9punkt - Die Debattenrundschau

Flagrante Durchbrechung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2019. Der Standard bringt ein nachgelassenes Interview mit Agnes Heller: Der Nationalismus wäre der Tod Europas. In der FAZ beschreibt der Historiker Andreas Wirsching, wie die Mutter des Parlamentarismus mit einem antiparlamentarischen Instrument - dem Brexit-Referendum - ihre Institutionen beschädigte. Die SZ schildert den Protest der Philosophin Sylviane Agacinski gegen den "Mutterschaftsmarkt". In der taz warnt die Journalismusforscherin Margreth Lünenborg Frauen, die sich ins Netz begeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.09.2019 finden Sie hier

Europa

Was wäre, wenn sich Nationalisten à la Orban in Europa durchsetzen würden, fragt Agnes Heller in einem nachgelassenen Interview mit Sophie Menasse, das der Standard heute bringt. Und ihre Antwort ist einfach: "Europa würde zugrunde gehen. Dass das passieren wird, kann man aus der Geschichte lernen: Vor dem Ersten Weltkrieg gab es große Reiche in Europa. Diese wurden vom ethnischen Nationalismus zerstört. Und als sie zugrunde gerichtet waren, waren nicht mehr sie die Feinde, also die Habsburger oder der Kaiser, sondern die neuen Nationen haben angefangen, gegeneinander zu kämpfen. Es kam zu einem Zweiten Weltkrieg, zum Holocaust, zum Stalinismus, zum Gulag."

Was Brexit hieß, war vor dem Referendum von niemandem formuliert worden. Schon gar nicht war für einen No-Deal-Brexit mit allen Konsequenzen votiert worden, schreibt Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne mit Blick auf Boris Johnsons Rhetorik in der Sache: "Die Dolchstoßĺegende ist lügnerisch, weil sie nicht zugeben kann, dass der Brexit nur verraten werden konnte. David Camerons Fluch über Britannien war, dass er eine Abstimmung über den Brexit erlaubte, ohne zu sagen, was Brexit heißt. Dominic Cummings 'Vote Leave'-Kampagne nutzte diesen Freiraum dankbar aus. Auch sie weigerte sich zu sagen, wofür die Bevölkerung eigentlich abstimmte, denn Cummings, Michael Gove und Johnson wollten keine 'nicht zu gewinnende' Debatte. 'Euroskeptische Gruppen waren schon seit Jahren über den Brexit gespalten', hatte Cummings gesagt, und die Briten mussten es auf ihre Kosten lernen."

Die Brexit-Entscheidung selbst war überdies auf fatale Weise paradox. Sie sollte parlamentarische Souveränität wiederherstellen, wurde aber mit einem außerparlamentarischen Mittel erzielt, schreibt der Historiker Andreas Wirsching in einem Essay für den politischen Teil der FAZ: "Die Propaganda für den Brexit nutzte das Argument, das supranational gesetzte europäische Recht verletze die Souveränität des britischen Parlaments. Umgekehrt erhoffen sich die Brexiteers vom Austritt aus der EU die Wiederherstellung der uneingeschränkten parliamentary sovereignty. Paradoxerweise aber begann die Brexit-Geschichte mit einer flagranten Durchbrechung ebendieses geheiligten parlamentarischen Prinzips." Und "der vorläufig letzte Akt dieses Dramas", so Wirsching bereits am Anfang seines Artikels, "lautet Funktionsverlust und Selbstlähmung der Demokratie".

Sebastian Kurz "hat seine politischen Gegenspieler nicht besiegt, er hat sie deklassiert", meint Ferdinand Otto auf Zeit online anlässlich des deutlichen Wahlsiegs der ÖVP bei der Nationalratswahl in Österreich. "Von einem Sieg für die ÖVP waren alle ausgegangen. Von der Deutlichkeit sind nun selbst die Parteioberen überrascht. Er sei 'ein Stück sprachlos', sagt Kurz als er etwa eine Stunde nach der ersten Hochrechnung vor seine Anhänger tritt. 'Wir haben mit einem guten Ergebnis gerechnet, aber nicht so ein Ergebnis erwarten können.' Der Jubel der Parteibasis im noblen Kursalon Hübner in der Wiener Innenstadt ist ohrenbetäubend. Kurz müht sich, keine Triumph-Stimmung aufkommen zu lassen: 'Wir werden sehr behutsam mit dem Vertrauen umgehen.'" Das kann er dann in den Koalitionsverhandlungen zeigen, die schwierig werden, wie Otto skizziert.

Die FPÖ hat dagegen bei der Wahl rund zehn Prozentpunkte verloren, berichtet Anneliese Rohrer auf Zeit online. Man sollte sich nicht zu früh freuen, ein Auf und Ab sei bei der in innerparteiliche Kämpfe verstrickten FPÖ normal, warnt Rohrer. Aber vielleicht ziehen die anderen Parteien und die Medien die Lehren, die sie schon während der ÖVP-FPÖ-Koalition 2000-2006 hätten ziehen können, hofft sie: "Die notwendigen Lehren wären gewesen: in klarer und für die Mehrheit des Wahlvolkes verständlicher Form Grenzüberschreitungen aufzeigen und konsequent rote Linien ziehen, sie nicht schweigend tolerieren und auf Vergesslichkeit hoffen. Provokationen als das entlarven, was sie sind, ihnen keine bis wenig publizistische Verbreitung gönnen. Halbwahrheiten auf ihren wahren Kern überprüfen, diesen aufgreifen und tatsächliche Probleme einer Lösung zuführen. Vor allem aber von Rechtspopulisten selbst entsprechende Lösungen einfordern. Dann würde sich bald und öffentlichkeitswirksam zeigen, dass sie kaum welche haben."

In der NZZ macht die Soziologin und Migrationsforscherin Sandra Kostner die "identitätslinke Läuterungsagenda" verantwortlich für ein zunehmend repressives Klima, in dem die Herausforderungen für Migrationsgesellschaften kaum noch diskutiert werden könnten: "Je mehr die spalterische Identitätspolitik von linker Seite vorangetrieben wird, desto mehr profitiert davon ihr rechter Gegenpol, weil ihm so weitere sich abgewertet fühlende Wähler zugetrieben werden. Wer definitiv nicht vom identitätspolitischen Machtkampf zwischen links und rechts profitiert, ist die freiheitlich verfasste Migrationsgesellschaft."
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Gesellschaft

In Frankreich debattiert man anlässlich eines neuen Bioethik-Gesetzes über die Frage, zu wem die Kinder von Leihmüttern gehören. Bisher hatten gehörten sie zu den Müttern, die sie geboren haben, doch dieser Grundsatz wurde in den letzten Jahren peu a peu aufgeweicht. Die Philosophin Sylviane Agacinski findet das mehr als problematisch, berichtet Joseph Hanimann in der SZ: "Einen 'Markt des Fleischs', schreibt sie [in ihrem Traktat "L'homme désincarné: du corps charnel au corps fabriqué (Der entleibte Mensch: vom fleischlichen zum gemachten Körper, d. Red.], habe es in Form der Prostitution schon immer gegeben. Dank Biotechnologie und Wirtschaftsglobalisierung habe er sich aber zu einem 'Mutterschaftsmarkt' ausgeweitet. Dem Neoliberalismus könne dieser Schluss nur willkommen sein."
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Medien

Erst war es ein Verbrechen, dass Google Snippets aus Presseartikeln anzeigte, nun ist es ein Verbrechen, dass es keine Snippets mehr anzeigen will, weil der Konzern kein Geld für Leistungsschutzrechte zahlen will. In Frankreich, wo das EU-Urheberrecht zuerst umgesetzt wird, hat Google angekündigt, auf Snippets verzichten zu wollen (unsere Resümees). "Passt den Silicon-Valley-Konzernen etwas nicht ins Geschäft, ziehen sie alle Register, um zu zeigen, wer am längeren Hebel sitzt", klagt Michael Hanfeld in der FAZ. Und schlägt nun eine Kooperation mit den sonst so harsch kritisierten Öffentlich-Rechtlichen vor: "Die Verlage sollten sich überlegen, ob nicht sie den Plan einer europäischen Plattform im Netz, den der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm seit längerem propagiert, in die Tat umsetzen. Wie wäre es mit 'News' ohne Google News?" Die Öffentlich-Rechtlichen würden sicher gern ein bisschen von den Gebühren an die Zeitungen überweisen...
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Politik

Nach der Aberkennung des Nelly-Sachs-Preises für die Autorin Kamila Shamsie, die der Isralboykottbewegung BDS nahesteht, verteidigt Stefan Reinecke diese Organisation in der taz: "Die Netanjahu-Regierung bereitet völkerrechtswidrig die Annektierung eines Teils des Westjordanlandes vor - die Anti-BDS-Aktionen der Regierung sollen Kritik an der Besatzung als illegitim diffamieren. In Deutschland kreist die Debatte indes über das Kampfwort Antisemitismus. Das ist naheliegend, aber unterkomplex. Man dürfe, heißt es großzügig, die israelische Regierung kritisieren. Doch wer das entschlossen tut, wird schnell als antisemitisch disqualifiziert."

Außerdem: In einem Brief aus Hongkong für die Welt fragt der Aktivist Joshua Wong, warum Deutschland eigentlich immer noch Entwicklungshilfe an China zahlt.
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Ideen

Klimabesorge Antiindividualisten wie die Wissenschaftshistorikerin Donna J. Haraway sehen in Quallen das neue Vorbild für ein friedliches teambasiertes Zusammenleben mit der Natur, erklärt auf Zeit online der luxemburgische Schriftsteller Samuel Hamen. "Das Quallenleben scheint eine vergleichsweise zivile Variante der Kollektivität zu sein, ein Quallenschwarm ist keine dumpf vereinte, potenziell aggressive Meute, sondern im besten Sinne symbiotisch. Andererseits zeigt sich hier auch eine Schwachstelle der Quallenliebhaberei: So suggestiv die Vorstellung einer Quallifizierung der Welt für etliche Schriftsteller und Theoretikerinnen sein mag, so tauglich die Qualle als Metapher für 'Antimensch', so sehr schwächeln die Schriften darin, eine überzeugende Ethik der Gruppenbildung zu skizzieren, die von Quallen auf menschliche Gemeinschaften übertragbar wäre, ohne jeden individuellen Affekt zu negieren. Womöglich ist die tiersymbolische Wachablösung dennoch in vollem Gange: weniger Willy, mehr Qualle, weniger einsamer Wolf, mehr Rudel."

Ebenfalls auf Zeit online denkt Christoph Drösser über den neuen Quantencomputer von Google nach, der offenbar kein Computer ist, sondern ein "Chip namens Sycamore ..., auf dem 53 Qubits arbeiten, das ist das Quantenäquivalent zu den herkömmlichen Bits. Während Letztere immer den Wert 1 oder 0 annehmen, kann ein Qubit aufgrund seiner Quanteneigenschaften in einem Überlagerungszustand verharren und erst am Ende der Rechnung einen der beiden Werte annehmen. Dadurch lassen sich theoretisch eine Reihe von mathematischen Problemen viel schneller lösen als auf herkömmlichen Computern."
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Stichwörter: Quallen, Quantencomputer, Google

Internet

Attacken gegen Frauen sind in sozialen Medien oft um einiges härter als Attacken gegen Männer, weil sie nicht selten aufs Sexuelle zielen, sagt die Journalismusforscherin Margreth Lünenborg im taz-Interview nach dem Urteil gegen Renate Künast, das Beleidigungen und Drohungen nicht als solche anerkannte: "Die Aggression und Frauenfeindlichkeit, die wir im Netz erleben, entsteht nicht im Netz. Hier wird nur sichtbar, was gesellschaftlich vorhanden ist. Aber dass es so massiv sichtbar wird, hat Folgen. Zahlreiche Frauen, seien es Politikerinnen oder zivilgesellschaftlich Engagierte, erleben verbale Hassattacken. Das kann, wenn Adressen kursieren, auch objektiv bedrohlich sein. Es gehört ein immenses Maß an Stabilität und Gelassenheit dazu, sich dem auszusetzen. Jede Frau muss überlegen, ob sie das aushalten kann."
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