Efeu - Die Kulturrundschau

Müssen es halt alle lesen

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07.01.2023. Daniel Barenboim gibt nach dreißig Jahren sein Amt als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper auf und die Zeitungen fragen in erster Linie: Wer soll jetzt kommen? Der Tagesspiegel wirft Klaus Lederer Fahrlässigkeit bei der Zukunftsgestaltung vor. In Le Point relativiert Michel Houellebecq nach der Anzeige seine Aussagen: Ein "freches Manöver", meint die SZ. Die FAZ blickt in Maastricht mit Hrair Sarkissian auf öffentliche Plätze in syrischen Städten, auf denen das Regime Menschen hinrichtete. In der taz spricht der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi über seinen Persian Noir "Holy Spider".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.01.2023 finden Sie hier

Musik

Nach dreißig Jahren gibt Daniel Barenboim aus gesundheitlichen Gründen sein Amt als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper auf, aber die Zeitungen interessiert vor allem, wer die Nachfolge antreten soll. Das wird nicht einfach, glaubt Reinhard J. Brembeck in der SZ: "Schließlich müssen vor allem die Musikerinnen und Musiker mit der Neuen, dem Neuen zurechtkommen, nicht so sehr aber Berlins Kultursenator Klaus Lederer oder die in zweieinhalb Jahren antretende künftige Intendantin des Hauses Elisabeth Sobotka. Was nicht hießt, dass die beiden nicht ein deutliches Wort bei der Nachfolgefindung mitzureden haben werden. Mitreden werden aber auch viele andere wollen, auch Daniel Barenboim, über dessen Empfehlung sich niemand leichtfertig hinwegsetzen wird. Die spannende Frage derzeit ist also, ob Thielemann kommt, der sich bereits empfohlen hat, der aber durchaus Musiker wie Politiker und das Publikum polarisiert."

Thielemann ist auf Jahre verplant, sekundiert Manuel Brug in der Welt, und auch sonst wird's nicht einfacher: "Simon Rattle (67), der hier viel dirigiert hat, wird mit Sicherheit kein Opernhaus übernehmen. Zwischen Barenboim und dem 48-jährigen ehemaligen Assistenten und Kapellmeister Philippe Jordan (der zudem nach seiner unfreiwilligen Nichtverlängerung als Musikdirektor der Wiener Staatsoper geschwächt ist) scheint das Band genauso zerschnitten wie mit dem ehemaligen Hornisten und Kapellmeister Sebastian Weigle (62). Auch die ehemalige Assistentin Simone Young (61) als einzige Frau in dieser Riege kommt so wenig in Frage wie Barenboims Ex-Assistent Dan Ettinger (51)."

Lederers "Bremsmanöver bei der Zukunftsgestaltung der Staatsoper waren fahrlässig", ärgert sich Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Es war der sonst oft so entschlossene Lederer (dem die Hauptstadt eine gute Corona-Kulturpolitik verdankt), der Barenboims Vertrag im Juni 2019 bis 2027 verlängerte, vorzeitig und während des Höhepunkts der hausinternen Krise und öffentlichen Debatte um den Führungsstil des Generalmusikdirektors."Ebenfalls im Tagesspiegel würdigt Frederik Hanssen die Verdienste des Generalmusikdirektors. Die Berliner Zeitung publiziert Barenboims persönliche Erklärung und die Reaktionen darauf. Gestern Abend dirigierte Barenboim die Berliner Philharmoniker - Dlf Kultur bietet das Konzert zum Nachhören an.

Besprochen werden Iggy Pops neues Album "Every Loser" (Standard, TA, mehr dazu hier), Chancha Via Circuitos "La Estrella" (taz), ein Konzert von Jan Böhmermann mit dem Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld in Zürich (NZZ), das Neujahrskonzert an der Berliner Volksbühne mit unter anderem Christiane Rösinger (taz) und das neue Album von Bree Runway (ZeitOnline).

Archiv: Musik

Kunst

Hrair Sarkissian, Unexposed, 2013. Courtesy of the artist.

Der in Syrien geborene Künstler Hrair Sarkissian setzt sich in seinen Fotografien, Videos und Skulpturen mit Krieg und staatlicher Gewalt auseinander, mit dem Ziel, das "Verstehen des Leidens der anderen" möglich zu machen, erzählt Frauke Steffens, die für die FAZ die eindrucksvolle Werkschau "The Other Side of Silence" im Bonnefanten Museum in Maastricht besucht hat: "'Execution Squares' von 2008 zeigt öffentliche Plätze in syrischen Städten, meist in friedlich wirkendem Morgenlicht. Nur wer die Beschreibung zu den großformatigen Fotos liest, erfährt, dass das Regime auf all diesen Plätzen Menschen hinrichtete. In der begehbaren Installation 'Deathscapes' von 2020 sind es dagegen nur Geräusche, die die Geschichte erzählen - in einem dunklen Kubus stehen die Besucher und hören laute Arbeitsgeräusche. Spitzhacken, Schippen, fallendes Geröll, ein paar Vogelstimmen. Es sind Aufnahmen einer Ausgrabung: in Spanien legten Archäologen ein Massengrab aus der Zeit der faschistischen Diktatur Francos frei. Ein 2021 beendetes Werk, 'Last Seen', zeigt leere Zimmer, Sofas, Küchen, still gewordene Orte familiärer Geselligkeit. Menschen, deren Angehörige ermordet wurden, in Kriegen starben oder verschwunden sind, haben dem Künstler gezeigt, wo sie sie zuletzt gesehen haben - in Argentinien, Bosnien, dem Libanon."

Zu seinem 75. Geburtstag im Oktober richtet die Wiener Albertina dem österreichisch-irischen Künstler Gottfried Helnwein eine große Werkschau aus. Im Standard-Gespräch mit Stephan Hilpold behauptet Helnwein, es sei bewiesen, dass CIA, FBI und andere staatliche Stellen "Millionen Menschen, Wissenschafter, Künstler und Journalisten" auf Twitter mundtot gemacht hätten. Außerdem erklärt er, warum er Alice Schwarzers offenen Brief unterstützt hat: "Je länger der Konflikt dauert, desto mehr Opfer wird es geben. Alle beteiligten politischen Kräfte arbeiten derzeit an einer weiteren Eskalation, ich sehe keinen Politiker, der sich ernsthaft um eine Deeskalierung bemüht. War es wirklich fair, dass Schwarzer und hunderte Künstler und Intellektuelle, die sich in ihrem Appell für Friedensverhandlungen eingesetzt haben, mit einem derartigen Shit-storm überzogen wurden?"

Außerdem: In der taz resümiert Sophie Jung einen Vortrag des Historikers Volker Weiß, der in der Berliner Neuen Nationalgalerie darüber sprach, wie sich eine rechte Kunsttheorie auch in der Malerei der Neuen Sachlichkeit niederschlagen konnte. Im Tagesspiegel erinnert Rüdiger Schaper an den amerikanischen Maler Frederic Church, einen Vertreter der Vertreter der Hudson River School, der eine moderne Vorstellung von der Natur schuf und dessen Werke derzeit in der Ausstellung"Chasing Icebergs" in der Olana State Historic Site in Hudson, New York zu sehen sind.

Besprochen wird die Ausstellung "Gestickte Gärten. Osmanische Textilien aus der Sammlung Borgs" im Berliner Pergamonmuseum (Tagesspiegel) und die Tobias-Zielony-Ausstellung im Marta Herford (monopol).
Archiv: Kunst

Literatur

Happy End in der Auseinandersetzung zwischen Michel Houellebecq und Chems-eddine Hafiz? Letzterer hat ja ersteren vor wenigen Tagen wegen Anstachelung zum Hass gegen Muslime angezeigt. In Le Point (leider verpaywallt) hat der französische Schriftsteller seine im Gespräch mit Michel Onfray getroffenen Aussagen nun etwas relativiert. Des weiteren kam es nach einer Initiative von Haïm Korsia, dem Großrabbiner Frankreichs, zu einem klärenden Gespräch zwischen Houellebecq und Hafiz. Dann "erklärt Houellebecq, die kritisierten Passagen des Gesprächs seien 'ambivalent', er wolle sie für eine zukünftige Buchpublikation vervollständigen", schreibt Niklas Bender in der FAZ. "Daraufhin lässt Hafiz die Anzeige ruhen, will sie aber erst nach Veröffentlichung des finalen Textes zurückziehen. Das künftige Buch soll das Gespräch zwischen Houellebecq und Onfray, das für Front Populaire offenbar gekürzt wurde, in voller Länge wiedergeben. Le Figaro vom Freitag zitiert neue Passagen daraus, die auf den ersten Blick in der Tat weniger diskriminierend wirken. Sollte sich der Eindruck bestätigen, fragt sich, wer für die auf stramm rechts frisierte Zeitungsfassung des Gesprächs verantwortlich zeichnet." Doch der Leser frage sich auch, ob Houellebecq "in eine Falle gegangen ist, ob er jetzt, da der Nobelpreis an Annie Ernaux verliehen wurde und ihn so bald kein Franzose mehr bekommen wird, vielleicht einfach Dampf ablassen musste."

Für die SZ hat Nils Minkmar Houellebecqs Stellungnahme gelesen und bescheinigt diesem ein zwar geschicktes, aber "freches Manöver". Houellebecq bezweifelt nämlich, dass ein Autor überhaupt zum Hass anstacheln und daraus Konkretes folgen könnte. Er bezieht sich dabei auf Sartres berühmtes Vorwort zu Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde", der darin nach Houellebecqs Deutung zu Mord an Weißen aufgerufen habe. "Houellebecq möchte darauf hinaus, dass man Sartre Dinge durchgehen ließ, die ihm heute verboten werden sollen. Stimmt nur nicht. Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Buch erklärt der von der Gewalt des algerischen Befreiungskrieges geschockten französischen Öffentlichkeit das Wesen antikolonialer Gewalttaten. ... Indem Houellebecq sich mit einem Sympathisanten des algerischen Befreiungskrieges gleichsetzt, wendet er sich an ein informiertes Publikum im rechten Spektrum, das schon länger solche Parallelen zieht. Im Maghreb wurden die Franzosen nach Hause geschickt, nun ist es auch unser Recht, deren Nachfahren wieder dorthin zu schicken - ein alter Schlager in rechtsextremen Kreisen."

Hafiz' Anzeige sei von vornherein keine gute Idee gewesen, meint Roman Bucheli in der NZZ. "Gegen Houellebecq hilft kein Gericht, selbst wenn Hafiz mit seiner Klage Erfolg haben sollte. Und der Sache der Muslime ist damit noch weniger geholfen, gleichgültig, wie der Prozess ausgeht. Man schafft den Hass nicht aus der Welt, indem man den Menschen verbietet, ihn zu artikulieren, und sei es in äußerst polemischer Schärfe. ... Aber ruft Houellebecq zu Gewalt auf, indem er einen Aufstand bewaffneter Franzosen als Menetekel in die Zukunft projiziert? Er macht nichts anderes, als was alle Propheten des Untergangs tun. Sie entwerfen Schreckensszenarien, um ihr Eintreten zu verhindern." Gerrit Bartels vom Tagesspiegel indessen denkt bei all dem Hin und Her im Nachbarland vor allem an Uwe Tellkamp.

Themenwechsel: Für viele zählt der Twitter-Account @DailyMann, der passend zum Tag aus Thomas Manns Tagebuch zitiert, zum unverzichtbaren Bestandteil des täglichen Medienmenüs. Im Interview mit der Literarischen Welt erzählt der Literaturwissenschaftler Felix Lindner, wie ihm die Idee dazu gekommen ist: Dies geschah, "als ich mich für meine Dissertation wieder mehr mit den Mann-Tagebüchern befasst habe. Ich konnte das alles irgendwann nicht mehr ertragen, dieses endlose peinliche Selbstgespräch. Eines Abends war ich dann angetrunken und sauer, dass ich anscheinend der Einzige bin, der sich das regelmäßig antut. Also dachte ich: Müssen es halt alle lesen."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Gerrit Bartels wirft im Tagesspiegel einen kurzen Blick auf den Trend zur Autofiktion in der Literatur. Im Literarischen Leben der FAZ erinnert Nicole Seifert an das Leben der Schriftstellerin Katherine Mansfield.Für die Literarische Welt spricht Heinz-Norbert Jocks mit dem Schriftsteller Paul Nizon. Dlf Kultur bringt eine "Lange Nacht" von Christopher Bees über Sir Arthur Conan Doyle.

Besprochen werden unter anderem Peter Handkes "Die Zeit und die Räume" (taz), Eva Müllers Comic "Scheiblettenkind" (taz), Péter Nádas' "Schauergeschichten" (Freitag), Ottesa Moshfeghs "Lapvona" (Literarische Welt), Dieter Borchmeyers große Biografie über Thomas Mann (Literarische Welt, SZ) und Anne Eekhouts Roman "Mary" über Mary Shelley (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

In der Welt horcht Manuel Brug bei dem amerikanischen Regisseur Jay Scheib nach, wie er sich die Neuinszenierung des "Parsifal" in Bayreuth vorstellt. Scheib wird mit "Augmented Reality" arbeiten und verspricht "pure Magie". Nur leider hat Katharina Wagner "nicht mehr viel Lust, sich mit dem komplexen Geflecht von drei Hauptgeldgebern und vielen Kunstverhinderern herumzuschlagen. Was jetzt dazu führte, dass trotz vorheriger Genehmigung nur 300 Brillen für den 'Parsifal' angeschafft werden. Gebraucht würden, damit alle im Saal wirklich all das sehen können, was Scheib sich ausdenkt, allerdings 2000."

Außerdem: Im Tagesspiegel freut sich Corina Kolbe über eine endlich wieder gut besuchte Oper in Italien. Besprochen werden Harry Kupfers Elektra-Inszenierung an der Wiener Staatsoper (Standard), Elina Finkes Inszenierung von Heinrich von Kleists "Amphitryon" am Theater Aachen (nachtkritik), Mart van Berckels Inszenierung von Johannes Harneits "Silvesternacht" an der Staatsoper Hamburg (nmz).
Archiv: Bühne

Film

Persian Noir: "Holy Spider" von Ali Abbasi (Alamode)

In seinem neuen Film "Holy Spider" widmet sich der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi dem realen Fall eines religiös-fanatischen Serienmörders, der im iranischen Maschhad vor etwa 20 Jahren 16 Frauen ermordete. "Ich wollte vor allem die iranische Gesellschaft allgemein und einige Menschen im Besonderen zur Verantwortung ziehen", erzählt der Regisseur im taz-Gespräch mit Thomas Abeltshauser. "Was diesen jungen Frauen angetan wurde, machte mich wütend, und ich wollte ihre Geschichte einer breiten Öffentlichkeit erzählen. Diese Wut ist kein nobles Gefühl, aber sehr effektiv." Sehr finster geraten ist sein Werk, "weil es ein Film Noir ist! Es liegt in der Natur des Genres. Das ist weder unfair noch antiiranisch, wie mir vorgeworfen wird. Es ist ein düsterer Thriller mit iranischen Besonderheiten. Persian Noir. Die Cops sind korrupt, viele Szenen spielen nachts in trostlosen Ecken, die Straßen sind nicht hell erleuchtet. Ich sage nicht: So und nicht anders ist es dort. Iran ist ein großes Land mit fast 100 Millionen Einwohnern, vielen Widersprüchen und komplexen Strukturen. Ich maße mir nicht an, dem auch nur annähernd gerecht zu werden."

Weiteres: Bert Rebhandl berichtet im TipBerlin von seinem Gespräch mit dem Regisseur Cyril Schäublin, dessen Debüt "Unruh" gerade im Kino zu sehen ist, und ist sicher: Dieser Regisseur "hat ohne Zweifel das Zeug, einer der ganz großen Filmemacher zu werden". Auf ZeitOnline denkt Kristoffer Cornils in einem Essay über den Vampirmythos in TV-Serien nach.

Besprochen werden Martin McDonaghs "The Banshees of the Inisherin" (NZZ), Felix Van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs Bergwanderfilm "Acht Berge" (Welt) und der Kostümfilm "Der denkwürdige Fall des Mr Poe" mit Christian Bale (Tsp).
Archiv: Film