9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kultur ist stärker

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2016. In der Welt attackiert Alice Schwarzer das Zeit-Dossier zur Kölner Silvesternacht, das den religiösen Hintergrund ausspare. Die Zeit recherchiert zum Thema Abtreibung in Polen. In der Washington Post fragt Jay Rosen, wie Medien auf populistische Kandidaten reagieren sollen, an denen das übliche Fact checking einfach abgleitet. In der taz benennt Afrikaforscher Jürgen Zimmerer, was die Völkermorde an den Herero, an den Armeniern und an den Juden verbindet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.07.2016 finden Sie hier

Europa

Hunderttausend polnische Frauen kommen nach Schätzungen der Frauenorganisation Federa jährlich nach Deutschland um abzutreiben, weil dies in Polen nahezu unmöglich ist, berichtet Katharina Kühn in der Zeit. Lediglich im Fall einer Vergewaltigung, wenn die Mutter in Lebensgefahr schwebt oder der Fötus nicht lebensfähig ist, sei ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt, sonst gelte er als Mord und selbst in diesen Fällen wird ihr der Abbruch oft unmöglich gemacht: "Immer mehr Ärzte und Medizinstudenten unterschreiben eine Gewissensklausel und verpflichten sich damit, keine Abtreibungen und künstlichen Befruchtungen durchzuführen und keine Verhütungsmittel zu verschreiben. Mitunter verweigern Gynäkologen sogar das bloße Informationsgespräch, weil sie fürchten, als Abtreibungshelfer angeklagt zu werden."

Der neue britische Außenminister Boris Johnson ist nicht nur Gewinner eines Wettbewerbs für ein Erdogan beleidigendes Gedicht (mehr hier), seine Ernennung stößt auch im amerikanischen Außenministerium auf eine eher weniger amüsierte Reaktion, schreibt Robert Moore bei ITV: "Das Team des amerikanischen Präsidenten war zutiefst beleidigt über einen Artikel Johnsons, der Barack Obama als 'halb kenianischen Präsidenten' und seine Politik als 'inkohärent, inkonsistent und völlig heuchlerisch' beschrieb."

Im Interview mit dem Art Magazin kann es der Künstler Ryan Gander immer noch nicht fassen, dass die Briten für den Brexit gestimmt haben: "England war geografisch und schichtenspezifisch immer unterteilt, der Norden vom Süden, die Arbeiterklasse von der Mittelschicht. Ich habe das Gefühl, dass Britannien sich radikal geändert hat, dass es bei der Messlatte heute nicht mehr um links oder rechts geht. Nach einem neuen Maßstab unterscheidet man heute zwischen Gebildeten und Ungebildeten. Ich glaube wirklich, dass der Ausgang des Referendums eine Konsequenz des schlechten Bildungsstandards ist. Das Basiswissen für die Prinzipien der Politik, Wirtschaft, Migration ist schlichtweg nicht vorhanden."

In der NZZ erklärt der Ethnologe David Signer in einem sehr informativen Kommentar, was junge, gebildete Afrikaner dazu antreibt, den gefährlichen Weg in eine ungewisse Zukunft in Europa anzutreten. "In den ehemaligen Kolonien des subsaharischen Afrika kann man die Fixierung auf den 'Weißen' bis heute beobachten. Einerseits hat er die Gestalt des neokolonialen Ausbeuters und Unterdrückers, der an allen Übeln des Kontinents schuld ist. Andererseits ist er - in Form des 'Gebers', des Entwicklungshelfers oder des militärischen Retters - eine Heilsgestalt, an die man die Lösung der Probleme delegiert. Manchmal verbinden sich die negative und die positive Seite. 'Der Weiße hat uns diese Suppe eingebrockt', heißt es dann sinngemäß, 'also soll er sie auch auslöffeln.'"
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Internet

Am 27. Juni entdeckte der amerikanische Autor und Künstler Dennis Cooper, dass Google sein Blog sowie sein Gmail-Konto ohne ersichtlichen Grund gelöscht hatte. Damit waren 14 Jahre künstlerischer Arbeit verloren, einfach weg, berichtet Artforum. "Cooper versuchte, den Technologie-Giganten über Telefon und zahlreiche E-Mails zu erreichen, doch erhielt lediglich eine allgemeine Aussage über einen 'Verstoß nach den Bestimmungen des Dienstleistungsvertrags'; eine präzise Erklärung gab man ihm nicht. 'Es scheint da irgendwo eine Mauer des Schweigens errichtet zu werden, aber ich weiß nicht wo oder warum', schrieb er in einem Facebook-Post." Der Autor hatte zuvor mit umstrittenen künstlerischen Inhalten polarisiert. Nun sieht er keine andere Möglichkeit mehr, als Google zu verklagen.
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Stichwörter: Cooper, Dennis, Google

Religion

Ende Mai hatte eine Lehrerin der privaten Berliner Platanus-Schule ein pädagogisches Gespräch mit der Familie eines Imams abgebrochen, weil der ihr aus religiösen Gründen nicht die Hand geben wollte. Der Imam klagte gegen die Lehrerin wegen Verletzung der Religionswürde, und nun hat sich die Schule entschuldigt, berichtet der Tagesspiegel mit epd und RBB: "Mit der schriftlichen Entschuldigung gibt sich die Familie dem Sender zufolge noch nicht zufrieden. In einem Antwortschreiben wird ein 'offenes und ehrliches Gespräch unter allen Beteiligten' eingefordert. Dies diene dem Kindeswohl, da der Sohn des Imams habe mitansehen müssen, wie sein Vater 'in empfindlichem Maße herabgewürdigt wurde', berichtet der RBB weiter. Ohne dieses Gespräch habe man ernsthafte Zweifel, dass die Schule 'hinreichend Sorge dafür trägt', zukünftige Konflikte zu vermeiden." Na, dann wollen wir hoffen, dass zumindest die Töchter ihre Lektion gelernt haben.
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Stichwörter: Imam, Integration, Islam, RBB

Medien

Journalismusprofessor Jay Rosen stellt in der Washington Post eine Frage an die amerikanischen Journalisten zu Donald Trump, die alle mit Populisten befassten Medien betrifft: Was ist, wenn Populisten immun sind gegen Fact checking und wenn die übliche Suche nach Stichhaltigkeit politischer Positionen nur die Ressentiments gegen die Medien nährt? Nicht über den Kandidaten zu berichten, geht ja auch nicht: "Wahlberichterstattung beinhaltet Prämissen darüber, wie Kandidaten sich verhalten. Ich möchte Sie fragen: Funktionieren die noch? Trump verhält sich nicht wie ein normaler Kandidat, er agiert wie entfesselt. Als Antwort sollten Journalisten selbst weniger vorhersehbar werden. Sie müssen neue Antworten entwickeln. Sie müssen Dinge tun, die sie nie getan haben. Sie müssen uns sogar schockieren."
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Ideen

Houssam Hamade spricht mit dem Historiker Michael Wildt über den Begriff der "Volksgemeinschaft", der durchaus komplex ist, so Wildt, aber nicht bei der AfD: "Nicht die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger, gleich welchen Geschlechts, welcher Religion oder Hautfarbe, steht im Mittelpunkt, sondern die Ausgrenzung - wer zu Deutschland dazugehören darf und wer nicht. Und wer bestimmt denn über diese Kriterien? Wollen wir eine Bundesamt für deutsche Leitkultur, das vorschreiben würde, was deutsch ist und was nicht? "
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Geschichte

Die Bundesregierung erkennt endlich den Völkermord an den Herero und Nama an. Sie hat den Begriff gebraucht und führt in Namibia Gespräche, wenn auch nicht mit den Volksgruppen selbst, schreibt Ilona Eveleens in der taz. Der Afrikaforscher Jürgen Zimmerer hat zu den Völkermorden an den Herero, an den Armeniern und zum Holocaust geforscht. Eine Verbindung zwischen den drei gebe es, aber keine kausale, sagt er im Gespräch mit tazler Felix Hackenbruch: "Der Holocaust war keine unausweichliche Folge des Völkermords an den Herero. An allen drei Verbrechen war aber das deutsche Militär beteiligt: als ausführender Akteur in Afrika, als Verbündeter des Osmanischen Reichs und als Wegbereiter im Vernichtungskrieg im Osten im Zweiten Weltkrieg. Die Logik der Beherrschung war immer gleich, nämlich Kon­trolle von 'Raum' durch 'Rasse' und durch die Ersetzung einer Bevölkerung durch eine andere."

Gerade mal acht bis zehn Personen kamen regelmäßig zu seinem Gottesdienst, erzählt Richard Schröder, ehemals Pfarrer in der DDR, im Gespräch mit Raoul Löbbert und Merle Schmalenbach in der Zeit. Er erinnert sich an den Druck durch die Partei, friedliche Proteste und geistige Verführung. Auf die Frage, ob eine ostdeutsch-christliche Sozialisation zum Erfolg prädestiniere, antwortet er: "Das Anderssein prädestiniert im Rahmen der Freiheit für Erfolg. Wer anders ist und gelernt hat, sich auch gegen Druck durchzusetzen, macht oft Karriere."

Besprochen werden eine Ausstellung kleiner tragbarer Uhren aus dem Genf der frühen Neuzeit im Historischen Museum Basel (NZZ) und die Ausstellung "Die Vermessung des Unmenschen. Zur Ästhetik des Rassismus" mit Exponaten aus der Sammlung des Ethnologen Bernhard Struck (1899 - 1971) in der Kunsthalle im Lipsiusbau in Dresden ("Er war, und diese Kontinuität beunruhigt uns heute vielleicht am meisten, nicht einfach ein Nazi, er betrieb seinen wissenschaftlichen Rassismus von der Weimarer Republik durch das Dritte Reich hindurch bis in die DDR, wo er bis 1969 an der Uni Jena lehrte", schreibt Marc Reichwein in der Welt).
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Gesellschaft

Alice Schwarzer vergleicht in der Welt die Täter der Kölner Silvesternacht mit Rechtsextremen der Pegida-Szene, aber "ihre Untermenschen sind die Frauen". Dem großen Zeit-Dossier, das der Kölner Silvesternacht nachging (unser Resümee), wirft sie vor, den kulturell-religiösen Hintergrund der Geschehnisse zu verdrängen: Der Islamismus liefere "das ideologische Gerüst: den verschärften Männlichkeitswahn, Frauenverachtung inklusive. Dieser Islamismus ist der Funke, der jetzt die Flammen des schon lange glimmenden Feuers hochschlagen lässt. Aber das will nicht nur bei der Zeit niemand wissen. Begriffe wie Muslime, Islam und Islamismus kommen nicht vor in dem 19-seitigen Zeit-Artikel. Oder doch, einmal. Da, wo der bei mir recherchierende Kollege mir 'Islamkritik' unterstellt."

In der Zeit unterhält sich Heinrich Wefing mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio über die scheiternde Strafverfolgung der Täter aus der Silvesternacht. Neue Gesetze findet di Fabio allerdings überflüssig: "Entscheidend ist der behördliche Vollzug, das tägliche Ringen um die öffentliche Ordnung. Da helfen repressiver gestaltete Gesetze kaum. Das ist eigentlich ein typisches Merkmal des Unvermögens autoritärer Systeme: große Härte im Einzelfall, aber keine gleichmäßige berechenbare Rechtsdurchsetzung in der Fläche."

Ebenfalls in der Zeit zieht Maxim Biller auf zwei Seiten über die deutsche Linke her: Alles verwöhnte Fratze, die, anders als der mit zehn Jahren aus der Tschechoslowakei geflohene kleine Biller, keine Ahnung von echten Repressionen haben und darum lieber in Revolutionsromantik schwelgen statt die Dinge pragmatisch anzugehen: "Ein Beispiel: Sollen wirklich so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, bis hier das ökonomische und moralische System zusammenbricht, bis sich die passiv-aggressiven AfD-Provinzler an die Macht wählen lassen können und dadurch genau die freie Welt, von der sich die neuen Boat people und Geschundenen von Idomeni die Rettung vor den Tyrannen des Nahen Ostens erhoffen, kaputtgeht? Darüber muss man nachdenken und diskutieren - und dann ein bisschen etwas falsch und ein bisschen etwas richtig machen, damit das Goldene Zeitalter weitergeht."
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Politik

In der NZZ unterhält sich Claudia Mende mit der jordanischen Journalistin Rana Husseini über deren Mission, die Gewalt gegen Frauen in Jordanien zu bekämpfen. Ehrenmorde und häusliche Gewalt werden inzwischen strenger verfolgt und geahndet, seien jedoch leider immer noch keine Seltenheit. "Ich habe mit zahlreichen Tätern gesprochen. Viele äußerten zwar Bedauern über die Tat. Aber sie sagten, wenn sie nochmals in die gleiche Situation kämen, würden sie es wieder tun. Kultur und Gesellschaft sind stärker als der Einzelne. Ich fragte einen Täter, ob er religiös sei. Als er bejahte, entgegnete ich ihm: 'Deine Religion sagt, du sollst nicht töten.' Seine Antwort lautete: 'Ich weiß, aber die Kultur ist stärker.'"
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