9punkt - Die Debattenrundschau

Blütenlese des Rechtextremismus

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2018. Linke Identitätspolitik führt direkt in den Kulturrelativismus, warnt Francis Fukuyama in der NZZ. In der FAZ skizziert Sergej Lebedew anlässlich des Prozesses gegen den Historiker Jurij Dmitrijew die  Verwandtschaft  der heutigen russischen Machthaber mit den Stalinschen Henkern. Der politische Zerfall der Mittelklasse droht auch die SPD zu zerreißen, warnt in der Zeit der Kultursoziologe Andreas Reckwitz. Die SZ erklärt, warum #metoo in Japan kaum Erfolg hat. Nur in Österreich ist die Stimmung gut, meldet die FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.02.2018 finden Sie hier

Internet

Vom Internet als Bio-Supermarkt träumt Volker Bernhard in der SZ: Bewusster Konsum ist bei der Ernährung längst üblich und auch im Netz überfällig, meint er. Datenschutzsensible und werbefreie E-Mail-Anbieter wie Posteo machten es vor: "Das Kreuzberger Unternehmen praktiziert idealtypisch die Verzahnung von ökologischem Bewusstsein und überlegtem Konsum im Netz: Server werden mit Ökostrom betrieben, Spenden an NGOs verteilt, es kommen sozial-ökologische Banken zum Einsatz. Für anonymes Surfen im Netz kann man den Tor-Browser benutzen, die Geschwindigkeit ist durch Anonymisierung gedrosselt. Das ist unbequem, doch bei Bio-Produkten werden Unannehmlichkeiten auch akzeptiert. So kann man die Suchmaschine Startpage bewerten, mit der die Google-Suche anonymisiert wird."
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Geschichte

Was ist das Vermächtnis der Geschwister Scholl, die heute vor 75 Jahren ermordet wurden, fragt Heribert Prantl in der SZ. Vielleicht der "kleine Widerstand", von dem der 2001 verstorbene Münchner Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann sprach, meint Prantl: "Der kleine Widerstand sei die bewegende Kraft, deren das Recht und der Rechtsstaat zu ihrer fortwährenden Erneuerung und damit zur Verhinderung ihrer Entartung bedürfen. Gemeint sind Widerspruch und Zivilcourage, gemeint ist Whistleblowerei, gemeint ist das, was oft als Gutmenschentum denunziert wird. Der kleine Widerstand hat die Namen all derer, die Missstände nennen und gegen Unrecht nicht nur im Eigeninteresse anrennen - sei es in Pflege- oder in Flüchtlingsheimen."
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Kulturpolitik

Zumindest vierzig der 440 Millionen Euro für die Sanierung der Berliner Staatsoper hätten vermieden werden können, hätte man nicht Angst gehabt, als "BER der Kultur" angesehen zu werden, seufzt Harry Nutt in der Berliner Zeitung. Ärgerlicher noch als die Verteuerung durch die Beschleunigung der Bauarbeiten findet er die politische Intransparenz: "Man wird den Verdacht nicht los, dass die Bauverwaltung anstelle realistischer Prognosen lieber im Stillen darauf gehofft hat, dass am Ende schon alles gut geht."

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Europa

Im Guardian ist die italienische Menschenrechtsaktivistin Sabrina Gasparrini absolut nicht überrascht, dass dem - wie man dachte für immer diskreditierten - Silvio Berlusconi in Italien gerade ein Comeback gelingt. Sie sieht ihr Land immer weiter nach rechts rutschen: "Wie kann man diese Spirale stoppen? Ich glaube die Lösung für mein Land liegt darin, dass es eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa geben wird. Es stimmt, dass die Unterstützung der EU in Italien gefallen ist. Aber es sind die gemeinsamen europäischen Regeln, die Italien davor bewahren, noch tiefer in den Populismus zu rutschen und seine demokratischen Prinzipien aufzuweichen. Teil der EU zu sein, ist ein Bollwerk gegen unsere schlimmsten Instinkte." (Lesenswert auch Tobias Jones' lange Guardian-Reportage über die neofaschistische italienische Bewegung CasaPound.)

In der FAZ skizziert Falter-Herausgeber Armin Thurnher die Stimmung in Österreich, wo unter der aus ÖVP und FPÖ zusammengesetzten Regierung von Bundeskanzler Kurz noch beste Stimmung herrscht: "In der Regierung sitzen auf ÖVP-Seite großteils politisch unerfahrene Kräfte. Politiker und Politikerinnen der FPÖ besetzen ihre Kabinette mit mehr als zwei Dutzend Burschen- und Mädelschaftlern. Eine Blütenlese des Rechtextremismus schmückt Österreichs Exekutive. Ein gewesener Neonazi leitet das Kabinett des Infrastrukturministeriums; im Innenmisterium agiert der ehemalige Chef des rechten Propagandaportals 'unzensuriert.at' als 'Fachreferent operative Kommunikation'."

In Russland steht der Historiker Jurij Dmitrijew vor Gericht. Der Vorwurf, Kinderpornografie, ist völlig unhaltbar, meint Sergej Lebedew in der FAZ. Dennoch musste er sich von einem Psychiater untersuchen lassen. Für Lebedew kann es dafür nur einen Grund geben: Dmitrijew und die Gesellschaft Memorial sind zu dicht dran, auch juristisch verwertbare Beweise für den Stalin-Terror zu finden: "Die sowjetische Vergangenheit ist heute in Russland ein Legitimationsfaktor für das autoritäre Regime. Und wie die heute lebenden Nachkommen mit ihren im Lager umgekommenen Vorfahren durch eine Blutsverwandtschaft verbunden sind, so sind auch die heutigen russischen Machthaber mit den Stalinschen Henkern und Mördern verbunden und können sich aufgrund dieser monströsen Verwandtschaft nicht von ihnen lossagen."

Außerdem: Russland, China und die Türkei haben die Geopolitik auf den Balkan zurückgebracht, die EU sollte sich wappnen, warnt Ivan Krastev im Guardian.
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Ideen

Die Sozialdemokratie ist zerrissen zwischen neuer Unterklasse, alter Mittelklasse, die Angst hat vor der Deklassierung, und der neuen Mittelklasse mit ihrem modischen Multikulti, die auch eine Menge anderer politischer Angebote hat, diagnostiziert der Kultursoziologe Andreas Reckwitz ("Die Gesellschaft der Singularitäten") im Feuilleton-Aufmacher der Zeit: "Teile der Wähler aus der neuen Mittelklasse wandern in die liberale Mitte ab, wo sie unter ihresgleichen bleiben; Teile der Wähler aus der alten Mittelklasse und neuen Unterklasse wandern frustriert nach rechts außen (oder Letztere auch nach links außen). Schlimmstenfalls entfremdet man sich nach beiden Seiten und ist für niemanden mehr die erste Adresse. Das Band zerreißt."

Im NZZ-Gespräch mit René Scheu deutet der amerikanische Politphilosoph Francis Fukuyama islamistischen Radikalismus mit dem griechischen Begriff des "Thymos" - dem Zentrum des Stolzes in der menschlichen Seele, ergründet Gemeinsamkeiten von Nationalisten und Islamisten, plädiert für einen "liberalen Patriotismus", der Menschen unabhängig von Ethnie und Religion als Bürger eines Landes versteht und spricht über den Zusammenhang von linker Identitätspolitik und antiuniversalistischem Kulturrelativismus: "Die marxistische Linke wurde durch eine nietzscheanische Linke ersetzt. Marx glaubte an Fortschritt, Moderne, Rationalität und Wissenschaft, also Werte, die aus der Aufklärung hervorgingen. Nietzsche blies einen Teil derselben weg, denn er war überzeugt, diese Werte seien christlich und ließen sich mit guten Gründen durch neue ersetzen. Nach Gottes Tod ist alles möglich, der Relativismus triumphiert. Dann ist eben nicht mehr die Klassenunterdrückung das Problem, sondern die Unterdrückung durch die westliche Kultur per se. Nun sitzen plötzlich westliche Werte auf der Anklagebank - sie sollen für Kolonialismus, Rassismus und Krieg verantwortlich sein. Fraglos haben westliche avancierte Länder viel Übles angerichtet im 20. Jahrhundert - wer aber so simplizistisch argumentiert, schüttet das Kind mit dem Bade aus."

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Gesellschaft

Dass Frauen, die einen Job wollen oder auf ihn angewiesen sind, sexuell ausgebeutet werden können, ist universell, zeigte ein Aufruf von Landarbeiterinnen, auf den Hollywood-Schauspielerinnen mit der "Time's Up"-Idee reagierten. Marie Schmidt hält diesen Aspekt von #MeToo in der Zeit für den bleibenden: "Man könnte denken, in niedrig qualifizierten Jobs sei die Identifizierung der Einzelnen mit ihrer Karriere nicht hoch genug, um sie so erpressbar zu machen wie eine ambitionierte Schauspielerin. Aber die Landarbeiterinnen berichten: 'Wie euch stehen auch uns nur wenige Stellen zur Verfügung. Uns wegen irgendetwas zu beschweren - und sei es sexuelle Belästigung - scheint undenkbar, weil zu viel auf dem Spiel steht, wozu auch unsere Möglichkeit gehört, unsere Familien zu ernähren und unseren guten Ruf zu wahren.' Das Gründungsstatement der Initiative Time's Up ist eine Antwort auf diese Solidaritätsadresse. Die Hollywoodstars stellen darin demonstrativ ihre Berühmtheit und die weltweite Resonanz auf ihre Enthüllungen in den Dienst von Arbeiterinnen des Niedriglohnsektors."

In der Vorkriegszeit waren Frauen in Japan rechtlich noch Sachen und Haustieren gleichgestellt und auch unter Premier Shinzo Abe sollen Frauen als "Womenomics" vor allem "glänzen" und die Wirtschaft ankurbeln, schreibt Christoph Neidhardt in der SZ. #MeToo werde trotz einiger Ausnahmen in der japanischen Gesellschaft wenig Erfolg haben: "Im vergangenen Jahrzehnt gab es so viele Klagen über Grapscher, die in den oft überfüllten U- oder S-Bahnen Frauen belästigten, dass die meisten Linien in Tokio nun während der Spitzenzeiten Wagen nur für Frauen führen. Laut einer Studie der Regierung erstatten in Japan nur 4,3 Prozent der Opfer sexueller Gewalt Anzeige. Den meisten ist das Risiko zu groß, von der Polizei, von den Ärzten oder den Medien nicht ernst genommen, sondern zusätzlich geplagt zu werden, wie die Tageszeitung Asahi schrieb. Es gibt auch kaum Opferbetreuung."
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Politik

Trumps Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt anzuerkennen, hat die Palästinenser unwesentlich geschwächt, Israels Rechte gestärkt, die Aussicht auf eine Zweistaatenlösung in noch weitere Ferne gerückt und Israel isoliert, meint Christian Weisflog in der NZZ: "auch Israel - der vermeintliche Sieger im Krieg um das Heilige Land - wird einen Preis für diese Politik bezahlen müssen. Die Palästinenser müssen zwar auf immer weniger Boden und mit immer weniger Ressourcen leben, aber verschwinden werden sie kaum. Nicht zuletzt, weil auch jeder fünfte israelische Bürger ein Araber ist. Vielleicht wird sich ihr Widerstand nach dem Ende aller Hoffnungen nochmals radikalisieren, vielleicht werden sich die Palästinenser apathisch ihrem Schicksal ergeben. Aber je elender und hilfloser sie ihr Dasein fristen, desto weniger wird Israel eine moralische Mitverantwortung und den Vorwurf, ein Unterdrücker zu sein, von sich weisen können."

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Medien

Einen detaillierten Überblick zum KEF-Bericht, der vor allem die ARD mit den Zähnen knirschen lässt, liefert Christian Meier in der Welt. Die Sportrechte sind zu teuer, Filme und Serien zu lange und das Personal von ARD und ZDF muss reduziert werden, schreibt er.
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