9punkt - Die Debattenrundschau

Platz für eine Portion Buchweizengrütze

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2021. Tschechien geht nicht den Weg Polens oder Ungarns, freut sich die SZ nach der Wahlniederlage Andrej Babiš'. Und die Polen lassen die Regierung Polens auch nicht in Ruhe, berichtet die SZ nach den großen Pro-EU-Demos in Polen.  Der Dlf erklärt, warum man in Österreich von "Anzeigenkorruption" spricht. Der Standard untersucht das Ausmaß dieser Korruption. Die FAZ liest den Abschlussbericht zur sexuellen Gewalt in der Katholischen Kirche Frankreichs: 330.000 Opfer.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.10.2021 finden Sie hier

Europa

Tschechien geht nicht den Weg Polens oder Ungarns, freut sich in der SZ Viktoria Großmann, begeistert von einem Wahlkampf, den der amtierende Ministerpräsident Andrej Babiš, gegen den strafrechtlich ermittelt wird, gegen eine breite Koalition von links bis konservativ verloren hat: "Dass dies nun gelungen ist, ist auch ein überragender Sieg der Zivilgesellschaft. Aus einer Aktion von ursprünglich drei Studenten ist eine Bewegung entstanden, die das gesamte Land erfasste. Die Organisation 'Eine Million Augenblicke für die Demokratie' brachte Hunderttausende zu den größten Kundgebungen seit 1989 zusammen. Sie beließen es aber nicht beim Demonstrieren. Es gründeten sich Diskussionsforen, mit Begeisterung schlossen sich prominente Dissidenten aus der Zeit des sozialistischen Regimes an, Stadt und Land, Rentner und Auszubildende kamen zusammen."

Aber auch in Polen gibt es Widerstand gegen die Regierung und das umstrittenes Urteil des Verfassungsgerichts, das polnisches Recht über EU-Recht stellt. Mehrere zehntausend Menschen haben landesweit gegen das Urteil und für einen Verbleib Polens in der EU protestiert, meldet die SZ. "Zu den Protesten aufgerufen hatte der ehemalige EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk. Bei seinem Auftritt vor den Demonstranten in Warschau sagte er, die nationalkonservative Regierungspartei PiS rede schon nicht mehr drumherum, dass sie das Land aus der EU führen wolle. 'Der Platz Polens ist in Europa', so Tusk. 'Wir werden gewinnen, denn wir sind mehr!' Sowohl Tusk als auch andere Redner wurden immer wieder durch laute Zwischenrufe und Sprechchöre aus einer Gegendemonstration rechtsnationaler Gruppierungen unterbrochen."

Andrej Dynko, Redakteur der belarussischen Zeitschrift Nascha Niwa, ist in Haft geraten, weil er einem politischen Chat folgte. In der FAZ schildert er nach seiner Freilassung die Zustände in den belarussischen Gefängnissen. Seine ersten Eindrücke von den Zellen sind der Gestank nach Fäkalien und Urin und das grelle Licht, das auch nachts nicht ausgeschaltet wird. Die Pritschen sind ohne Matratzen: "Wenn viele Menschen in einer Zelle sind, frühstücken die einen mit Heißhunger, während die anderen nur einen Meter entfernt ihren Darm entleeren, um Platz für eine Portion Buchweizengrütze und eine Scheibe Brot zu schaffen. Schwarzbrot ist so zäh wie Lehm, Weißbrot ist trocken und bröckelig. Beide sind ohne Geschmack. Einmal alle paar Tage eine viertel Tomate, einmal alle paar Tage eine halbe Gurke. Ein anderes Mal ein Löffel Sauerkraut. Nach ein paar Tagen sehnt man sich körperlich nach Vitaminen, aber es gibt keine. Du träumst von Äpfeln."

In der Ukraine fühlt man sich der Demokratie, Europa und dem Westen verbunden, gleichzeitig wächst der Frust, dass die EU - und besonders Deutschland - dies nicht würdigt, um Russland bei Laune zu halten, erzählt Richard Herzinger in der NZZ. Der massive russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und auf der Krim im Frühjahr, die quasi von den Russen blockierten Verhandlungen über den Donbass, die wachsende Kontrolle Putins über Belarus, führten bisher zu keinerlei Konsequenzen von Seiten der EU. Das muss sich ändern, fordert Herzinger: "So unzulänglich die ukrainische Demokratie noch sein mag, sie gegen Putins imperialen Autoritarismus zu verteidigen, ist für die Zukunft des gesamten demokratischen Europa von entscheidender Bedeutung. Was die Ukraine jetzt dringend braucht, sind überzeugende Signale, dass es der Westen mit seinem Beistand tatsächlich ernst meint. Weil die Ukraine an vorderster Front der Verteidigung der ganzen freien Welt steht, wäre der nächstliegende Schritt, sie zügig in die westliche Verteidigungsallianz aufzunehmen. Damit würden sich für den Kreml der Preis und das Risiko für die Fortsetzung seiner Aggressionspolitik drastisch erhöhen."

Britannien hat hunderttausend Lastwagenfahrer verloren. Nun sollen Kurzzeitvisa für fünftausend Fahrer das Problem beheben. Natürlich ist diese Krise eine Folge des Brexit, schreibt Thomas Gutschker in der FAS: "Johnson und seine Freunde wollten ja die Migration stoppen, nicht etwa aus Pakistan oder Nigeria, sondern aus Polen und Litauen. Zuvor waren die Ostmitteleuropäer mit offenen Armen empfangen worden, Hunderttausende Menschen kamen auf die Insel. Sie übernahmen harte, gering bezahlte Jobs, zu denen Briten nicht bereit waren."

Sebastian Kurz tritt als österreichischer Bundeskanzler zurück, um Fraktionsvorsitzender der ÖVP zu werden. Ralf Leonhard schildert die Aufstieg und (relativen) Fall Kurz' in der taz als Drama in fünf Akten. "Es geht um Untreue, Bestechung und Anstiftung zur Bestechung. Im Falle einer Verurteilung drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die Grünen setzen dem Koalitionspartner das Messer an. Sie wollen nur mit einer 'untadeligen Person' weiterregieren. Kurz vergattert darauf Bünde, Landeshauptleute, Minister und Abgeordnete, ihm schriftlich ihre unverbrüchlichen Treue zu versichern."

Die Korruption besteht unter anderem darin, dass Kurz und seine Leute Zeitungen geschmiert haben sollen, um positive Berichterstattung zu bekommen. Mit den Zeitungen und der Politik ist es ohnehin so eine Sache in Österreich, berichtet der Deutschlandfunk: "Unter 'Anzeigenkorruption' versteht man in Österreich das Schalten staatlicher Anzeigen in privaten Medien. Die österreichische Regierung ist schon lange dafür bekannt, im europäischen Vergleich besonders viel Geld für Anzeigen auszugeben." Der Standard nennt in einem sehr instruktiven Artikel Zahlen dazu: "Kaum ein anderes Land gibt so viel Geld für Regierungswerbung aus wie Österreich. Rund 47,5 Millionen Euro waren es im Vorjahr - ein absoluter Höchstwert seit Einführung der Meldepflicht. Zum Vergleich: Im etwa zehnmal größeren Deutschland verbuchte die Regierung vergangenes Jahr dafür rund 150 Millionen." Gibt es auch in Deutschland eine Meldepflicht?
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Kulturpolitik

Claudius Seidl begeht für die FAZ nochmal die Replik des Berliner Stadtschlosses, heute bekanntlich unter anderem ein ethnologisches Museum mit Exponaten umstrittener Provenienz, und er kann sich des Verdachts nicht erwehren, "dass eine der fremdesten und am wenigsten verstandenen Herkunftskulturen hier die des preußischen Barocks ist, jene Gesellschaft also, deren Herrscher um das Jahr 1700 herum über genügend Macht und Reichtum verfügten, diesen riesigen Kasten in die noch relativ kleine kurfürstliche Residenzstadt zu stellen, raumgreifend zwischen Spree und Kupfergraben, wo vorher nur ein Renaissanceschloss von moderater Größe stand."
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Religion

Michaela Wiegel porträtiert in der FAS Jean-Marc Sauvé, einst Präsident des höchsten Verwaltungsgerichts in Frankreich, dem Conseil d'État, der die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche des Landes leitete. Die im Abschlussbericht benannten Verbrechen sind so bestürzend wie in anderen Ländern: "Er habe sich nicht vorstellen können, wie groß das Ausmaß sexueller Übergriffe war und wie schwer die Leiden der Opfer. Die 'Minimalschätzung' belaufe sich auf 2.900 bis 3.200 Priester, Diakone oder Mönche, die sich sexuell an Minderjährigen vergingen. Opfer waren zu 80 Prozent Jungen. Die Zahl der Betroffenen pro Täter wird auf 64 bis 67 geschätzt. In den seltensten Fällen gab es Konsequenzen. Weitet man den Täterkreis auf Mitarbeiter kirchlicher Aktivitäten bei Ferien- und Freizeitlagern oder im Katechismus aus, steigt die Opferzahl auf 330.000 Kinder und Jugendliche. In fast einem Drittel der Fälle handelte es sich um Vergewaltigungen."
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Ideen

Im Gespräch mit Florian Chefai und Jonas Pöld von hpd.de kritisiert Hamed Abdel-Samad auch linke Identitätspolitik: "Da spielt es wieder eine Rolle, ob man weiß oder schwarz, Migrant oder einheimisch, links oder rechts ist. Statt solch eindimensionale Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen, werden sie zusätzlich zementiert. Der Antirassismus sollte ja eigentlich genau das Gegenteil davon tun. Er sollte Brücken bauen, keine Mauern. Er sollte ideologische Grabenkämpfe überwinden und den Menschen als Individuum würdigen und ermächtigen. Doch oft bedienen sich Antirassisten der gleichen Mittel wie die Rassisten selbst, indem sie Menschen in Gruppen aufteilen und sie auf ihre ethnische oder religiöse Zugehörigkeit reduzieren."
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Medien

Auch so eine Meldung, hier in der Jerusalem Post: "Die BBC bezeichnete Alfred Dreyfus - einen französisch-jüdischen Offizier, der im Rahmen der Dreyfus-Affäre des Hochverrats beschuldigt wurde - in ihrer Zusammenfassung der ersten Folge eines historischen Polizeidramas, die am 9. Oktober veröffentlicht wurde, als 'berüchtigten jüdischen Spion': 'Paris, 1899. Die französische Republik ist in Aufruhr, als Gerüchte über die Freilassung von Dreyfus, dem berüchtigten jüdischen Spion, von der Teufelsinsel aufkommen', heißt es in der Zusammenfassung von Folge 1 der BBC-Serie 'Paris Police 1900'. Nach Angaben der BBC wurde die Zusammenfassung später geändert, um Missverständnisse zu vermeiden."
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Stichwörter: Bbc, Spio

Internet

Facebook ist in vielen ärmeren Ländern, in denen das Internet für die Mehrheit praktisch nicht existiert, inzwischen zu einem Ersatz geworden. Dass es diesen Ersatz zur Propagierung diverser eigener Dienste nutzt, empört - wie so viele andere Kommentatoren - auch Michael Moorstedt in der SZ. Dass Facebook kürzlich für einige Stunden nicht erreichbar war, ist für ihn der Gipfel: "Wenn der Konzern die ohnehin schon drängenden Probleme nicht gelöst bekommt, dann sollte er vielleicht nicht unbedingt kritische Infrastrukturen bereitstellen", schreibt er. Wer das sonst tun könnte, sagt er allerdings nicht. Vielleicht deutsche Medienkonzerne?
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