftsteller Afonso Reis Cabral, dessen Roman "Aber wir lieben dich" einen 2006 begangenen Mord an einer Transsexuellen in Porto
handelt. Ilma Rakusa (NZZ) und Michael Martens (FAZ) gratulieren dem Schriftsteller Bora Ćosić zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Marie Gamillschegs "Aufruhr der Meerestiere" (Standard), Peter Burschels "Die Herzog August Bibliothek. Eine Geschichte in Büchern" (SZ) und Leïla Slimanis "Der Duft der Blumen bei Nacht" (FAZ).
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Bühne

Bisher hatte sich der russische Direktor des Bayerischen Staatsballetts, Igor Zelensky, nicht zum Ukrainekireg geäußert, jetzt tritt er zurück, berichten Moritz Baumstieger und Dorion Weickmann in der SZ und erklären zum Hintergrund: "Als Tanzexperte war er Mitglied im Supervisory Board einer russischen Stiftung, die vier kulturelle Zentren errichten soll, eines davon in Sewastopol, auf der von Russland annektierten Krim. Schon deshalb ist diese Beraterfunktion spätestens seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine eine heikle Nebentätigkeit." Und sie ergänzen, dass Zelensky das Ensemble nur begrenzt brillieren ließ: "Bedenklich ist der Verfall des Repertoires, das bis zur Ankunft Zelenskys mit einer einzigartigen Breite von Tradition bis Innovation glänzte. Zelensky strich Moderne und Postmoderne weitestgehend aus dem Programm: Forsythe, Kylián, Cunningham oder Childs? Fehlanzeige."

Unghemmter Wohlklang: Jonathan Tetelman und Nadja Stefanoff in Umberto Giordanos "Fedora". Foto: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt

Einfach mal hingerissen ist FR-Kritikerin Judith von Sternburg Christof Loys "lukullischer und intelligenter" Inszenierung von Umberto Giordanos "Fedora" an der Oper Frankfurt: "Der Tenor singt, als gäbe es kein Morgen, und es gibt sozusagen auch keins. In Frankfurt ist das der 34-jährige, aus Chile stammende, in den USA ausgebildete Jonathan Tetelman, den man unbedingt hören muss, eine Ausnahmestimme in raumsprengendem Umfang und von so klassisch tenoralem Glanz, dass er sich vor der anschließenden nächtlichen 'Amor ti vieta'-Dauerschleife mit Placido Domingo nicht zu verstecken braucht." FAZ-Kritiker ist Jan Brachmann aber auch sehr eingenommen von der Fürstin Fedora Romazow, die für den russischen Geheimdienst arbeitet, um den Mörder ihres Mannes zu finden, sich dann aber in ihn verliebt: "Wie singt man solch eine Frau? Mit Wärme, Pathos und Hingabe? Oder mit Berechnung, Glanz und Contenance? Nadja Stefanoff an der Oper Frankfurt geht diese Partie - es ist ihr Rollen- und Hausdebüt - sehr überlegt an. Ihre schlanke Stimme, zugleich hell timbriert, setzt nirgends allein auf satte Sinnlichkeit."

Besprochen werden Stefan Wirths Opernfassung von Tracy Chevaliers Bestseller "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" in Zürich (NZZ), Valentin Schwarz' Inszenierung von York Höllers Oper "Der Meister und Margarita" in Köln (die SZ-Kritiker Egbert Tholl eine Vorahnung gibt auf Schwarz' ausstehenden Ring in Bayreuth) und Robert Borgmanns Inszenierung von Rainald Goetz' "Reich des Todes" am Wiener Akademietheater (Nachtkritik).
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Kunst

Mehr als 400 KünstlerInnen riefen zum internationalen Boykott der Bienal de La Habana auf, um gegen die kubanische Regierung zu protestieren. Im taz-Interview mit Vera Dünninger nennt die kubanische Eileen Almarales Noy die Bienale einen totalen Fehlschlag und die politisch gesteuerten Kulturinstitutionen des Landes mittelmäßig: "Trotzdem schließe ich mich dem Boykott der Biennale nicht an. Die Regierung unterdrückt uns und versucht, unsere Kunst zu manipulieren, aber dieser Boykott macht uns kubanischen Künstler:innen Druck. Denn die Biennale ist eine der wenigen Gelegenheiten für uns, im Land auszustellen. Zum Teil sind es Kulturschaffende aus anderen Ländern, die ganz andere Möglichkeiten haben als wir, und die mit ihrem Boykott der Biennale einen eisernen Krieg gegen die Regierung und den Kunstbetrieb Kubas führen."

Edgar Degas: Ukrainische, nicht mehr russische Tänzerinnen. Bild: National Gallery, London

In der FAZ meldet Gina Thomas, dass die Londoner National Gallery ein Pastell von Edgar Degas umbenennt und aus russischen Tänzerinnen jetzt "Ukrainische Tänzerinnen" macht: "Dafür sprechen die blau-gelben ukrainischen Nationalfarben in den Kopfkränzen der Tänzerinnen."

In der Welt berichtet Martina Meister von der vorläufigen Bilanz der Unesco zu den kulturellen Schäden, die der Krieg gegen die Ukraine bisher anrichtete. Am schwersten betroffen sei Charkiw im Nordosten: "Dort sei das Holocaust-Mahnmal, die Verkündungskathedrale, das staatliche Theater für Oper und Ballett sowie das Kunstmuseum von russischen Bomben teilweise oder ganz zerstört worden."
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Film

Barbara Wurm erinnert in der Welt an den litauischen Dokumentarfilmemacher Mantas Kvedaravičius, der am Samstag beim Versuch, aus Mariupol zu fliehen, ums Leben gekommen ist (mehr dazu bereits hier). "Bis zuletzt galt der 45-Jährige als filmisch denkender Mensch, der selbst dann Mensch blieb, als es die Umstände radikal erschwerten. Menschen in widrigen, von Grausamkeit und Machtspielen geprägten Umständen waren auch sein Thema: die Alltäglichkeit der Gewalt, die Rituale versuchter Überwindung von Leid, Schmerz, Folter, Krieg; die schwindenden Kräfte des Widerstandes. ... Kvedaravičius entfaltete über ein Jahrzehnt mit nur drei Filmen ein ganzes Spektrum der visuellen Anthropologie. Es harrt nun der Auswertung und Erforschung. Die Zeit wird kommen. Die Filme selbst machen ein unendliches Eintauchen in die Materie der Welt möglich, zwischen Traum und Wirklichkeit, Horror und Alltag, Fakten und phänomenaler Imagologie."

In der Jungle World sprechen Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber über die diesjährige Ausgabe der Diagonale und das österreichische Kino, auf dessen Filmförderung sich aus Deutschland manch sehnsuchtsvoller Blick fällt: "Wir sind da keine Insel der Seligen. Dennoch sieht es strukturell so aus, dass österreichische Förderstellen ein gewisses Risiko eingehen und durchaus auch experimentelles oder mutiges Kino ermöglichen", sagt dazu Schernhuber.

Weitere Artikel: Carolin Weidner resümiert in der taz das Internationale Frauenfilmfestival in Dortmund/Köln. In der FAZ gratuliert Andreas Kilb Peter Greenaway zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Aleksandr Koberidzes "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" (online nachgereicht von der FAS) und Oliver Rihs' Biopic "Bis wir tot sind oder frei" über den Schweizer Gefängnisausbrecher Walter Stürm (SZ).
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Architektur

taz-Kritikerin Katharina Cichosch begibt sich ins Ausweichquartier des Deutschen Architekturmuseums (DAM) nach Neu-Anspach, um in der Ausstellung "Schön hier" zu erfahren, wie gute Architektur auf dem Land aussehen könnte. Der Standard zitiert aus dem Spiegel-Interview auf, in dem der Wiener Architekt und Gründer des Büros Coop Himmelb(l)au Wolf Prix seinen Opern bau auf der Krim rechtfertigt: "Ich verherrliche niemanden, der autoritär handelt, und ein für alle Mal: Architektur ist Kunst, und Kunst kennt weder Sanktionen noch Grenzen. Im Gegenteil, sie lässt sich nicht verbieten, sie öffnet vielmehr. Das mag schwer zu verstehen sein für jemanden, der mir aus dem Elfenbeinturm zuruft, was ich zu tun und zu lassen habe."
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Musik

Tobi Müller ärgert sich auf ZeitOnline maßlos über die Grammy-Verleihung (unser erstes Resümee): Viel zu viele Programmpunkte, für jeden einzelnen viel zu wenig Zeit und am Ende doch dreieinhalb Stunden Laufzeit - da ist selbst ein TV-Profi wie Trevor Noah vom Sachzwang überfordert. Und dann ist da die Sache mit der Ansprache Selinskis: "Richtig doof wird es, wenn der Krieg auf dieser Kette von zweckfrei guter, aber eben gehetzter und damit doch wieder falscher guter Laune zum Kitsch verkommt. Das ist fahrlässig. ... Hätte es die Kunst, die Musik, den Jazz, den Hip-Hop und den Country wirklich abgewertet, wenn man den Krieg nicht zur eigenen Sache erklärt hätte? Würde es nicht eher für die Stärke der ausgezeichneten Künste sprechen, wenn sie Mitgefühl, Menschlichkeit, Schmerz und ja, auch Freude, als Werte inszenieren könnten, die auch jenseits solcher Bilder und Metaphern Bestand haben? Nicht weil man das Leid verdrängen muss, aber die Lust verteidigen will, die Anarchie, den Blödsinn, vor allem aber die Musik?"

Auch Nadine Lange vom Tagesspiegel fand den Abend " fast schon etwas zu brav und vorhersehbar". Im Standard schreibt Christian Schachinger über die Sängerin Olivia Rodrigo, die mit drei Grammys ausgezeichnet wurde, darunter für das beste Popalbum.



Außerdem: Christina Rietz spricht in der Zeit mit Andreas Reize, dem neuen Thomaskantor in Leipzig. Beim Interview mit dem Jazzmusiker Alabaster DePlume lässt sich SZler Andrian Kreye gerne von Schmeicheleien aus dem Konzept bringen. Gerade ist DePlumes neues Album "Gold" erschienen:



Besprochen werden die HBO-Doku "Phoenix Rising" über Evan Rachel Wood, die Marilyn Manson vorwirft, sie sexuell missbraucht zu haben (NZZ), ein Messiaen-Abend mit Bertrand Chamayo im Berliner Pierre Boulez Saal (Tsp), der Auftakt des Kammermusikfestivals "Intonations" im Jüdischen Museum Berlin (Tsp) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter Mark Turners "Return from the Stars" ("Jedes Stück ist eine in sich geschlossene Ideenfindung", schwärmt Andrian Kreye in der SZ). Wir hören rein:

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