9punkt - Die Debattenrundschau

Bring mir drei Bucheckern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2021. Thomas Friedman sagt in der New York Times einen sehr kalten Winter voraus: Schuld ist auch Angela Merkel. Mithu Sanyal formuliert in der Zeit die Lösung aller Menschheitsprobleme: Kinder in Waldkindergärten und Abschaffung der Bundeswehr. In der SZ erläutert der Psychologe Gerd Gigerenzer das sogenannte "Privatsphären-Paradox". SZ und Welt erklären nach dem antisemitischen Vorfall in Leipzig auch nochmal: Die israelische Flagge ist nicht das Symbol des Judentums. In der Welt spricht Timothy Snyder über das Massaker von Babyn Jar, das eine neue Dimension des Mordens eröffnete. Der Falter erzählt, wie sich österreichische Zeitungen schmieren lassen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.10.2021 finden Sie hier

Europa

Vor einem Jahr hat nahe Paris ein Islamist dem Lehrer Samuel Paty mit einem Messer den Kopf abgeschnitten. Das Problem des Islamismus unter französischen Schülern ist nicht bewältigt, fürchtet Anant Agarwala in der Zeit: "Es gibt nur wenige belastbare Zahlen, die Hinweise darauf geben, wie verbreitet radikale Einstellungen unter Schülern sind. Die, die es gibt, sind allerdings alarmierend. In einer Studie des französischen Forschungszentrums CNRS gab jeder vierte muslimische Oberstufenschüler an, die Anschlagsserie des 13. November nicht komplett zu verurteilen; für das Attentat auf Charlie Hebdo galt dies sogar für 45 Prozent. Einer anderen Studie zufolge, ebenfalls durchgeführt vom CNRS, stellen 68 Prozent der muslimischen Schüler der Sekundarstufe I ihre Religion über das Gesetz."

Miodrag Soric erinnert in der Deutschen Welle an Anna Politkowskaja, die vor 15 Jahren ermordet wurde: "Selbst 2006, im Jahr ihrer Ermordung, bestand noch Hoffnung, dass Russland sich zu einer Demokratie entwickeln könnte. Es gab Anfänge einer Bürgergesellschaft. Wer Russland liebt, den schmerzt es zu sehen, was aus dieser Hoffnung geworden ist. Russland entwickelte sich zu einer Diktatur."

So richtig traut Christina Morina, als Historikerin Expertin für die Sozialdemokratie, im Interview mit der FR der SPD einen richtigen Wandel nicht zu. Dafür fehlten ihr inspirierende Köpfe und eine Vorstellung von der Zukunft. Vielleicht klappt es, wenn sie sich auf ihre DNA besinnt? "Nur wem es gelingt, unsere heutige globale, klimabedrohte und unglaublich komplexe Welt als Matrix verstehbarer zu machen, kann auch glaubhaft behaupten, sie verändern und nach eigenen Werten gestalten zu können. Die SPD könnte sich auch mal in diesem Sinne auf ihre Anfänge berufen und sich fragen, ob sie überhaupt die richtigen Fragen stellt - Geschichtsbewusstsein also nicht zur Selbstbeschau, sondern als echte intellektuelle Inspirationsquelle. Denn ich fürchte, dass die Partei seit langem nicht wirklich weiß, was ihre Gegenwarts- und vor allem auch Zukunftserzählung sein soll. Dafür müsste sie sich viel stärker in die Wissenschaft, die intellektuellen und künstlerischen Diskurse einklinken."

In der NZZ denkt der italienische Philosoph Maurizio Ferraris darüber nach, wie sich Umwelt und Liberalismus zusammendenken lassen: "Wir können und müssen die Produktion weiter automatisieren, nicht etwa aus ethischen, aber aus wirtschaftlichen Überlegungen. Eine Maschine ist immer einträglicher und produktiver als ein Mensch. Einzig den Konsum können wir nicht automatisieren, der allein dem Menschen eigen ist. Es ist darum der Schutz des Konsums, um den wir uns vor allen Dingen kümmern müssen. Nur gut ernährte und gebildete Menschen mit hoher Lebenserwartung, also Konsumenten von Nahrungsmitteln, Pflege und Kultur, können die Umwelt respektieren und haben vor allem gute Gründe und ein Interesse, es auch zu tun."

Außerdem: Nach der Assemblée nationale hat nun auch der Senat in Frankreich der IHRA-Definition des Antisemitismus in einer Resolution zugestimmt, meldet Le Point.
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Medien

"Inserate für politische Willfährigkeit": Zeitungen schimpfen gern auf das böse Internet. Aber Zeitungen können auch Teil eines korrupten Netzwerks von Medien und Politik sein. Dazu ermittelt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in Österreich, berichtet Florian Klenk im Falter: "Der Kanzler und seine Neue Volkspartei sollen sich wohlwollende Berichterstattung über sich selbst und die ÖVP erkauft haben. Mit Steuergeld. Seit Jahren spricht die Öffentlichkeit von dieser Form der Medienkorruption, also dem Zugriff der Mächtigen auf die Inhalte von Zeitungen. Sie dient zwei Seiten: den Politikern, weil sie gut wegkommen und gewählt werden. Und den Medienmanagern, weil sie abkassieren. Das Opfer dieses Verbrechens: die Republik, und damit die Steuerzahler. Sie finanzieren ihre eigene Desinformation."
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Geschichte

Vor achtzig Jahren verübten die Deutschen das Massaker von Babyn Jar. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat aus diesem Anlass in Kiew eine Rede gehalten. Im Gespräch mit Clemens Wergin von der Welt erläutert der Historiker Timothy Snyder ("Bloodlands"), dass auch schon in diesem "Holocaust durch Kugeln" jene technisch-organisatorische Dimension steckt, die zur Singularität des Holocaust gehört. "Zunächst einmal war es nur möglich durch institutionelle Kooperation. Weil nicht nur die SS-Einsatzgruppen involviert waren. Bei jedem großen Massaker war auch die Ordnungspolizei dabei, ohne deren massive Beteiligung wäre das nicht möglich gewesen. Und in Babyn Jar war auch die Wehrmacht beteiligt, die die Versammlungsposter gedruckt hat und Nachschub zur Verfügung stellte. Dann gab es noch Unterstützung durch lokale Kräfte, die im Laufe der Zeit eine größere Rolle spielten. Und so sehen die Deutschen, dass sie das tatsächlich tun können, und berichten es zurück nach Berlin." Snyder kritisiert in dem Gespräch die mangelnde Empathie der notorisch russophilen Deutschen für die Ukraine und Belarus und hofft, dass die Rede Steinmeiers einen Einschnitt bewirkt.
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Gesellschaft

In der Welt schüttelt Johannes Boie den Kopf über den Versuch des Westin Hotels, den Skandal um die Behandlung des Sängers Gil Ofarim (unser Resümee) klein zu halten, indem man Israel-Flaggen neben einem islamischen Halbmond auf ein Banner vor dem Hotel druckte: "Die israelische Flagge, die das Hotel zeigte, steht für einen Staat. Nicht für das Judentum. Gil Ofarim ist kein Tourist aus Israel. Er ist in München geboren, er ist hier nicht zu Gast. Die Mondsichel wiederum ist ein traditionelles muslimisches Symbol. Richtig ist, dass viele Muslime mit Alltagsrassismus zu kämpfen haben, dass es Attacken und Übergriffe gegen sie gibt, gegen die die Gesellschaft aufstehen muss. Falsch ist, alles in einen Topf zu werfen. Wenn ein Jude wegen seiner offen gezeigten Zugehörigkeit zum Judentum diskriminiert wird, geht es um Antisemitismus, und sonst um nichts."

Kein Wunder, dass der Antisemitismus hierzulande schleichend steigt, meint auch Moritz Baumstieger in der SZ, "auch, weil bei anderen, die sonst zu vielen Themen ihre Stimme erheben, die Logik greift, die das Banner des Leipziger Hotels illustrierte: Solidarität mit jemandem, der entfernt etwas mit Siedlungspolitik und Raketen auf Gaza zu tun haben könnte, nur weil die den Holocaust leugnende Hamas zuvor ein paar Raketen auf Israel feuerte? Muss ja nicht." Baumstieger erinnert auch daran, dass Ende September ein Jude in Hamburg nach einer Mahnwache gegen Antisemitismus zusammengeschlagen worden war, worüber außer der Bild-Zeitung praktisch niemand berichtet hatte.

Durch die Corona-Pandemie ist die Zahl der computerspielsüchtigen Jugendlichen stark angestiegen, sagt der Psychiater Rainer Thomasius im Gespräch mit David Lindenfeld von der FAZ. Als Symptome nennt er: "Eskalierende Nutzungszeiten, ein verändertes Kontaktverhalten, ein Umschiffen und Unterwandern der elterlichen Kontrollbestrebungen, launische Reaktionen, wenn der Medienzugang verwehrt wird, Nachlässigkeit gegenüber anderen Freizeitaktivitäten und eine verschobene Tagesstruktur, weil teilweise bis in die Nacht hinein am Computer gespielt wird."
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Kulturpolitik

Morgen eröffnet die Isarphilharmonie, ursprünglich nur ein Ersatzort für den Gasteig, der renoviert wird. Aber die Stadt München lässt sich nicht lumpen. Zumal der Freistaaat Bayern ja auch noch ein Konzerthaus baut, im Werksviertel am Ostbahnhof. Hannes Hintermeier ist in der FAZ von all dieser Großzügigkeit begeistert, gibt aber zu bedenken: "Auch in München wächst das junge Publikum nicht automatisch nach, und wenn, bindet es sich nicht leicht mit Abonnements an bestimmte Häuser."
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Politik

Thomas Friedman sagt in der New York Times angesichts der akuten Energiekrise, von der nur Putin und die Scheichs profitieren, einen sehr sehr kalten Winter voraus. Viele werden es sich tatsächlich nicht leisten können zu heizen. Schuld ist auch Angela Merkel: "Leider hat Deutschland 2011 in einer Überreaktion auf den Atomunfall in Fukushima beschlossen, bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen - Kernkraftwerke, die im Jahr 2000 29,5 Prozent des deutschen Stromerzeugungsmixes erzeugten. All das muss durch Wind-, Solar-, Wasser- und Erdgaskraftwerke ersetzt werden, und davon gibt es derzeit einfach nicht genug."
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Ideen

Herfried Münkler verabschiedet in der Zeit mal wieder die Idee des Universalismus - ab jetzt gelte das Eigeninteresse. Afghanistan hat's gezeigt: "Die heutigen Proteste afghanischer Frauen gegen ihre Repression durch das Talibanregime zeugen von der Dimension des Humanitären und Emanzipatorischen bei dieser Intervention. Sie stehen dafür, dass es dem Westen nicht nur um seine eigenen Interessen ging. Umso tragischer ist es, dass diese Frauen politisch keine Erfolgschance mehr haben." Aber die Frauen müssen sich mal Folgendes klarmachen: "An die Stelle der Idee einer auf universellen Werten beruhenden globalen Ordnung tritt nämlich eine Vorstellung von Einflusszonen, von 'Großräumen' im Sinne Carl Schmitts."

Auch Mithu Sanyal entwickelt in der Zeit Perspektiven für künftige Politik. Ihre Forderung Nummer 1: Alle Kindergärten sollen in den Wald verlegt werden: "In Schweden kommen Kinder erst mit sieben Jahren in die Schule und verbringen die verlängerte Kindergartenzeit zu einem großen Teil in den schwedischen Wäldern, wo sie anhand von Blättern und Ästchen das Zählen und die Grundrechenarten lernen: Bring mir drei Bucheckern, und jetzt drei mehr. Deshalb fordere ich: auch in Deutschland Waldkindergarten für alle bis zum siebten Lebensjahr! " Außerdem schlägt Sanyal vor, Gehälter bei 200.000 Euro zu kappen und die Bundeswehr abzuschaffen: "Die größte Gefahr für Deutschland lauert nicht an unseren Grenzen, sondern in der Klimakrise."
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Überwachung

Der Psychologe Gerd Gigerenzer hat gerade ein Buch veröffentlicht -  "Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen" (Alexander Armbruster bespricht es heute in der FAZ, mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr) - das sich skeptisch mit den Folgen der Digitalisierung auseinandersetzt. Vor allem die neuen Überwachungsmöglichkeiten ängstigen ihn. Er würde es vorziehen, für Internetdienste zu bezahlen, erklärt er im Interview mit der SZ, dann wäre es mit dem Überwachungskapitalismus vorbei. Verhindert wird dies jedoch durch "das sogenannte Privatsphären-Paradox. Die meisten Deutschen machen sich Sorgen um ihre Privatsphäre und ihre Daten. Eine repräsentative Studie von uns hat ergeben, dass dennoch 75 Prozent der Deutschen nicht einmal einen Euro dafür ausgeben würden, wenn sie ihre Daten nicht hergeben müssten. Obwohl sich die Leute in Deutschland stärker als in anderen europäischen Ländern bewusst sind, dass private Dienstleister ihre privaten Daten sammeln und auswerten. Wenn man nicht bereit ist, für seine Privatsphäre ein paar Euro im Monat zu bezahlen, dann willigt man freiwillig in ein digitales Überwachungssystem ein, das man in anderen Ländern wie China verteufelt."
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