9punkt - Die Debattenrundschau

Die Wurst aber hatte bislang Erfolg

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2014. Wladimir Putin verteidigt seit neuestem den Hitler-Stalin-Pakt und bricht damit ein altes Tabu. Warum erscheint ihm die Annäherung an Nazi-Deutschland heute so opportun, fragt Timothy Snyder im NYRBlog. Die taz debattiert über Sterbehilfe. Zygmunt Bauman vermisst im Eutopiamagazine das Alternativen-Angebot der Vorwendezeit. Enrique Krauze fragt in El Pais, ob Mexikos Demokratie die Zeit der Morde überstehen wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2014 finden Sie hier

Geschichte

Wladimir Putin verteidigt seit neuestem laut offiziellen Gesprächstranskripten des Kreml den Hitler-Stalin-Pakt. Stalin habe nicht kämpfen wollen, so Putin, was sei daran so schlecht? Aber Stalin wollte kämpfen, sagt Timothy Snyder im NYRBlog, denn der Pakt sah unter anderem die gemeinsame Aufteilung Polens zwischen Hitler und Stalin vor: "Mit der Verteidigung des Molotow-Ribentrop-Pakts, so der offizielle Name, als gute Außenpolitik bricht Putin ein lange Zeit geltendes Tabu der Sowjetzeit und revidiert seine frühere Position, dass der Pakt "amoralisch" gewesen sei. Was hat er im Sinn? Worin liegt der Reiz dieser Annäherung an Nazi-Deutschland für ihn in der Aktualität?"

Albert Herszkowicz freut sich in huffpo.fr, dass auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris eine Gedenkstele für den Genozid an den Tutsis eingeweiht wurde und spricht eine Wahrheit über alle Genozide aus: "Völkermörder zu allen Zeiten und an allen Orten wollten nicht nur die Lebenden umbringen, sondern zugleich auch leugnen, dass sie je existierten. Aus diesem Grund sind die Negationismen untrennbar mit den Genoziden verbunden. Die Leugnung ist keineswegs nur der Versuch, den Konsequenzen der eigenen Taten zu entkommen."
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Europa

Litauen hat ein Dilemma, berichtet Viktoria Morasch in der taz: Die beliebteste Wurst des Landes heißt "die Sowjetische" und wirbt mit sozialistischer Propagandaästhetik. Die seit 2003 erhältliche "Euro-Wurst" gilt hingegen als minderwertig. Doch in der gegenwärtigen Lage wirkt der Konsum der "Sowjetischen" wie ein untragbares politisches Statement. "Die Sowjetunion ist das Schlechte und Totalitäre. Sie ist der Inbegriff des Scheiterns. Die Wurst aber hatte bislang Erfolg, weil die Sowjetunion auch Vergangenheit ist, das Altbekannte, die Kindheit. Sie wird mit Natürlichkeit verbunden. Die Lebensmittel in der Sowjetunion waren knapp, aber gut - zumindest in der Erinnerung vieler Litauer."
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Stichwörter: Litauen, Sowjetunion

Gesellschaft

In der taz diskutiert Simone Schmollack mit Gerhard Steier von der "Lebensrechtsinitiative Kaleb" und Gita Neumann vom Humanistischen Verband über Sterbehilfe. In der Frage, ob der assistierte Suizid für Ärzte zumutbar ist und ob die die Politik mit einem Sterbehilfegesetz die demografische Lage beinflussen möchte, kommen die Diskutanten naturgemäß auf keinen gemeinsamen Nenner:
Steier: "Ich will nicht unterstellen, die Abgeordneten wollten die Pflegekassen entlasten. Aber dass die Debatte um das sogenannte selbstbestimmte Ableben jetzt geführt wird, sagt eben auch aus: Jeder, der geht, ist ein Problem weniger."
Neumann: "Sterbehilfe wird den Menschen doch nicht von irgendwelchen Mächten suggeriert, um ihre Selbstentsorgung zu befördern. Sie sind vielmehr realistisch genug, um zu wissen, was auf sie zukommen kann."
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Ideen

Hört man einigen osteuropäischen Intellektuellen zu, wie dem polnischen Guru (und Ex-Offizier des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit) Zygmunt Bauman, so mag man nach dem Mauerfall nur noch in Depression verfallen. Seit 1989 sei uns die Alternative verloren gegangen, klagt er im Eutopiamagazine, ohne recht deutlich zu machen, worin die Alternative vor 1989 bestand: "Der Scheintriumph des demokratischen Modus der Koexistenz brachte in der Praxis ein ständiges Schrumpfen und Verblassen des öffentlichen Vertrauens in seine potenziellen Errungenschaften. Diese nachteiligen und deprimierenden Effekte betrafen in ungleichem Maß alle Mitgliederstaaten der europäischen Union. Am schärfsten spürbar aber sind sie an jenen Orten, wo der Anblick der fallenden Mauer die größten Hoffnungen erregte."

Wieteres: In der FAZ verweist Jürg Altwegg auf ein Habermas-Interview in Le Monde, das aber nicht online gestellt wurde.
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Internet

Im Juli dieses Jahres verlor die 73-jährige Schauspielerin Jacqueline Laurent-Auger ihren Job als Lehrerin einer Drama-Klasse in Kanada. Der Grund: Sie hatte in den 60er und 70er Jahren in einigen französischen Erotikfilmen mitgespielt, um über die Runden zu kommen. Diese Filme waren plötzlich über Google im Netz zu finden, was Laurent-Auger in den Augen des Schuldirektors ungeeignet zum Unterrichten machte. Ist diese Geschichte ein Beweis dafür, dass wir ein "Recht, vergessen zu werden" gegenüber Suchmaschinen brauchen? Oder ist das Problem doch eher unsere eigene Bigotterie? Für Dawinder Sidhu (The New Republic) ist die Sache klar: "Das wahre Problem liegt doch darin, dass wir ein "Recht, vergessen zu werden" überhaupt brauchen. Indem wir heute Menschen wegen vergangener Fehltritte oder Indiskretionen verurteilen, enthüllen wir als Land und als Kultur unsere eigenen Laster. Wir können noch so sehr um die Wirksamkeit und Umsicht bei der Entfernung bereits veröffentlichter elektronischer Informationen ringen. Die wahre Gefahr liegt nicht darin, dass die Informationen irgendwo da draußen sind. Wie der Richter Alex Kozinski einmal in einem Essay über Technologie und Privatheit schrieb: "Die Gefahr kommt aus ganz anderen Quellen ... In den unsterblichen Worten der Comicfigur Pogo: Wir haben den Feind gesehen und er ist wir.""

In einem Youtube-Video und auf der Regierungsseite whitehouse.gov bekennt sich Barack Obama zum Prinzip der Netzneutralität. Markus Beckedahl feiert den Schritt auf netzpolitik.org als "möglichen Gamechanger". Obama ziele darauf ab, die Internetprovider vom Status der "Informationsdienstleister" zu "Telekommunikationsdienstleistern" umzuklassifizieren: "Bei der Reklassifizierung geht es darum, die Provider als Erbringer von gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Leistungen einzuordnen. Damit unterliegen sie einer viel schärferen Aufsicht und brauchen eine Genehmigung für ihre Tätigkeit. Diese Genehmigung kann an Netzneutralitätsregeln gebunden werden."

Weiteres: Im Blog Mobylives berichtet Sal Robinson, dass der Staat Kalifornien als erster amerikanischer Bundesstaat ein Gesetz für Open Access erlassen wird.
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Politik

Der große mexikanische Intellektuelle Enrique Krauze kommentiert in El Pais das Massaker an 43 Studenten, das "in der gesamten Gesellschaft Mexikos eine Empörung ausgelöst hat, wie sie seit 1968 nicht mehr zu erleben war. Angesichts der Geschichte des Bundesstaates Guerrero (in dem das Massaker verübt wurde), musste diese Tragödie irgendwann geschehen, seltsam nur, dass dies nicht schon längst passiert ist und dass die Institutionen nichts getan haben, es zu verhindern. In Mexiko geht es nicht überall zu wie im Bundesstaat Guerrero - woher 98 Prozent der mexikanischen Mohnproduktion stammen und wo 70 Prozent der Bevölkerung arm sind und die Mordrate viermal so hoch wie im Rest des Landes -, und doch sieht es im Augenblick so aus. Die mexikanische Regierung muss alles in ihrer Macht Stehende tun, um den - trotz allem unberechtigten - Vorwurf zu widerlegen, Mexiko sei ein Drogenstaat. Von der Überwindung der alarmierenden Schwäche des Rechtsstaates hängt es ab, ob in Zukunft noch Demokratie in Mexiko möglich sein wird."

Der israelische Autor Meir Shalev sieht im Gespräch mit Karin Pollack im Standard nur eine Lösung für den Nahostkonflikt: "Ich bin ein praktischer Mensch. Die Zwei-Staaten-Lösung ist die einzige Möglichkeit. So denke ich seit 1967, als ich als Soldat aus dem Krieg zurückgekommen bin. Aber die Israelis sind bis heute stolz auf diesen Sieg. Als man begann, die Siedlungen in den eroberten Gebieten zu bauen, haben Leute wie ich verstanden, dass man sich damit Probleme für die nächsten Generationen einhandelt."

Im LCB Berlin appellierten syrische Autoren an das Gewissen der Europäer. Die lassen sich aber nicht aufschrecken, schreibt Volker Briedecker in der SZ und erinnert an die Abschaffung des Rettungsprogramms "Mare Nostrum", die nicht den geringsten protest ausgelöst hat. An ihre Stelle trat die schiere Grenzsicherung: "Die Operation Triton bedeutet Europas historische Absage an das Mittelmeer und den Mittelmeerraum als dem jahrtausendealten Ort des Austauschs und der Durchmischung von Menschen, Dingen, und Ideen, von Sprachen, Kulturen und Religionen. Es ist das Todesurteil für Abertausende von Flüchtlingen."

Die Archäologin Margarete van Ess beklagt in der FAZ die Vernichtung von Kulturdenkmälern und gleichzeitige Vertreibung oder Ermordung von Religionsgemeinschaften durch islamistische Gruppen im Irak und in Syrien. Nur ein Beispiel: "In Syrien wurde bereits 2013, wahrscheinlich durch die Al-Nusra-Terrorgruppe, das Dorf Maalula unweit von Damaskus verwüstet, das wegen seiner bis heute Aramäisch sprechenden Bewohner berühmt war. Maalulas Kirchen und Friedhöfe wurden gezielt vernichtet, die Kirchenausstattung wurde entweder gestohlen und auf den Kunstmarkt gebracht oder verbrannt und zertrümmert. Ein Teil der Ikonen tauchte in diesem Sommer im libanesischen Kunsthandel auf."
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Überwachung

Der BND möchte laut heise.de Zugang zum Grauen Markt der Softwareschwachstellen haben, um Lücken in Software zur Überwachung ausnutzen zu können. Für Lawblogger Thomas Stadler stellt er sich damit gegen die vom Bundesverfassungsgericht verlangte "Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Stadlers Folgerung: "Das Grundgesetz schützt also die Integrität informationstechnischer Systeme, der BND gefährdet sie." In einer Stellungname verurteilt auch der Chaos Computer Club die Pläne: "Mit der unverhohlenen geheimdienstlichen Forderung, hinterrücks in Computer eindringen zu wollen, sollen praktisch kritische Sicherheitslücken mißbraucht werden, die auch anderen Kriminellen einen Angriffspunkt bieten." Mehr zum staatlichen Interesse an Sicherheitslücken bei Zeit online.
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Medien

Die allgemeine "Medienverdrossenheit", die der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen kürzlich in der Zeit diagnostiziert hat (siehe unser 9Punkt vom 23. Oktober), nimmt auch für Hans Leyendecker in der SZ bedrohliche Züge an. Der Vertrauensverlust in die klassischen Medien geht für ihn mit der Konjunktur von Verschwörungstheorien einher: "Mit ein paar Klicks im Internet kann sich heute jeder seine eigene Plattform, seine eigenen Kanäle suchen. Das ist gut, das kann eine ganz neue Sicht auf die Dinge bringen. Aber es gibt Klicker, die glauben, sie verstünden von dem Geschehen da draußen dank der Klicks weit mehr als etwa der Auslandskorrespondent, der sich vor Ort tummelt und sich müht, Zusammenhänge zu begreifen und zu erläutern."
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