9punkt - Die Debattenrundschau

Und doch hat das Publikum keine Mitsprache

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2019. Der venezolanische Schriftsteller Rodrigo Blanco Calderón kann es in der SZ kaum fassen, mit welch klischeehaften Reflexen die Linke Maduro verteidigt.  Nach neuen Vorwürfen gegen Facebook fordert Anne Applebaum in der Washington Post eine striktere Regulierung der sozialen Medien. Der öffentliche Intellektuelle ist tot, konstatiert der Literaturwissenschaftler Björn Hayer auf Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.02.2019 finden Sie hier

Internet

Anne Applebaum greift in ihrer jüngsten Washington-Post-Kolumne zwei neuere Geschichten über Manipulation bei Facebook auf (der Konzern bezahlte Schüler für Zugang zu ihren Iphones, und er stoppte ein Tool von Propublica, das dubiose Anzeigen aufspürte, unser Resümee), und sie fordert eine wesentlich striktere Regulierung von Facebook, aber auch Google und Youtube: "Diese Firmen agieren ganz nach ihren eigenen Regeln und Algorithmen. Sie entscheiden, wie Daten gesammelt werden und wer sie sehen darf. Sie entscheiden, wie politische und kommerzielle Werbung reguliert und überwacht wird. Sie entscheiden sogar darüber, was zensiert wird. Die öffentliche Sphäre wird durch diese Entscheidungen geprägt, und doch hat das Publikum keine Mitsprache." Applebaum schlägt öffentlich-rechtliche Netzwerke vor - Ähnliches regt übrigens auch der SPD-Politiker Yannick Haan im Deutschlandfunk Kultur  an.
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Politik

Der venezolanische Schriftsteller Rodrigo Blanco Calderón kann es in der SZ kaum fassen, mit welch klischeehaften Reflexen die Linke Maduro verteidigt - weil die USA angeblich nur wegen des Öls den Herausforderer Juan Guaidó unterstützen (dabei seien die USA so wenig wie nie von venezolanischem Öl abhängig) oder weil - wie zuletzt Noam Chomsky und siebzig seiner Kollegen in einem Offenen Brief behaupteten, Guaidós Anerkennung zu einem Blutbad und zur Instabilität des Landes führen könne: "Das Schlimme an dieser Art Meinungen ist, dass sie den nordamerikanischen Paternalismus angreifen, in dem sie eine andere Art nordamerikanischen Paternalismus benutzen: nämlich den der vermuteten Solidarität, der sich ausdrückt über die abgegriffene Formel des 'Selbstbestimmungsrechts der Völker'. Diese Art Solidarität aber führt zu ganz anderen Formen von Grausamkeit und sie enthüllt die totale Unkenntnis darüber, wie Venezuela einst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine souveräne, moderne und reiche Demokratie war, die Nein sagte zu allen Formen des Totalitarismus."

In China werden Millionen Uiguren zu Umerziehung gezwungen, doch die Wortführer der islamischen Welt schweigen, wundert sich Daniel Steinvorth in der NZZ. "Während die Staatschefs zuverlässig das Schicksal der Palästinenser politisch instrumentalisieren und sich auch über die Massenflucht der burmesischen Rohingya empören können, werden die Uiguren einfach ausgeblendet. Mehr noch: Staaten wie Ägypten oder Pakistan kooperieren eng mit der Volksrepublik, indem sie geflohene Uiguren ausweisen oder direkt an Peking ausliefern. Die wirtschaftlichen Interessen Kairos und Islamabads sollen offenkundig nicht gefährdet werden. Mit Milliardenkrediten hat China sich Wohlwollen in vielen muslimischen Schlüsselländern erkauft."

Außerdem: Der italienische Philosoph Maurizio Ferraris schickt der NZZ seinen zweiten Brief aus China: "Wollen wir unsere Gegenwart (und vielleicht auch unsere Zukunft) begreifen, dann müssen wir nach China blicken."
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Gesellschaft

Überall kursierte die Geschichte, dass die Kinder des Germanisten Helmut Lethen von der Wiener Waldorfschule gewiesen worden seien, weil seine Frau Caroline Sommerfeld, die in der Schule kochte, sich bei den Identitären engagierte (unsere Resümees). Volker Weiß, Autor des Buchs "Die autoritäre Revolte - Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes", hat jetzt für die FAS als erster auch mal mit der Schule gesprochen und und nimmt sie in Schutz: Die Auseinandersetzung habe jahrelang gedauert. Sommerfeld habe sich als wahre Künderin des eigentlich rechten Rudolf Steiner aufgespielt. Am Ende seien die Zustände nicht mehr haltbar gewesen: "Der Verein habe lange 'versucht, eine Lösung für die Kinder zu finden'. Die gab es aber nicht mit einer so massiv und ideologisch auftretenden Mutter. Doch um Politik sei es ohnehin weniger gegangen. In den Augen des Vereins wurde die Schule unfreiwillig zum Nebenschauplatz einer sehr spezifischen Ehekonstellation. Und zur Bühne einer gigantischen Inszenierung, ließe sich hinzufügen. Sinnbildlich gesprochen steht in dieser eine Frau im Raum, mit ausgestreckten Armen ruft sie immer wieder: Kreuzigt mich, ich bin rechts!"

Die Soziologin Eva Illouz spricht im Interview mit der Berliner Zeitung über das Ende der Liebe, für das sie vor allem die Männer verantwortlich macht: "Ich denke, Männer sind Opfer davon, die sexuelle Arena immer kontrollieren zu wollen. Schönheit, Fitness und Jugend sind super wichtig. Viele Männer, die ich interviewt habe, würden nie auf die Idee kommen, eine Frau zu daten, die ein paar Pfunde zu viel hat. Nie. Also auf eine Art und Weise sind sie Opfer, weil sie tolle Frauen verpassen, weil sie sich erst gar nicht erst für sie interessieren, wenn sie ihre Erwartungen nicht erfüllen. Ein Mann sagte mir, sein Date sei sehr intelligent gewesen, aber ihre Taille habe ihm nicht gefallen. Er sagte: Ich mag Frauen mit Taille. Viele Männer haben eine Art Fetischismus Frauen gegenüber entwickelt und sehr genaue Vorstellungen davon, was sie für Brüste, Beine, Po, Haare haben sollten und so weiter. Das ist fetischistisch."
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Europa

Der Politico-Journalist Paul Taylor erzählt, wie er Franzose wurde, nicht wegen des Brexit, wie er versichert, sondern weil er schon seit Jahren in Paris lebt und seine Kinder Franzosen sind. Lebhaft schildert er die kleine Zeremonie, mit der er im Kreis der Franzosen begrüßt wurde. "Ich hielt meine Tränen zurück, als wir auf dem Höhepunkt der Einbürgerung die 'Marseillaise' sangen. Vorausgegangen war ein kleiner Vortrag über die Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit starker Betonung auf dem Säkularismus. Ein Video hatte uns die Geschichte und architektonischen  Schätze Frankreichs vorgeführt und die Französische Revolution und Menschenrechte hervorgehoben. Bilder von Rafale-Flugzeugen, Mistral-Kriegsschiffen, TGVs und Airbus-Fliegern zogen vorbei. Ja, sogar Streikszenen und Demonstrationen wurden gezeigt (aber nicht brennende Barrikaden oder Tränengas). Kurz dachte ich, ein Bild Ludwigs XVI. bei der Guillotinierung gesehen zu haben, aber alles ging so schnell, dass ich nicht sicher bin."
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Ideen

Francis Fukuyama spricht mit Gregor Quack in der FAS über sein neues Buch "Identität - Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet" und kritisiert, dass bei dem Versuch, den Populismus zu verstehen, kulturelle Faktoren meist unterschätzt werden. Identitätspolitik ist aber nicht nur eine Sache der Rechten, meint er: "Das Problem liegt darin begründet, dass eine liberale Gesellschaft vorrangig eben nicht aus verschiedenen Kulturen, sondern zunächst einmal aus Individuen besteht. Wenn also beispielsweise eine konservative muslimische Familie ihre Tochter zurück nach Marokko oder Pakistan schickt, damit die dort gegen ihren Willen verheiratet wird, dann kann man das in einer liberalen Demokratie nicht im Namen kultureller Selbstbestimmung verteidigen."

Der öffentliche Intellektuelle ist tot, konstatiert der Literaturwissenschaftler Björn Hayer auf Zeit online. Jedenfalls in den Geisteswissenschaften. Es wundert ihn nicht. "In der Tat hat sich ein Teil der Forschungsgemeinde, insbesondere der älteren Garde, seit mehreren Dekaden mit der Abarbeitung realitätsferner Nischenthemen begnügt. Man zog sich biedermeierlich (und sicherlich auch ein wenig selbstgefällig) ins Unpolitische zurück. Verstärkt wird dieser Eindruck der Beliebigkeit durch eine massive Überproduktion an Studien und Artikeln, deren Bedeutung für die gesellschaftlichen Diskurse kaum erörtert wird." Hayer ermuntert dazu, den Elfenbeinturm zu verlassen und sich wieder einzumischen.

In seinem Buch "Der Tyrann" analysiert der amerikanische Literaturwissenschafter Stephen Greenblatt Shakespeares "Machtkunde für das 21. Jahrhundert". Die lässt sich auch sehr gut auf Donald Trump übertragen, meint er im Interview mit der NZZ. "Er ist in jeder Hinsicht eine kollektive Schöpfung, auch wenn ich dem Prinzip Etienne de La Boéties anhänge, nach dem man sich immer auch weigern kann, einem Tyrannen einen Kaffee zu servieren. Am Aufstieg Trumps ist faszinierend, dass ihn das gesamte republikanische Establishment gehasst hat - die Bushs, McConnells und wie sie alle heißen. In dem komplizierten Prozess, von dem ich nicht sicher bin, ob ich ihn völlig verstehe, haben sie sich ihm dann aber alle verschrieben."

Weiteres: Auch das Gedenken unterliegt Moden - wir gedenken der Opfer des Faschismus, des Nationalsozialismus, von Auschwitz, des Holocaust, der Judenvernichtung: In der FR denkt Arno Widmann an seinem eigenen Leben entlang über die gesellschaftliche Konjunktur dieser Begriffe nach.
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Überwachung

Constanze Kurz beleuchtet in ihrer FAZ-Kolumne die boomenden Branchen der Spionagesoftware und Sicherheitsdienste - viele von westlichen Firmen, die repressiven Regimes wie etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten mit ihrer Qualifikation zuarbeiten. An die Adresse westlicher Staaten schreibt Kurz: "Sie unterstützen die Überwachung und Verfolgung von Kritikern in autoritären Staaten wie den UAE, wenn sie zulassen, dass Wissen und Spionagesoftware dorthin transferiert werden. EU-Staaten sind zudem selbst Kunden solcher Firmen."
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Wissenschaft

Die deutschen Universitäten werden im internationalen Vergleich immer stärker abgehängt, warnt Otfried Höffe in der FR: "Ohne Zweifel ist die erhebliche Steigerung der Abiturienten- und Studentenquote eine sozialpolitische Leistung. Sie geht aber nicht mit einer proportional verbesserten Hochschulfinanzierung einher. Stattdessen wurden die Pro-Kopf-Kosten gesenkt, was eine Folge hat, die so gut wie niemand für einen Skandal hält: eine kräftige Unterfinanzierung der Universitäten. Ohnehin sind selbst die reichsten deutschen Bundesländer nicht dazu bereit, die für eine veritable Weltspitze erforderlichen Kosten aufzubringen. Man muss sich daher fragen, warum ein Land mit wenigen natürlichen Ressourcen und vollmundigen Reden von einer 'Wissensgesellschaft' weder fähig noch willens ist, das zustande zu bringen, was zahlreichen Mittelständlern gelingt: zur Weltspitze zu gehören, vielfach sogar der Weltmarktführer zu sein."
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