9punkt - Die Debattenrundschau

Der byzantinische Mythos

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2016. Assad kann nun mit der gemäßigten Opposition endgültig aufräumen, schreibt die Presse - niemand außerhalb Syriens interessiert sich für Aleppo. Nach Auschwitz sollte der Papst Ruanda besuchen, meint die taz - dort hat die katholische Kirche einiges zu klären. Im Standard denkt Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk über die Rede von der Dekadenz des Westens nach. Die größten Opfer des Brexit werden diejenigen sein, die für ihn stimmten, meint politico.eu.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2016 finden Sie hier

Politik

Das syrische Regime und seine russischen und iranischen Verbündeten können sich darauf verlassen, dass sich die Weltöffentlichkeit für die systematisch Abschnürung Aleppos (inklusive Bomben auf Krankenhäuser) nicht interessiert, schreibt Martin Gehlen in der Presse - denn sowohl Amerika, als auch Europa sind zu sehr mit ihren internen Themen beschäftigt: "Dem Assad-Regime und seinen Verbündeten bieten die Wirren nahezu freie Hand, das syrische Machtgefüge bis Ende des Jahres in ihrem Sinn zu ordnen. Durch die Rückeroberung Aleppos könnte das Regime seinen bisherigen Zweifrontenkrieg gegen moderate Rebellen und Jihadisten beenden und durch eine einzige Front gegen die Terrorbrigaden der al-Nusra-Front und des Islamischen Staats ersetzen. Die moderate Opposition, deren Aufstand 2011 einen friedlichen Machtwechsel erzwingen wollte, wäre zerschmettert, die Genfer Gespräche am Ende."

Der Papst hat Auschwitz besucht. Seine nächste Reise sollte nach Ruanda gehen, findet Dominic Johnson in der taz: "In den ruandischen Genozid, anders als in den Holocaust, ist die katholische Kirche direkt verwickelt. Zu Zehntausenden suchten Tutsi in Kirchengebäuden Schutz vor den Mordmilizen - dann wurden sie dort massenhaft umgebracht. Ruandas Kirchen erwiesen sich als Todesfallen, so manche Geistliche wurden willige Helfer. Beim bisher einzige Prozess in Deutschland gegen einen ruandischen Völkermordtäter war der Tatort eine katholische Kirche."

Die Auseinandersetzung mit der Familie eines muslimischen Soldaten, der im Irak-Krieg gefallen ist, könnte zu einem entscheidenden Moment gegen Donald Trump in diesem Wahlkampf werden, hofft die New York Times - zumal jetzt, da sich in der Washington Post auch die Mutter des Soldaten äußerte und ihre Trauer und den Patriotismus ihres Sohne bezeugte. Trump hatte sich über den Auftritt der Eltern des Soldaten beim Demokratischen Parteitag mokiert: "Wieder einmal", so die Times, "brach Trump mit vielen Regeln der amerikanischen Politik, indem er ethnische Stereotypen ausgerechnet bei der Familie eines amerikanischen Soldaten gebrauchte und den Druck auf die anderen Republikaner erhöhte, seine Bemerkungen zu unterstützen oder aber sich von ihm loszusagen."
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Ideen

Ist die westliche Kultur am Ende? Versinkt sie gerade in Dekadenz? Im Standard denkt der Wiener Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk über Niedergangs-Narrative nach, die derzeit wieder Konjunktur haben: "Die programmatischen eigenen Feinde, aber auch die fremden, die wie der Islamismus ihre Kultur als rettende Alternative zu westlich-amerikanischer Dekadenz sehen, funktionieren wie Projektionsschirme, die uns Angst machen vor uns selbst und eine Zukunft in der Vergangenheit beschwören. Studiert man die Reden eines Putin, dessen Regime mit dem byzantinischen Mythos spielt, oder Orbán, der auf dem Budapester Heldenplatz angesichts des 'islamischen Einfalls' die tausendjährige Geschichte des ungarischen Christentums beschwört, dann sieht man, wie sich heute mit dem Dekadenz-Narrativ bare Münze schlagen lässt."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Ronald D. Gerste an Amerikas ersten Sniper Charles Whitman, der 1966 vom Turm der University of Texas 16 Menschen tötete.
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Stichwörter: 1966, Texas

Medien

Künftig will auch der Tages-Anzeiger auf Namen und Bilder von Terroristen verzichten. In einem Editorial heißt es: "Wir müssen aufpassen, den Attentätern und deren Propaganda keine Bühne zu geben und damit womöglich Nachahmer zu animieren. Untersuchungen zeigen, dass Nachahmungseffekte bei Massentötungen wie Selbstmordanschlägen, Amokläufen und Terroranschlägen tatsächlich existieren. Psychologen bestätigen die Befunde."
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Internet

Für kurze Zeit standen in der letzten Woche ausschließlich Giganten der Digitalisierung auf der Liste der fünf wertvollsten Konzerne der Welt, hat Nils Jacobsen in Meedia beobachtet: "Dass Apple, Alphabet und Microsoft nach der Marktkapitalisierung die Spitzenplätze der Börsenwelt besetzt haben, ist seit Monaten keine Neuigkeit mehr. Nun aber haben die Internet-Überflieger Amazon und Facebook, angetrieben von ihren starken Quartalszahlen, es ebenfalls unter die Top 5 der wertvollsten Konzerne der Börse geschafft - zumindest kurzzeitig."
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Gesellschaft

"Hier ein paar neue Informationen zu Ernährungstheorien, zusammengestellt von Hannah Ewens in Vice: "Veganer sind fett. Veganer leben ungesund. Veganer sind arm. Veganer scheren sich einen Scheiß um gesundes Essen. Ganz egal, was man dir in den letzten Jahren versucht hat, auf Instagram weiszumachen, diese Aussagen treffen auf gar nicht mal so wenige Veganer zu."
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Stichwörter: Ernährung, Veganismus, Instagram, Vice

Europa

Die Leave-Anhänger könnten sich demnächst durch die Tory-Regierung verraten sehen, schreibt Vernon Bogdanor in politico.eu. Denn die sozial Abgehängten stimmten für den Brexit, weil sie die EU als Agentin der Globalisierung sahen. "Wieder einmal werden sie wohl nicht bekommen, was sie wollten. Die meisten Brexit-Anführer außerhalb von UKIP waren Konservative, die eine ganz andere Agenda haben. Sie wollten den Brexit aus thatcheristischen Gründen, um eine effektivere Version der Marktwirtschaft zu erhalten, die ohne die Begrenzungen von Jacques Delors' 'sozialem Europa' auskommt. Sie sind nicht gegen Globalisierung, sondern gegen soziale Solidarität."

Außerdem zu den Interna der britischen Poltik: Bei Medium erklärt der sehr linke Publizist Owen Jones (der sonst meist im Guardian schreibt) sehr ausufernd, wie man sehr links und trotzdem gegen Jeremy Corbyn sein kann.

In einem Artikel für das Journal du dimanche erklärt der französische Premierminister Manuel Valls, wie er sich einen "Islam de France" vorstellt - mit einer guten theologischen Ausbildung der Islame in Frankreich und der Gründung einer Stiftung, die den Bau von Frankreich-kompatiblen Moscheen erlauben sollen. Denn "Wir kommen aus einem Widerspruch nicht heraus: Die Laizität verbietet uns, den Bau von Moscheen zu subventionieren, aber dadurch überlassen wir anderen die Finanzierung." Die Laizität aber, daran hält Valls fest, bleibe "der Schild der Republik".

Angesichts einiger twitternder muslimfeindlicher Professoren bringt Ralf Pauli in der taz jene Art Sanktionen ins Spiel, gegen die die Zeitung einst gegründet wurde: "Auch in der Vergangenheit hat das Land über die politische Haltung ihrer Beamten gestritten. 1972 wollte Kanzler Willy Brandt (SPD) mit dem 'Radikalenerlass' bekennende Kommunisten aus dem öffentlichen Dienst entfernen - oder erst gar nicht einstellen. Bis 1982 wurden 3,5 Millionen BewerberInnen auf ihre Gesinnung geprüft. Rund 10.000 erhielten ein Berufsverbot. Heute stellt sich die Frage nach dem Berufsverbot neu - aber für rechte Beamte."

Außerdem: In einem längeren FAZ-Essay sucht Thomas Thiel nach den Wurzeln der Amokläufe und des suizidalen Terrors und spricht die Religion frei, nicht aber das Internet und den "Vulgärliberalismus".
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