Efeu - Die Kulturrundschau

Man muss es nicht mögen, aber man kann es lieben

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07.02.2014. Der Expressionismus war keineswegs das Ergebnis eines französisch-deutschen Künstleraustauschs, widerspricht die NZZ der Zürcher Ausstellung "Von Matisse zum Blauen Reiter". Auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse finden sich drei Debütanten. Der Theaterautor Ulf Schmidt informiert in der Nachtkritik über den gravierenden Zuschauerschwund an deutschen Theatern. Und alle sind zufrieden mit dem Auftakt der Berlinale.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2014 finden Sie hier

Film

Wes Andersons Eröffnungsfilm für die Berlinale, "Grand Budapest Hotel", ruft bei den Kritikern einhellige Begeisterung hervor: "Der glanzvollste Berlinale-Eröffnungsfilm seit sehr langer Zeit", wurde laut SZ-Rezensent Tobias Kniebe gestern präsentiert. "Es gibt ein Kino, das sich bewusst von der Gegenwart abwendet, um ein Spiel ganz nach seinen eigenen Regeln zu spielen. Man muss es nicht mögen, aber man kann es lieben", schreibt ein liebender Andreas Kilb in der FAZ. Im Tsp erfreut sich Jan Schulz-Ojala an einer "Überdosis Erfindungslust", und auch Dirk Knipphals zeigt sich in der taz hochzufrieden: "Liebevolle Lakonik, puppenstubenartige Künstlichkeit, Schauwerte und ein schönes Spiel mit ernsten Gefühlen - alles, was man bei diesem Regisseur sucht, findet man hier." Elena Meilicke erinnert jedoch im Perlentaucher daran, "dass hinter den süßen und komischen Niedlichkeiten in Anderson-Weltentwürfen stets messerscharfe Präzision liegt".

Außerdem: In der NZZ schreibt Jörg Becker über die Retrospektive der diesjährigen Berlinale, die unter dem Titel "Ästhetik der Schatten" Beleuchtungsstile zwischen 1915 und 1950 erkundet. In der taz stellt Lukas Foerster den japanischen Regisseur Noboru Nakamura (1913-1981) vor, von dem auf der Berlinale drei Filme zu sehen sind, die Foerster "als Einblick in die Lebenswelt einer sich mit enormer Geschwindigkeit modernisierenden Gesellschaft unschätzbar wertvoll" findet (hier Thomas Grohs Text über Nakamura für den Perlentaucher). Thomas Assheuers Zeit-Artikel über das Leitmotiv Sexualität im Programm der aktuellen Berlinale steht jetzt online.

Mehr zur Berlinale auf den Berlinale-Seiten der taz, des Tagesspiegels und natürlich dem Perlentaucher.
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Kunst

Herrliche Bilder sieht NZZ-Rezensent Christian Saehrendt in der Ausstellung "Von Matisse zum Blauen Reiter" im Kunsthaus Zürich. Mit der These des Kurators Timothy O. Benson, der Expressionismus sei durch den gegenseitigen Einfluss von Franzosen und Deutschen entstanden, ist er allerdings überhaupt nicht einverstanden: "Die Phrase vom damaligen "internationalen künstlerischen Austausch", die hier bemüht wird, passt vielleicht gut zur heute politisch gewünschten und überall propagierten "gesamteuropäischen Kultur-Identität" - den historischen Fakten wird sie nicht gerecht. ... Den meisten Franzosen waren der Kubismus und Expressionismus als barbarische "peinture boche" ein Greuel. Ohne Zweifel wirkte sich das Klima von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, das im Frankreich der Jahrhundertwende herrschte, auch auf dem Gebiet der Kunst aus." (Bild: Erich Heckl, Mädchen mit Puppe, 1910)

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900" in der Frankfurter Schirn (FAZ) und eine Ausstellung des Künstlers Duane Michals im NRW-Forum in Düsseldorf (FAZ).

J.D. "Okhai Ojeikere, der nigerianische Fotograf, ist tot. Von ihm stammt die berühmte Serie "Hairstyles", die Le Monde hier präsentiert.





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Musik

Anlässlich einer neuen, dreizehnteilige CD-Edition des deutschen Baritons Christian Gerhaher würdigt Marco Frei in der NZZ Gerhaher als ganz eigenen Sänger, der Semantik und Klang zu vereinen wisse: "Die Poesie als Kunstwelt oder romantisches Bekenntnis interessiert Gerhaher kaum. Bei Gerhaher wird zuvörderst jedes Gedicht zu einem Klang und jeder Klang zu einem Gedicht, zumal seine farbliche Ausdruckspalette bis zum Vibratolosen reicht." Hier kann man ihn mit "Des Knaben Wunderhorn" hören:



Zum Sechzigsten bekommt Dieter Bohlen von Edo Reents ein empathisches Porträt in der FAZ gewidmet: "Die Zeit wird vermutlich noch kommen, wo man, ähnlich wie bei Abba, bei denen das lange auch niemand zugegeben hätte, sagen wird, dass das zumindest unter dem Aspekt der Eingängigkeit doch große Kunst ist und damit das Hauptkriterium von Popmusik schon erfüllt."

In der taz stellt Juliane Streich den costa-ricanischen Musiker Dorian Wood vor, der heute seine Deutschlandtour startet: "Beim letzten Konzert in Berlin tanzte er eine halbe Stunde nackt an einer Stange. "Das war ein sehr süßer Moment", erinnert er sich. "Ich hoffe, dass ich auf dieser Tour ähnliche Erfahrungen machen werde.""

Besprochen werden u.a. eine Einspielung von Bachs Matthäus-Passion durch René Jacobs (muss man haben, versichert Eleonore Büning in der FAZ) sowie Yuval Sharons Karlsruher Inszenierung von John Adams Oper über Robert Oppenheimers ersten Atombombentest "Doctor Atomic" (FAZ).
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Literatur

Die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse ist da: "Neue Stimmen in der Belletristik und bekannte Namen im Sachbuch", resümiert die Welt. Auf der Belletristik-Shortlist finden sich drei Debütanten: Fabian Hischmann ("Am Ende schmeißen wir mit Gold", Berlin Verlag), Per Leo ("Flut und Boden: Roman einer Familie", Klett-Cotta) und die Klagenfurt-Gewinnerin Katja Petrowskaja.

Besprochen wird unter anderem Navid Kermanis neuer Roman "Große Liebe", den Wiebke Porombka in der FAZ als eine "wundervoll doppelbödige Reflexion gar nicht nur über das Lieben, sondern mehr noch über die Angst vor dem Verlust" beschreibt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
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Bühne

Nachtkritik präsentiert einen Vortrag des Theaterautors Ulf Schmidt, den er vor der Dramaturgieschen Gesellschaft gehalten hat, und der ziemlich ungemütliche Zahlen präsentiert. Theaterfunktionäre argumentieren gern mit der über Jahre gleichbleibenden Auslastung ihrer Häuser. Schmidt hat die Zahlen etwas anders aufgezäumt. Hier etwa die Zahl der Theaterbesuche (in tausend) über mehrere Jahrzehnte:


Und was machen die Theater? Sie blähen sich auf, erläutert Schmidt: "Für die 10 Millionen Zuschauer 1957/58 standen 129 Spielstätten mit 94.000 Plätzen zur Verfügung. Heute braucht es das Sechsfache an Spielstätten und das Dreifache an Plätzen, um die Hälfte der Besucher zu bekommen. Das liegt natürlich daran, dass immer mehr kleine Spielstätten benötigt werden." Um nämlich behaupten zu können, dass die Auslastung gleich bleibt! Schmidt fordert am Ende ein "agiles Theater", und ein Theater, das den Medienwandel reflektiert.
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