Efeu - Die Kulturrundschau

Die überaus ergiebige Praxis der Aneignung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2021. So hingerissen wie verstört kommen taz, SZ und Nachtkritik aus der Performance von Angélica Liddell, die sie als Europas wütendste Theaterkünstlerin verehren. In der NZZ versucht Sergej Lebedes die russische Zeit wieder aufzutauen. Critic. de lässt sich auf dem Underdox-Festival von Norbert Pfaffenbichlers Bilderfluten umspülen. Der Standard erlebt in der Wiener Albertina die Wiederkehr der unintellektuellen Achtziger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.10.2021 finden Sie hier

Kunst

Franz Gertsch: Irène, 1980. Foto: Olbricht Collection

Die Achtzigerjahre sind auf dem Kunstmarkt wieder sehr angesagt. Im Standard erlebt Olga Kronsteiner die entsprechende Ausstellung in der Wiener Albertina auch als herrlich buntes Panoptikum, das jedem Minimalismus oder Intellektualismus eine Absage erteilt: "Da wäre der Aufstieg von Street Art und Graffiti (Keith Haring), der das Kunstverständnis demokratisiert. Da wären Trivialitäten und Kitsch (Jeff Koons), die überhöht oder auch subversiv (Franz West) formuliert als Attacke auf die Hochkultur ihre Legitimation erlangen. Und schließlich der Neoexpressionismus: Er breitet sich in zig Spielarten aus - mal abstrakt (Herbert Brandl, Hubert Scheibl), dann wieder figurativ (Siegfried Anzinger, Hubert Schmalix), jedenfalls wild und impulsiv wie auch im Rückgriff auf historisches Quellenmaterial (Julian Schnabel, David Salle). Die überaus ergiebige Praxis der Aneignung durch die Appropriation Art wäre ebenfalls nicht zu vergessen."

Weitere Artikel: Schick, schick findet auch Laura Weißmüller in der SZ den Bau, mit dem David Chipperfield das Kunsthaus Zürich erweitert hat (mehr hier). Aber das Haus macht sich dadurch angreifbar, meint sie, dass es die Sammlung des berüchtigten Waffenhändlers Emil Bührle so verharmlosend präsentiert, der sich mit seinem Riesenvermögen und seinen Impressionisten in die Zürcher Kunstgesellschaft einkaufte. In der FR lobt sich Judith von Sternburg das Projekt "Invisible Inventories", für das die Kunstkollektive The Nest (Kenia) und Shift (Deutschland /Frankreich) die Depots deutscher Museen inspizieren und das derzeit im Museum Weltkulturen in Frankfurt gastiert.

Besprochen werden die Ausstellung "Maschine im Stillstand" der spanischen Künstlerin Cristina Lucas in den Kunstsammlungen Chemnitz (FAZ) und die Ausstellung "Die Liste der 'Gottbegnadeten'" über das Fortleben der Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik" im Deutschen Historischen Museum (SZ).
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Bühne

Angélica Liddell beim FIND Festival. Foto: Christophe Raynaud de Lage/Schaubühne

So begeistert wie ergriffen zeigt sich Barbara Behrendt in der taz von Angélica Liddells radikaler Performance beim FIND-Festival an der Berliner Schaubühne, bei ZuschauerInnen ohnmächtig aus der Schaubühne getragen werden musste, wie Behrendt berichtet: "Liddell beschwört die Theokratie, die überrationalisierte Welt habe die Menschen zu Idioten gemacht. Ihre Worte sind voller Poesie und Furor ... Ihr Ziel ist nicht Provokation - und doch darf man sich von der zweiten Festivaleinladung provoziert fühlen: 'The Scarlett Letter' spielt auf Nathaniel Hawthornes Roman an, der die Prüderie der Gesellschaft um 1850 beklagt. Die Inszenierung ist nicht deshalb provokant, weil einer der zehn nackten Männer der Performerin demonstrativ einen Finger in die Vagina schiebt oder sie den Penis eines anderen genussvoll in den Mund nimmt. Sondern weil Liddell das Loblied auf den Mann als solchen singt, dem sie bis in alle Ewigkeit die Füße küssen möchte."

In der SZ betont Peter Laudenbach, dass Europas wütendste Theaterkünstlerin in der Tiefe ihrer Seele eine Moralistin sei: "Liddell steigert sich in einen immer aberwitzigeren Furor, in dem sie von wohlerzogenen französischen Schulmädchen (die sie auf der Bühne am liebsten 'von unten bis oben aufschlitzen' würde) bis zum laizistischen Staat so ziemlich alles zum Teufel wünscht und sich zu reaktionär schillernden Anti-Utopien versteigt ('Ich fordere eine Theokratie'). Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Hasstiraden des Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard und ist bei allem durchaus ernst gemeinten Hass immer wieder genauso komisch wie Bernhards Ausfälle." In der Nachtkritik verehrt Gabi Hift Liddell eher als "Hohepriesterin der bildschönen Theaterverstörung".

Besprochen werden außerdem Sivan Ben Yishais neues Stück "Like Lovers Do" an den Münchner Kammerspielen (SZ, Nachtkritik), das Radar Ost Festival am Deutschen Theater Berlin (Nachtkritik), "Victor/Victoria" am Staatstheater Main (FR), Alban Bergs "Wozzeck" am Staatstheater Kassel (FR), der letzte Teil von Hilary Mantels Trilogie um Thomas Cromwell an der Royal Shakespeare Company (FAZ) und der letzte teil von Hakan Savaş Micans Berlin-Trilogie "Berlin Karl Marx Platz" an der Neuköllner Oper (Tsp).
Archiv: Bühne

Literatur

"Meine Literatur ist der Versuch, die eingefrorene russische Zeit aufzutauen, damit sie wieder ins Fließen gerät", sagt Sergei Lebedew im NZZ-Gespräch über seinen neuen Roman "Das perfekte Gift", mit dem er "der russischen Gegenwartsliteratur ihre politische Dimension zurückgeben" will. Bei der Skripal-Affäre war ihm aufgefallen, dass das eingesetzte "Nervengift in einem kleinen geschlossenen Ort namens Schichany produziert worden war. Genau an diesem Ort bestand bis 1933 ein Testzentrum, in dem die Reichswehr und die Rote Armee in einer geheimen Militärkooperation chemische Waffen testeten. Die Herstellung von Nowitschok und die damit verbundenen moralischen Dilemmata der Wissenschaftler haben also einen langen historischen Vorlauf. ... Man kann das Böse jeder Epoche am Namen des chemischen Kampfstoffes ablesen: Sarin, Tabun, Napalm, Zyklon B. Und mir scheint, dass Nowitschok das Kainsmal unserer Zeit ist."

In der WamS verortet Mara Delius den Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah (hier und hier unsere Resümees) vor dem in den Postcolonial Studies gängigen Begriff der "'entangled history', Verflechtungsgeschichte, der versucht, die nicht offensichtlichen Verbindungen zwischen Kolonialmacht und Kolonialisierten zu zeigen. Man muss Abdulrazak Gurnah in diesem Kontext postmodern postnationaler Theorien sehen, ohne ihn auf sie festzulegen. Die Schriftsteller VS Naipaul und Salman Rushdie haben die komplexen Geschichten von Figuren, die in einem anderen Land leben als dem, in dem sie geboren sind, mit all ihren Fragen nach Identität, Zugehörigkeit, alten und neuen Wurzeln erzählt - Naipaul ernst und etwas moralisch, Rushdie zuletzt vor allem humoristisch verblockbustert. Abdulrazak Gurnah ist wohl eher ein pragmatischer Melancholiker."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga, die am 24. Oktober der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, verrät der FAS, was sie derzeit liest, hört, sieht und nervt. In der taz spricht Ulrich Matthes kurz und knapp über seine Arbeit an einer Hörbuchversion von Arno Schmidts Typografie-Monumentalmonster "Zettel's Traum". Für die Welt kramt Matthias Heine nochmal Thomas Manns mitten während der Inflationszeit entstandene Novelle "Unordnung und frühes Leid" aus dem Schrank hervor. Über Thomas Manns Engagement für die Demokratie spricht Frido Mann in der FR. Im Zündfunk-Feature des BR versenkt sich Markus Metz in die Noir-Comicwelten von Frank Schmolke und Uli Oesterle (mehr dazu hier und dort).

Besprochen werden unter anderem Jonathan Franzens "Crossroads" (Standard), Marie NDiayes "Die Rache ist mein" (Tagesspiegel), Chaim Grades Erzählband "Von Frauen und Rabbinern" (Standard), Jenny Erpenbecks "Kairos" (Tagesspiegel), Edgar Selges "Hast du uns endlich gefunden" (FAS), Marieke Lucas Rijnevelds "Mein kleines Prachttier" (Dlf Kultur), Martin Lechners "Der Irrweg" (Freitag), Helene Hegemanns Essay "Patti Smith" (Freitag), Alois Hotschnigs "Der Silberfuchs meiner Mutter" (Standard), Anne Webers "Tal der Herrlichkeiten" (54books) und JM Stims Krimi "Malta Transfer" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Nico Bleutge über Maren Kames' "Und am Ende ist es so ich":

"Und am Ende ist es so ich
halte hier Reden
vom Firn über den Dingen
..."
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Film

Liebevoll weggeätzt: "2551.01" zeigt Freude an der Handarbeit.

Mit Norbert Pfaffenbichlers "2551.01" läuft beim Münchner Underdox-Festival eine echte Entdeckung, schwärmt ein hingerissener Martin Gobbin auf critic.de: Zu sehen gibt es laut Anreißer einen "No-Budget-Lumpenproletariats-Neostumm-Experimental-Gruselfilm", der mit polizeilichen Folterkellern, Augenoperationen, Elendsbehausungen und Embryo-und-Penis-Suppen aufwarten kann. Der 16mm-Film bietet eine klaustrophobische, aber atmosphärisch ausstaffierte Welt: "Was Pfaffenbichler und sein Team allein mit Masken für Bilderfluten entfesseln, ist - gerade angesichts der offensichtlichen Budgetgrenzen - ein wahres Wunder. Keine Figur hat hier ein Gesicht, '2551.01' ist ein einziger Maskenball: Harlekin-, Weihnachtsmann-, Affen-, Monster-, Virologen-, Sadomaso-, Strumpf- und Gasmasken mag man ja im gut sortierten Kostümhandel noch einfach kaufen können. Aber all die grauenhaften Fratzen mit ihren schreienden Mündern, durchlöcherten Knochen und der weggeätzten Haut sind in liebevoller - und vermutlich jahrelanger - Handarbeit entstanden."

Weitere Artikel: In der FAS plaudert Ridley Scott über seinen neuen Ritter-Blockbuster "The Last Duel". Susanne Burg spricht im Dlf Kultur mit Todd Haynes über dessen Doku über The Velvet Underground. Besprochen wird die südkoreanische Netflix-Serie "Squid Game", die derzeit Social Media erobert (ZeitOnline).
Archiv: Film

Musik

Die Isarphilharmonie, ein vom Akustiker Yasuhisa Toyota konzipiertes Ausweichquartier für die Münchner Philharmoniker, während deren eigentliche Spielstätte generalsaniert wird, wurde mit einem Abend unter dem Taktstock von Valery Gergiev eröffnet. Schnell zeigt sich, "dass der neue Saal keine Ungenauigkeiten verzeiht", berichtet Marco Frei in der NZZ. "Völlig akzeptabel" findet den Klang hingegen Jan Brachmann in der FAZ. "Die Trennschärfe der Einzellinien ist deutlich besser als im alten Gasteig", wobei der Klang zuweilen dennoch eigene Reisen unternahm: "Dass die quecksilbrigen Wirbel von hohen Holzbläsern und Schlagzeug in 'Araising Dances' von Thierry Escaich oder den 'Métaboles' von Henri Dutilleux in alle Richtungen zerstieben, kann man vielleicht - wie anderswo auch - durch Klangsegel korrigieren und besser fokussieren."

Den Philharmonikern fehlt unter diesen Saalbedingungen jegliche Magie im Klang, jammert Reinhard J. Brembeck in der SZ. Auch ansonsten ist seine schlechte Laune ziemlich prächtig: Watschen setzt es links und rechts für die Münchner und bayerische Kulturpolitik, der Abend war zu kulinarisch geplant und Frauen gab es auf der Bühne auch zu wenige: "Dieser schwarze und abweisende Kasten erinnert an die Ödnis eines Betonbunkers. Es wäre keine Überraschung, wenn sich plötzlich eine Luke öffnen würde, aus der ein Geschütz auf die Zuschauer feuern würde."

"Historisch äußerst bedenklich" findet NZZ-Kritiker Christian Wildhagen in der von Roberto Blanco neu befeuerten Debatte darum, ob Beethoven schwarz gewesen ist (mehr dazu hier), den "Zug ins Biologistische, wenn nunmehr wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, etwa der DNA-Analyse, für die Untermauerung politischer Ansichten und Ziele herhalten sollen", zumal "es nicht das Geringste an der Bedeutung der 9. Sinfonie oder der Missa solemnis ändert, ob diese Werke nun von einem Schwarzen, einem Transsexuellen, einem Asiaten oder schlicht von einem alkoholkranken Rheinländer komponiert wurden."

Weitere Artikel: Christoph Wagner nimmt eine Box zum Frühwerk der Krautrock-Legende Faust zum Anlass, um in einem online aus der Wochenendausgabe nachgereichten NZZ-Artikel darüber nachzudenken, wie das damals war, als immer mehr deutsche Rockbands sich aus den Großstädten aufs Land in umgewidmete Bauernhöfe zurückzogen. Zum Start der Donaueschinger Musiktage am kommenden Donnerstag wirft Peter Kraut, online nachgereicht von der NZZ, einen Blick auf die Geschichte des Festivals und dessen Herausforderungen angesichts einer zunehmend globalen Perspektive in der Avantgarde. Claus Lochbihler spricht für die taz mit Laura Maling und Mike Lindsay über deren Kunstpop-Duo LUMP. Im Standard denkt Karl Fluch über den österreichischen Trend zum Dialekt-Pop nach.

Besprochen werden die Uraufführung der von einer KI fertig programmierten 10. Sinfonie Beethovens (Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier und hier), Christoph Dallachs "Future Sounds" mit einer Oral History des Krautrock (FR), das neue Album von James Blake (Berliner Zeitung), ein Konzert des ORF-Radio-Symphonieorchesters unter Marin Alsop (Standard) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter das neue Album der Felice Brothers, das auf FAZ-Kritiker Jan Wiele "wie eine große Verausgabung wirkt, ein Fiebertraum in Folkstrophen, kostümiert als große Oper". Wir hören rein:

Archiv: Musik