9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Kontinuität der Gewalt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2023. In der NZZ erklärt die Theaterwissenschafterin Maryam Palizban, wie das iranische Regime selbst bei exilierten Frauen "immer seine Hand auf unserem Kopf" behält. In der FAZ protestiert der Historiker Dierk Hoffmann gegen den Wessi-Kritiker Dirk Oschmann, der den  Begriff "Aufbau Ost" als Nazisprache darstellt. Im Spiegel wehrt sich die Autorin Anna Rabe gegen Katja Hoyers und Oschmanns DDR-Beschönigungen. SZ und Welt fürchten die Apokalypse oder gar Urheberrechtsverletzungen durch KI.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.05.2023 finden Sie hier

Europa

Im Interview mit der NZZ spricht Maryam Palizban über ihre zwei Leben als Schauspielerin im Iran und als promovierte Theaterwissenschafterin in Deutschland. Das ging 15 Jahre lang gut - bis zum Mord an der Kurdin Mahsa Amini. Seitdem geht sie nicht mehr zurück, obwohl die Sittenpolizei sie auch in Deutschland immer noch begleitet: "Egal, wo wir sind: Iran hat immer seine Hand auf unserem Kopf. ... Ein Beispiel: Nachdem ich meinen ersten Gedichtband veröffentlicht hatte, haben sie bei der Einreise nach Iran vor meinen Augen meinen Namen bei Google eingegeben, um zu schauen, ob es im Internet Bilder von mir ohne Kopftuch gibt. Das hat mich wirklich krank gemacht. Ich trage kein Kopftuch. Ich bin Akademikerin. Aber wenn ich in Deutschland einen Vortrag hatte, war meine größte Sorge nie: Hoffentlich läuft der Auftritt gut. Sondern immer: Was mache ich mit meinen Haaren? Trage ich keine Kopfbedeckung, grenze ich mich damit ab und gehe das Risiko ein, meine Familie in Iran nicht mehr besuchen zu dürfen. Trage ich eine, verleugne ich mich selbst."

Timothy Garton Ash
, einst durchaus ein Kritiker deutscher, vor allem sozialdemokratischer Ostpolitik, wird in der FAS von Ralph Bollmann interviewt. Im Krieg sieht er auch Chancen, die es Olaf Scholz erlauben könnten, sich als Visionär zu erweisen: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagte schon Heraklit. Nehmen Sie die EU-Osterweiterung. Seit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens hat sich 15 Jahre lang nichts getan, wenn man von Kroatien mal absieht. Plötzlich ist diese Agenda ganz zentral: westlicher Balkan, Ukraine, Moldau, Georgien. Da erhoffe ich mir mehr von Deutschland. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik drei große Würfe gegeben: Adenauers Westbindung, Brandts Ostpolitik sowie die deutsche und europäische Einigungspolitik von Helmut Kohl. Jetzt hat Olaf Scholz die Chance auf ein viertes strategisches Projekt: die Gesamteuropa-Politik."

Der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière fordert im Gespräch mit Helene Bubrowski von der FAZ eine neue Föderalismusreform, die er aber lieber nicht so nennen will. Hintergrund sind die Erfahrungen mit der Pandemie und eventuell auch mit dem Versagen der Behörden in der Ahrtalflut. Eine Zentralisierung von Kompetenzen soll mindestens in Krisen möglich sein. Und "wir müssen uns daran gewöhnen, dass Krisen zur Normalität gehören, auch zur politischen Normalität. Krisen brauchen besondere Regeln. Wir haben zum Teil sektoral solche Regelungen, zum Beispiel neuerdings im Infektionsschutzgesetz. Mein Vorschlag ist es, abstrakt generelle Regeln für einen Ausnahmezustand zu schaffen. Auslöser können unterschiedliche Krisenszenarien sein, die länderübergreifend die Sicherheit Deutschlands betreffen: große Fluchtbewegung, ein Angriff auf eine IT-Infrastruktur, ein Cyberangriff, nationale Naturkatastrophen." Der Bundestag soll dann den Ausnahmezustand feststellen.

Über eine gebündelte Anstrengung zur Bewältigung einer Krise schreibt ebenfalls in der FAZ Dierk Hoffmann vom Institut für Zeitgeschichte München. Er protestiert gegen die Behauptung des Autors Dirk Oschmann ("Der Osten: eine westdeutsche Erfindung"), der Begriff "Aufbau Ost" sei eine Vokabel aus der der "Lingua Tertii Imperii" (LTI). Erstens treffe das nicht zu, denn die Nazis sprachen in internen Dokumenten von einem "Generalplan Ost", zweitens, so Hoffmann in der Folge ausführlich, handelte es sich eben um dies: eine gebündelte Anstrengung, um die komplett maroden Neuen Länder einigermaßen auf Niveau zu bringen. Dabei seien Fehler passiert: "Eine Parallele zu dem verbrecherischen 'Generalplan Ost' des NS-Regimes, die Dirk Oschmann und Christoph Hein ziehen, ist jedoch gänzlich unangemessen, ja infam."

In dem Moment, wo die AfD in den neuen Ländern immer neuen Umfragerekorde erzielt, erstaunt es ohnehin, dass Bücher, die die DDR schönmalen wie Oschmanns Streitschrift oder Katja Hoyers Bestseller "Diesseits der Mauer" so warme Aufnahme finden. Es gibt ein drittes Buch, das ein wesentlich ungemütlicheres Bild zeichnet, den Roman "Die Möglichkeit von Glück" der Autorin Anna Rabe, die sich im Interview mit  Peter Maxwill vom Spiegel recht kritisch über Oschmann und Hoyer äußert. Sie weist unter anderem darauf hin, dass "es eine Kontinuität der Gewalt in Ostdeutschland gibt, über die zu wenig gesprochen wird. Man kann den rechtsextremen Terror oder die Erfolge der AfD nicht verstehen, wenn man nichts über die brutale Pädagogik in der DDR weiß. Es ist eben nicht so, dass die Ostdeutschen ein friedfertiges Völkchen sind, aus dem es beim Anblick eines Schwarzen unverhofft herausbricht. Gerade unter Jüngeren, das zeigen Studien, sind menschenfeindliche und autoritäre Ideen erschreckend verbreitet."

Die Theologin Anne-Marie Pelletier attackiert in Le Monde Papst Franziskus, der darauf beharrt, die Ukraine und Russland auf eine Stufe zu stellen. Mit keinem Wort erwähne er die Entnazifierungsrhetorik Putins, der auch anderweitig in Kontinuitäten stehe. Und sie empfiehlt ihm die Lektüre von Wassili Grossmans Roman "Leben und Schicksal". Da lerne man: "Das Nazi- und das Sowjetregime sind nichts als Zwillingsbrüder, die denselben Zwecken dienen und daher austauschbar sind. In 'Leben und Schicksal' erklärt ein Nazi-Lagerleiter einem alten Bolschewiken: 'Wenn ihr siegt, werden wir in eurem Sieg weiterleben.' Deshalb ist die Haltung des Pazifismus, ob wir es nun mit Putin oder Hitler zu tun haben, so trügerisch. Deshalb erinnert die gegenwärtige Argumentation des Papstes unweigerlich an 1938 und die Illusionen der Münchner Unterhändler."

In der Welt erinnert Bartosz T. Wieliński, Vizechef der Gazeta Wyborcza, dass nicht nur Ukrainer gegen Diktatur kämpfen, sondern auch Belarussen wie Andrzej Poczobut, Korrespondent der Gazeta, der im Februar in Belarus wegen angeblicher "Förderung des Nazismus und der Verbreitung von ethnischem Hass" zu acht Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt wurde: "Wenn die westliche Welt heute Berichte über die Verbrechen der russischen Armee in Butscha, Irpin, Izium und Cherson liest, neigen die Menschen dazu, das Leid in Belarus zu vergessen. Zu Unrecht. Die Unterdrückung in dem Land hat ein praktisch totalitäres Ausmaß angenommen. Die Zahl der politischen Gefangenen hat 1.500 erreicht und steigt weiter an. Die in blitzschnellen und unfairen Prozessen verhängten Urteile sind drakonisch. Einigen Gefangenen droht die Todesstrafe, und Belarus ist das einzige Land in Europa, in dem sie vollstreckt wird." In der taz erzählt der Philosoph Alexander Friedmann zugleich, wie Alexander Lukaschenko mit schwulenfeindlicher Propaganda punkten will.

Außerdem: Auf Zeit online bringt uns Ira Peters mit Hilfe der Friedensaktivistinnen Lida Minasjan aus Armenien und Sevil Huseynova aus Aserbeidschan auf den neusten Stand im Konflikt zwischen den beiden Ländern.
Archiv: Europa

Urheberrecht

In der SZ sieht Andrian Kreye den Untergang von Medien und Kultur durch Künstliche Intelligenz voraus und fordert deshalb mit der VG Wort und der Gema eine Revidierung des Urheberrechts, das unvorsichtigerweise eine "Lizenz zum Ernten" erteile. "'Auch erfolgreiche Songschreiber für Pop und Rock oder Komponistinnen für den Klassikbereich verdienen oft einen Großteil ihres Geldes mit Kompositionen für Film und Fernsehen'", zitiert er Gema-Justitiar Tobias Holzmüller. "'Und natürlich wird die erste Bruchstelle bei Hintergrundmusik sein, bei eher funktionalen Musikelementen für Industriefilme, bei Computerspielen. Aber der nächste Schritt wird dann vielleicht schon die Filmmusik sein.' Dazu kommt, dass Melodien und Akkordfolgen in den Datenmassen aufgehen, mit denen KIs trainiert werden, und dann irgendwo wieder auftauchen. Das lässt sich nicht beweisen, auch wenn die Indizien eindeutig sind."
Archiv: Urheberrecht

Internet

In der Welt fürchtet Daniel Privitera, Gründer des Zentrums für KI-Risiken und Auswirkungen (KIRA), gar den Tod durch KI, denn die Systeme würden "auch besser darin, Menschen zu täuschen. So könnte es lange unbemerkt bleiben, wenn eine KI schädliche Ziele verfolgt. Schon das aktuell verfügbare Modell GPT-4 brachte in einem Versuch einen Online-Arbeiter der Plattform TaskRabbit dazu, ein Captcha zu lösen, das GPT-4 selbst nicht lösen konnte. Dazu gab sich das System als Mensch mit einer Sehschwäche aus. Der Arbeiter fiel darauf rein." Privitera fordert deshalb globale Regeln für KI: "In anderen Industrien ist es selbstverständlich, dass neue Produkte erst von einer staatlichen Stelle für unbedenklich befunden werden müssen, bevor sie auf den Markt dürfen. Bei KI-Lösungen hingegen herrschen im Moment Zustände wie im Wilden Westen: OpenAI & Co. bringen ihre Systeme nach Gutdünken auf den Markt - und liefern sich dabei seit einigen Monaten ein immer hitzigeres Wettrennen, bei dem Sorgfalt und Bedacht der Schnelligkeit geopfert werden. Das muss aufhören."
Archiv: Internet

Gesellschaft

"Die Geschichte ökologischen Denkens ist vor allem eine deutsche Geschichte", schreibt Salonkolumnist Bernd Rheinberg mit Blick auf die aktuelle Debatte um Heizungsgesetz und Wärmepumpen. Allerdings sei sie gefangen in einer Polarisierung aus der es keinen Ausweg gebe. Bei FDP und CDU sieht Rheinberg "die Verzögerer und Aufhalter einer notwendigen ökologischen Transformation unseres Wirtschaftens und Konsumierens"... Auf der anderen Seite sind die Postwachstumsideologen, die die Wirtschaftsleistung um bis zu 90 Prozent reduzieren wollen und keine Probleme damit hätten, dass auch der wissenschaftliche Fortschritt und die soziale und äußere Sicherheit entsprechend schrumpfen und der Rest der Welt fassungslos und feixend auf das verarmte Museum Deutschland schauen würde." Aber in einem treffen sich Aufhalter und Apokalyptiker: "Sie billigen beide der kapitalistischen Ökonomie keine Evolution zu, keine Entwicklung zu einer ökologischen Marktwirtschaft. Die einen wollen sie so erhalten, wie sie ist: eine zu Gefräßigkeit neigende Maschine. Die anderen wollen sie abschaffen."

In der NZZ fragt sich die nach Tel Aviv ausgewanderte Journalistin Zelda Biller, wie lange der israelische Staat noch überleben kann und blickt dabei auf ihre Freunde in Israel, die vom ganzen Nahostkonflikt die Nase voll haben und darüber spotten: "Dass Menschen sich an Krieg gewöhnen, ist nicht nur verständlich, es ist auch notwendig, damit sie nicht verrückt werden. Aber warum, dachte ich, höre ich meine israelischen Freunde immer nur davon reden, wie normal, nervig, ungerecht oder traurig der ewige Streit mit den Palästinensern ist, aber habe noch nie jemanden darüber nachdenken hören, dass es bald schon wieder vorbei sein könnte mit dem märchenhaften Staatsexperiment in Nahost? Sind sie so geblendet von Israels militärischer Stärke und westlicher Unterstützung, dass sie nicht verstehen, was 75 Jahre Lebensdauer für ein Witz sind, insbesondere in diesem seit Jahrtausenden begehrten und umkämpften Gebiet?"
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Die SZ publiziert die Rede, die der Historiker Volker Weiß beim Gedenkakt zum 175. Jahrestag der Nationalversammlung am 18. Mai im Jüdischen Museum Frankfurt gehalten hat. Er erinnerte daran, dass die Paulskirche als Erinnerungsort "keineswegs so eindeutig bestimmt ist, wie es die Erinnerungskultur gerne hätte". Darauf hatte schon zum hundertsten Jahrestag der aus dem Exil zurückgekehrte Dramatiker Fritz von Unruh hingewiesen: "Der überzeugte Pazifist machte 1948 die Kriegspublizistik Ernst Jüngers dafür verantwortlich, dass die Jugend nach dem Ersten Weltkrieg zu Militarismus und Revanchismus erzogen worden war. 1982 bekam Jünger den Goethe-Preises in der Paulskirche verliehen. Ironie der Geschichte ist auch, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der seit 1951 in der Paulskirche verliehen wird, auf eine Initiative des Dichters Hans Schwarz zurückgeht. Schwarz war Verwalter des publizistischen Erbes Arthur Moeller van den Brucks. Er hatte in den Dreißigern dessen radikal nationalistische Schriften kommentiert herausgegeben und 1934 das nationalsozialistische Moeller van den Bruck-Archiv gegründet. In Unruhs Rede wurde Moeller van den Bruck, der 1923 mit seinem Buch 'Das Dritte Reich' ein weltanschauliches Gerüst zur Zerstörung der Weimarer Republik geschaffen hatte, zu den Kündern der Barbarei gezählt."

In der Welt erinnert der Historiker Alfred Schlicht an den Kampf von Osmanen und Portugiesen im 16. Jahrhundert um Äthiopien.
Archiv: Geschichte