9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kosten einer Groteske

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2014. In der FAZ lotet Friedrich Wilhelm Graf die Gewalt von Religion aus. Was wird aus Freiheit in Zeiten digitaler Überwachbarkeit, fragt Netzwertig. Die NZZ warnt vor einem "postsowjetischen Verbotsreflex" in der Ukraine. Die SZ malt sich die Folgen einer Unabhängigkeit Schottlands für das dann bleibende Mittelbritannien aus. Wurde der russische Menschenrechtsaktivist Timur Kuaschew ermordet, fragt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.08.2014 finden Sie hier

Religion

Religion, warnt der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf auf einer ganzen Seite in der FAZ, ist "nicht als solche gut", vielmehr habe Gewalt "ihren Ursprung im Zentrum religiösen Glaubens". Das bringe die Fixierung auf einen allmächtigen Gott und eine kosmische Ordnung mit sich: "Denn wenn die gegebene, durch diffuse Vieldeutigkeit, Widersprüche und bleibendes Elend geprägte Welt als eine verderbte Gegenwelt zur wahren, gottgewollten Ordnung erlitten wird, entsteht für die Schöpfungsfrommen der Zwang, die Welt, so wie sie leider ist, auf die ideale und ursprüngliche Ordnung Gottes hin zu überwinden. Gewaltbereitschaft für Gott, genauer: für den je eigenen Gott, ist der Versuch, die erlittene kognitive Dissonanz zwischen den bösen, sündhaften Verhältnissen und der geglaubten Gottesordnung durch kämpferisches Glaubenszeugnis zu überwinden."
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Überwachung

Google hat in den USA einen Pädophilen durch seine Mails identifziert und an die Behörden verraten. Martin Weigert fragt Martin Weigert in Netzwertig nach Weiterungen solcher Eingriffe: Was bedeutet es für die persönliche Freiheit, wenn künftig jede Kleinigkeit (Bei Rot über die Amppel gehen, in geschlossenen Räumen rauchen) per Überwachung sofort aktenkundig wird? "Dann haben wir die Bescherung: Eine extrem zivilisiert wirkende Gesellschaft, in der Menschen 24 Stunden lang darauf bedacht sind, unbedingt keine Regel zu brechen - aus Angst vor Bestrafung, nicht aus moralischer Intention..."

Im Interview mit der taz erklärt Glenn Greenwald noch einmal, warum er nicht vor einem deutschen Untersuchungsausschuss aussagen will: "Ich glaube, der Bundestag will der Öffentlichkeit nach den NSA-Enthüllungen zeigen: Wir tun etwas. Aber er ist nicht daran interessiert, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Sonst nämlich würde er Snowden befragen. An dieser Illusion werde ich nicht mitwirken."

Weiteres: Anlässlich des Erscheinens von Dave Eggers" Überwachungs-Utopie "The Circle" auf dem deutschen Markt stellt die Zeit fünf Fragen zum Buch und zum digitalen Zeitalter.
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Internet

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sitzt im Beirat, den Google gegründet hat, um das "Recht auf Vergessen" konkret auszugestalten. Im Gespräch mit Claudia Tieschky in der SZ begrüßt sie das Urteil des EuGH gegen Google: "Die Meinungsfreiheit wird nicht baden gehen. Man muss immer beachten: Es geht hier nicht um Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, Stars oder Politiker, sondern um die sogenannten normalen Bürgerinnen und Bürger. Und da ist eben das Öffentlichkeitsinteresse nicht so hochrangig anzusehen."

Auch Sascha Lobo schreibt in seiner Spiegel-Online-Kolumne zum Thema und und fordert die Entwicklung einer "Datensouveränität".
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Gesellschaft

Regisseur Fatih Akin setzt sich in seinem neuen Film "The Cut" mit dem Genozid an den Armeniern auseinander und wird dafür von türkischen Nationalisten bedroht, schreibt Boris Kalnoky in der Welt. "Regierungschef Recep Tayyip Erdogan höchstpersönlich gießt dieser Tage Öl aufs Feuer des Hasses gegen die Armenier. Seine niederträchtigen Gegner hätten ihm unterstellt, von Georgiern abzustammen, sagte er im Fernsehen. Und dann, mit einer Regung des Ekels in seinen gut ausgeleuchteten Gesichtszügen: "Sie kamen und sagten noch hässlichere Dinge über mich, sie sagten - bitte verzeihen Sie - , dass ich ein Armenier bin". Er sei aber ein reinrassiger Türke." In der taz berichtet Cigdem Akyol Details zum Thema.

Auch wenn Ulrich M. Schmid in der NZZ sogar nachvollziehen kann, weshalb in der Ukraine zwei russische Filmproduktion wegen "Herabwürdigung der ukrainischen Kultur" verboten wurden, warnt er doch davor, dem russischen Vorbild zu folgen: "Das größte Problem am ukrainischen Vorgehen gegen die russischen Kulturimporte liegt in einem postsowjetischen Verbotsreflex, der eines reifen demokratischen Staates unwürdig ist."

In der Welt ärgert sich Henryk M. Broder über das defensive Verhalten des Zentralrats der Juden angesichts antisemitischer Ausschreitungen in Deutschland: "Schlimmer als das aktuelle Update des Antisemitismus ist der Rückfall der Juden in ein "Dhimmi"-Dasein. Als ob die Rolle des "jüdischen Mitbürgers" nicht schon peinlich genug wäre, scheinen manche Juden ihr Heil in der Voremanzipation zu suchen, als sie in der muslimischen Welt "Dhimmis" und in der christlichen "Schutzjuden" waren, Bürger zweiter Klasse, die unter dem persönlichen Schutz des jeweiligen Herrschers standen. Das ist das Ende aller Illusionen über das neue plurale Judentum in Deutschland, das "wieder frisch zu blühen beginnt"."
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Europa

Der österreichische Rechtsstaat "ist inzwischen zu einem Spucknapf verkommen", schnaubt in der taz Ilija Trojanow. Als Beispiel erzählt er von einem Prozess gegen den Philosophen und Tierschutzaktivisten Martin Balluch, der wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt worden war, aber schließlich freigesprochen werden musste. Schadenersatz - etwa für die 1 Million Euro Prozesskosten - wurde jedoch abgelehnt, mit der Begründung, "die Klage sei verjährt (anschnallen bitte, es folgt Monty Python auf Speed), weil Martin Balluch ja gewusst habe, dass er unschuldig sei und daher schon zum Zeitpunkt seiner Verhaftung diese Klage auf Schadenersatz für eventuelles Fehlverhalten von Polizei und Justiz hätte einreichen müssen."


Martin de Lusenets Foto vom Applecross in Schotland ist unter CC-Lizenz bei Flickr veröffentlicht.

Christian Zaschke malt sich im Leitartikel der SZ die Folgen einer schottischen Unabhängigkeit aus: "Für den Rest des Landes wäre Schottlands Austritt eine Katastrophe. Das geschrumpfte, sogenannte Rest-UK sähe sich eines Teils seiner Identität beraubt. Zudem stünde zu erwarten, dass auch andernorts der Wunsch nach mehr Autonomie wächst, in Cornwall etwa oder in Wales. In Nordirland verlören die protestantischen Unionisten ihren wichtigsten Anknüpfungspunkt ans Königreich, da sie mehrheitlich schottischer Abstammung sind."
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Politik

Im Interview mit Philipp Lichterbeck auf Zeit Online beklagt der israelische Schriftsteller Etgar Keret die aufgeheizte Stimmung im Land. Jede Kritik am Krieg werde brachial niedergewalzt: "Nun schreit die Rechte alle nieder. Sie repräsentiert nicht die Mehrheit, aber sie ist laut. Das hat die Stimmung im Land verändert. Früher sagten wir über unsere Soldaten: Sie schießen und sie weinen. Es bedeutete, dass sie Israel verteidigen müssen und dennoch zu Empathie fähig sind. Wir haben aufgehört, zu weinen. Wir schießen nur noch." Auch der israelische Schriftsteller Assaf Gavron berichtet in der Zeit von Drohungen und Verleumdungen einer immer "militanter und intoleranter" werdenden israelischen Gesellschaft gegen Israels Linke.

Julia Ioffe malt sich in der New Republic schon aus, was geschieht, wenn die Sanktionen gegen Russland wirken und Wladimir Putin am Ende gar kippt: "Angesichts der Schwäche der liberalen Oppositon und der Stärke von Putins Sicherheitsapparat steht zu fürchten, dass wir uns nach seiner berechenbaren Unberechenbarkeit sehnen werden."

Außerdem: Volker Weiß fragt in der Zeit nach den Wurzeln des aktuellen Antisemitismus" und ortet sie im Islamismus, den er als einen neuen Rechtsextremismus definiert. Ebenfalls in der Zeit zählt der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel Gründe auf, warum Premierminister Erdogan nicht Staatspräsident werden darf.
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Kulturpolitik

Sehr kritisch nimmt Thomas Steinfeld in der SZ die Position offizieller Kulturfunktionäre zum Freihandelsabkommen auseinander, die für "Kultur" eine automatische Ausnahme (ganz im Sinne eigener Interessen) fordern. Aber, so Steinfeld: Schutz und Förderung von Kultur setzen "ihre Kritik voraus. Wer jedoch von vornherein auf "Autonomie" pocht, wer von "Nützlichkeitserwägungen" nichts wissen will, wer am liebsten alles, was unter "Kultur" verbucht werden kann, unterschiedslos unter Bestandsschutz stellte, nimmt - unter dem Vorwand, sie zu retten - der "Kultur" ihr Lebendigstes."
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Medien

In Russland wurde der junge tscherkessische Journalist, Blogger und Menschenrechtsaktivist Timur Kuaschew tot in einem Wald aufgefunden - mit einem Nadeleinstich im Arm, meldet Ljuba Naminova in der taz. "Laut Human Rights Watch soll Kuaschew über soziale Netzwerke häufig Morddrohungen erhalten haben, in denen er aufgefordert worden sei, seine Aktivitäten einzustellen, wenn er nicht jung sterben wolle. Kuaschew hatte sich an die Behörden gewandt, Ermittlungen deswegen gab es jedoch nicht."

Außerdem: In der Berliner Zeitung macht Birgit Walter die Eigentümer der Eulenspiegel-Verlagsgruppe Matthias Oehme und Jaqueline Kühne verantwortlich für die Insolvenz des Verlages und die miese Behandlung der Autoren.
Archiv: Medien