9punkt - Die Debattenrundschau

Die personifizierte Brand Safety

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2019. Nach der EU-Urheberrechtsreform müssen Plattformen und alle möglichen anderen Dienste nun dafür sorgen, dass Inhalte vieler Art nicht verfügbar sind. Wer sie zitieren will, muss erst einen Lizenzierungsantrag etwa bei Mathias Döpfner stellen, der sich in Meedia auf "neue Geschäftsmodelle" freut. Ein großer Sieger dieser Reform wird aber auch Filter-Spezialist Google sein, vermutet Sascha Lobo in Spiegel online.  In der Zeit spricht der ehemalige Odenwald-Schüler Adrian Koerfer über den "monströsesten Serienvergewaltiger der deutschen Nachkriegsgeschichte", den Leiter der Schule, Gerold Becker und über die Rolle der Gräfin Dönhoff bei der Kaschierung der Skandale.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2019 finden Sie hier

Urheberrecht

Ein Sinn der Urheberrechtsreform ist es, die Verbreitung kultureller Artefakte zu verhindern, um deren Urheber oder Verwerter zu schützen. In Artikel 13 heißt es, dass ein Unternehmen "nach Maßgabe hoher branchenüblicher Standards für die berufliche Sorgfalt alle Anstrengungen unternommen hat, um sicherzustellen, dass bestimmte Werke nicht verfügbar sind". Für Spiegel-online-Autor Sascha Lobo folgt daraus, dass sich die Macht von Google, die angeblich eingeschränkt werden sollte, vergrößern wird: "Die 'branchenüblichen Standards' für Uploadfilter setzt niemand anders als Google. Die Entwicklung von YouTubes Filtertechnik 'Content ID' hat mehr als 100 Millionen Euro gekostet. Googles Wissensvorsprung eingerechnet könnte die Kreativwirtschaft auch mit 500 Millionen Euro diesen Standard nicht erreichen und stattdessen auf neue oder bereits existente, aber sicherlich nicht bessere Technik zurückgreifen."

Worauf es bei der EU-Urheberrechtsreform hinausläuft, kann man indirekt einem Interview mit dem Sieger der Lobby-Schlacht Mathias Döpfner in Meedia entnehmen. Informationen, die im Netz noch frei zirkulieren, sollen monopolisiert werden: "Die Reform schafft die rechtlichen Rahmenbedingungen für journalistische Geschäftsmodelle im Netz. Damit entsteht mehr Anreiz, digitale Content-Startups zu gründen, Blogs zu schreiben und journalistische Projekte zu etablieren. Das erzeugt mehr Vielfalt, Innovation und Kreativität im Netz." Denn "das Gesetz etabliert das Prinzip, dass einer, der Inhalte Dritter für kommerzielle Zwecke nutzen will, sich mit dem Publisher auf eine Lizenzgebühr einigen muss." Was heißt "Inhalte Dritter für kommerzielle Zwecke" nutzen? Dürfte der Perlentaucher dieses Interview erst nach Lizenzierung zitieren? Das werden wohl die Gerichte klären...

Friedhelm Greis meldet in golem.de unter Bezug auf ein Tweet von Wirtschaftsminister Altmaier, dass die Bundesregierung trotz ihrer Ablehnung von Uploadfiltern der EU-Urheberrechtsreform zustimmte, um "wenigstens das Leistungsschutzrecht zu retten".
Archiv: Urheberrecht

Internet

Die ePrivacy-Verordnung wird vor der Wahl des neuen Europaparlaments nicht mehr durchkommen, berichtet Alexander Fanta bei Netzpolitik. Sie würde es Nutzern erlauben, Tracking-Werbung im Internet ganz leicht abzustellen. Datenkonzerne wie Google aber auch die Verlagsbranche sind dagegen: "Die Verzögerung der Reform erlaubt Datenkonzernen, so weiterzumachen wie bisher. Im Rat der Mitgliedstaaten ist das Gesetz blockiert, da einige Länder den Schutz für Nutzerinnen und Nutzer abschwächen wollen. Deutschland bekennt sich zwar grundsätzlich zu einer Stärkung des Datenschutzes durch ePrivacy, zugleich möchte die GroKo in Berlin ihre Freunde in der Verlagsbranche nicht verprellen."
Archiv: Internet

Medien

Dieses Resümee eines Horizont-Interviews bei turi2 muss man sich auch erstmal durch den Kopf gehen lassen: "Die Chefs der ARD-Werbung haben Oberwasser - und zielen per Horizont-Interview auf die schon angeschossene Print-Branche. AS&S-Chefin Elke Schneiderbanger sieht Werbung in TV und Radio als Krisen-Gewinner: Wer früher großflächig Papier-Präsenz zeigte, wechsele jetzt ins Umfeld von 'Tagesschau' und 'Sportschau'. ARD-Werbung sei 'die personifizierte Brand Safety'. "
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Europa

Gestern haben die Abgeordneten im House of Commons das Regiment übernommen und in "indicative votes" verschiedene Alternativen für den Ablauf des Brexit zur Abstimmung gestellt. Am Montag soll dann ein endgültiges Muster gefunden werden. Neuwahlen oder ein neues Referendum und auch die Teilnahme Britanniens an den Europa-Wahlen werden möglich. (Presseraktionen auf den wieder mal tumultuösen Tag hat Spiegel online zusammengefasst.) Und jetzt starten schon die Rückblicke auf den Brexit-Prozess, etwa bei politico.eu, wo Tom McTague erzählt, wie "das Vereinigte Königreich die Brexit-Schlacht verlor. "Die Geschichte, die sich abzeichnet, handelt von einem Prozess, in dem die EU unerbittlich voranschritt, während  Westminster in politischen Auseinandersetzungen, Unentschlossenheit und Instabilität versank."

Erdogans Versuch, die Verantwortung für die von ihm verursachte türkische Wirtschaftskrise anderen anzulasten, nützt wenig, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Deshalb änderte er seine Taktik vor den Kommunalwahlen: "Also erklärt er Wählerschaft und Opposition zum Feind, um die Tagesordnung zu ändern und zu verhindern, dass über die Wirtschaft geredet wird. So sieht das politische Szenario in der Türkei vor den Kommunalwahlen aus. Wir wählen in einem Klima, in dem alle Kräfte außerhalb der Regierung zu Feinden erklärt sind. Täglich feuert Erdogan Drohungen gegen Wähler und Opposition. Beiden Parteichefs des Oppositionsblocks, Kemal Kiliçdaroglu und Meral Aksener, drohte er mit Verhaftung. Und die Wähler erpresst er offen: 'Wenn ihr uns nicht wählt, bekommt ihr keine Dienstleistungen mehr.' Kandidaten der Opposition, die gute Chancen haben, gewählt zu werden, warnt er, ihnen drohe für den Fall ihrer Wahl die Absetzung."
Archiv: Europa

Ideen

Thea Dorn denkt in einem Zeit-Essay über die grassierende Kultur des Beleidigtseins in vielen jüngeren Debatten nach und fordert von allen Seiten mehr Toleranz: "Toleranz ist die Haltung des, wenn man so will, erwachsenen, zu einer gewissen Komplexität fähigen Menschen, der unterscheiden kann zwischen dem, was er tatsächlich befürwortet, und dem, was er mit Blick auf den gesellschaftlichen Frieden lediglich erträgt, obwohl er es eigentlich ablehnt. Diese charakterlich reife, differenzierte Haltung als 'beleidigend' zu bezeichnen ist, Pardon, idiotisch. Es nimmt der offenen Gesellschaft die Luft, die sie zum Atmen braucht."

In der NZZ denkt der Schweizer Manager Simon Ingold darüber nach, was in Zeiten der Postintellektuellen wie Jordan Peterson, Sam Harris oder Joe Rogan heute eigentlich einen "public intellectual" ausmacht: "Im Unterschied zu den Postintellektuellen haben Figuren wie Adorno und Derrida, aber auch Chomsky, mit ihrer Arbeit die Initialzündung für politische Bewegungen gegeben. Die Postintellektuellen betätigen sich hingegen als Nach-Denker: Sie interpretieren und artikulieren, was an rudimentären Meinungen und Ahnungen bereits vorliegt. Islamismus, Veganismus, Sexismus, Rassismus, Spiritualismus, Drogenliberalisierung, Lohnungleichheit, Kindsmissbrauch - all diese Themen werden von den Postintellektuellen durchexerziert, abwechselnd als Gegenstand der Kritik oder der Zustimmung."

Außerdem: In der Zeit gibt Emeritus Wolfgang Streeck seiner allgemeinen Unzufriedenheit mit der EU Ausdruck und beklagt "die, zur Beförderung von 'mehr Europa', unterstellten Aggressionsabsichten Russlands, entsprechend der amerikanischen Übertragung des sowjetischen Feindbilds unter den Clintons und Obama auf das postsowjetische Russland". In der NZZ denkt der Philosoph Philipp Hübl über den Zusammenhang von Fake News und Stammesdenken nach.
Archiv: Ideen

Gesellschaft

"Er war wahrscheinlich der monströseste Serienvergewaltiger der deutschen Nachkriegsgeschichte", sagt im Gespräch mit Zeit-Autor Stephan Lebert der ehemalige Odenwald-Schüler Adrian Koerfer über den Leiter der Schule Gerold Becker. Lebert spricht die "Täterlobby" an, die die Zustände an der Elite-Schule jahrzehntelang eisern beschönigte, und nennt auch ihre prominenteste Repräsentantin Marion Gräfin Dönhoff, die Herausgeberin der Zeit. Und Koerfer erinnert sich an den Sohn Richard von Weizsäckers, Andreas, der 2008 starb und wohl ebenfalls ein Opfer sexuellen Missbrauchs war: "Es gibt eine schreckliche Szene: Bei der Beerdigung von Andreas von Weizsäcker war Hartmut von Hentig anwesend, also der Lebensgefährte des Mannes, der auch Andreas missbraucht hat. Richard von Weizsäcker hätte damals auf jeden Fall wissen können, dass Becker ein Täter war, an der Schule seines Sohnes, die Vorwürfe waren ja schon bekannt. Was für eine Chuzpe von Hentig! Aber wie eng diese Beziehungen miteinander verwoben waren, sieht man auch daran, dass Andreas der Patensohn von Hentig war." Eine neue, vom Land Hessen vorgelegte Studie (Auszug als pdf-Dokument) belegt das schockierende Ausmaß des Systems sexuellen Missbrauchs und des Mitwissertums an der Schule.

Mit christlichen Argumenten haben SPD (die den Säkularismus konsequenter Weise ablehnt, mehr hier) und CDU das Gesetz zum assistierten Suizid in den letzten Jahren so verschärft, dass Patienten nicht mehr auf Sterbehilfe bauen können. Die Zeit veranstaltet ein Pro und Kontra zur Frage. Gegen Sterbehilfe argumentiert der evangelische Theologe Wolfgang Thielmann: "Nein, ich kann keines Menschen Leben beenden oder dabei helfen, ich darf es nicht" und dies religiös begründet. Pro Sterbehilfe argumentiert die Zeit-Redakteurin Evelyn Finger: "Ein eklatanter Prozentsatz schwer kranker Patienten hat Schmerzen, gegen die allenfalls Bewusstlosigkeit hilft." Und "Das Drohszenario der Sterbehilfe-Gegner unterstellt, jetzt schlage die Stunde der 'aktiven Sterbehelfer'. Des Pflegens überdrüssige Angehörige oder faules Klinikpersonal setze eilends die Todesspritze, um sich des Kranken zu entledigen. Das Horrorszenario aus dem normalen Leben geht aber anders: Laien schrecken vor der Bitte um mehr Morphium zurück, aus Angst, den Angehörigen mit einer Überdosis zu töten. Ich jedenfalls stand hin- und hergerissen zwischen der Furcht, etwas zu tun, und dem Schuldgefühl, nichts zu tun."

Die Soziologin Gita Neumann und die Kulturwissenschaftlerin Naïla Chikhi wenden sich bei hpd.de gegen jenen neuen Feminismus, der im Namen von Antirassismus für das Kopftuch kämpft - und nehmen dabei Bezug auf ein Papier der Grünen in Berlin: "Wie kommt es, dass die Aufklärung von der Linken in den letzten Jahren derart verraten wurde - und zwar nicht nur hierzulande, wo sie nun durch den politischen Islam ebenso bedroht wird wie durch die darauf reagierende AfD? Wie war es nur möglich, dass Linke und Feministinnen emanzipatorische Bewegungen, die sich zum Beispiel im Iran und in Algerien auf 'die universalen Werte der Aufklärung' berufen, so schmählich im Stich gelassen haben?"

Die Entscheidung der Berliner Schulverwaltung, den Ausschluss des Kindes eines AfD-Politikers aus einer Berliner Waldorfschule als rechtlich korrekt einzuordnen, ist nicht nur falsch, sondern verstößt auch gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, schreibt Jost Müller-Neuhoff im Tagesspiegel: "Macht das Beispiel sprichwörtlich Schule, kann es außer Rechten oder Linken auch andere erwischen, die schlecht ins zuweilen politisch-moralisch anspruchsvolle Raster privater Schulträger passen. Ein Mädchen nach Hause schicken, weil seine Mutter Kopftuch trägt und es damit auch bald anfangen wird? Einen Jungen, weil er Sprössling einer Homo-Ehe ist? Oder sich selbst einem anderen Geschlecht zuordnet? Vieles scheint möglich bei dieser diskriminierungsfreundlichen Auslegung. Eine Grenze soll es schließlich nur geben, wo Rasse und ethnische Herkunft zu Kriterien werden."
 
Die #MeToo-Bewegung hat inzwischen auch Südkorea erreicht, schreibt Hoo Nam Seelmann in der NZZ und macht auf den tief sitzenden Sexismus in der koreanischen Gesellschaft aufmerksam: "Sexualität wurde in ganz Ostasien traditionell in die beiden vom Taoismus stammenden komplementären Kategorien Yin und Yang gefasst. Yin bedeutet unter anderem weiblich, dunkel, feucht, erdig und Yang männlich, hell, heiß. Das Sehnen von Mann und Frau wird als Wirken von komplementären Kräften angesehen. Der Konfuzianismus errichtete darauf einen elaborierten kulturellen Überbau, um vor allem die weibliche Sexualität unter die Dominanz des Mannes zu bringen. Diese Tradition lebt unterschwellig bis heute weiter. Dabei schreibt die Verfassung die Gleichheit von Mann und Frau fest, und Feminismus wie Gender-Studies sind längst auch in Südkorea angekommen."
Archiv: Gesellschaft