Efeu - Die Kulturrundschau

Leise, hauchend, verlöschend

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04.03.2014. Nach Mark Andres erster, in Stuttgart uraufgeführter Oper "wunderzaichen", sind die Rezensenten noch relativ platt: Kann es sein, dass Andre die Musik wieder zu sich selbst gebracht hat? In der FAS analysiert Diedrich Diederichsen das komplizierte Verhältnis zwischen Popmusiker und Zuhörer. Die NZZ hört auf Youtube die Odyssee in vier Minuten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2014 finden Sie hier

Bühne



Riesenbeifall für die Uraufführung von Mark Andres erster Oper, "wunderzaichen", in Stuttgart (Bild: Foto: A.T. Schaefer). Regie führte Jossi Wieler, am Pult stand Sylvain Cambreling, für die Bühne zeichnet Anna Viebrock verantwortlich. Hauptfigur ist der Humanist Johannes Reuchlin, der am Flughafen Ben Gurion im Transitbereich feststeckt und schließlich an einem Herzinfarkt stirbt. "Mark Andre hat ein Bühnenwerk komponiert, das in sich selbst Auflösungstendenzen aller Opernkonventionen eingeschlossen hat. In den beiden letzten Bildern vor allem ist das eine Musik, die sich in sich selbst zurückzieht, sich mithilfe elektronischer Nachhallwirkungen selbst nachlauscht: leise, hauchend, verlöschend", schreibt Göt. in der Stuttgarter Zeitung.

In der Badischen Zeitung erklärt ein anonym bleibender Rezensent: "Sprache verwendet Mark Andre in seiner Oper nur selten, um etwas zu erzählen. Wörter werden zerlegt und zertrümmert, aufgespalten in Silben, Konsonanten und Vokale. Buchstaben als theatralische Ereignisse. Sie verbinden sich mit den subtilen, aber auch brutal perkussiven Klängen und Geräuschen, die das Stuttgarter Staatsorchester unter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling aus dem Orchestergraben schickt."

Am enthusiastischsten reagiert Eleonore Büning in der FAZ, die atemlos fragt, ist das "zu komplex? Zu verkopft? Zu naiv? Zu raffiniert? Zu versponnen? Zu statisch? Zu beweglich? Zu kryptisch? Zu tonmalerisch konkret? Zu überwältigend? Von jedem etwas. Sollte es zutreffen, dass alle Musik am Ursprung der Menschheit aus dem Kultus entstanden ist und jeder Musikform, dem Popsong ebenso wie der Klaviersonate, bis heute Restspuren dieser kultischen Funktion innewohnen, dann hat Andre mit seiner Jenseitsoper 'wunderzaichen' die Musik wieder zu sich selbst gebracht." Und: Ein Ereignis, ruft in der SZ Michael Struck-Schloen, der die Oper mit Wagners "Parsifal" vergleicht.

Am 8.3. überträgt Deutschlandradio Kultur ab 19.05 Uhr die Aufführung vom 2.3.. Und hier ein kurzer Einblick in die Proben:



Außerdem: In der Berliner Zeitung rät Michaela Schlagenwerth dringend zum Besuch von Alain Platels bald in Berlin gezeigter Choreografie "tauberbach", bei der ein Chor Gehörloser Bach zur Aufführung bringt. Eine Empfehlung, der sich Peter Laudenbach im Tagesspiegel voll und ganz anschließt. Im Standard spricht Intendant Thomas Oberender im Interview über die Aufführung der Philip-Glass-Oper "Einstein on the Beach" im Rahmen des Berliner Festivals "MaerzMusik extended".

Besprochen werden Tatjana Gürbacas als düsteres Seelendrama inszenierte "Aida" in Zürich (NZZ), Riccardo Mutis Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" in Rom (Manuel Brug hat in der Welt nur Augen für die schön leidende Anna Netrebko), Johan Simons' Münchner Inszenierung von Heinar Kipphardts "März" (FR), Jan Lauwers Inszenierung von "Begin the Beguine" im Wiener Akademietheater (FAZ) und James Goldmans Stück "Der Löwe im Winter" am Deutschen Theater Berlin (FAZ).
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Musik

Online ist ein Interview mit Diedrich Diederichsen, der mit der FAS über sein Buch "Über Pop-Musik" und das komplizierte Verhältnis zwischen Musiker und Zuhörer sprach: "Pop-Musik lebt davon, dass der Rezipient den Zusammenhang herstellt. Jetzt könnte man daraus schließen: Das Subjekt ist allmächtig. Man könnte aber auch sagen, dass es vollends zum mechanischen Teil eines Zusammenhangs geworden ist, der abläuft, ohne dass es ihn ändern kann. Das Subjekt macht halt mit."

Für Ulf Poschardt (Welt) ist der für die hiesige Poplinke so maßgebliche Autor nach einer langen, von akademischen Verkrustungen geprägten Durststrecke mit seinem Buch wieder ganz auf der Höhe seiner Kunst: Es ist, schreibt er, "in einem bislang unerhörten Ton eine Geschichte und Theorie der Popmusik ..." Pop erweise sich als"Möglichkeitsraum, in dem Menschen aufwachsen und sie selbst sein können, bevor sie in die Anpassungs- und Unfreiheitsmühlen der Gesellschaft geraten." Kurz: "Ein philosophisches Meisterwerk."

Gerrit Bartels liest das Buch im Tagesspiegel unterdessen deutlich nüchterner: Zwar warte es mit mancher Erkenntnis auf, doch "ist mancher Abschnitt mitunter quälend zu lesen. ... Bemerkenswerter, auch irritierender ist, dass 'Über Pop-Musik' etwas Abschließendes hat. Diederichsen verortet die Popmusik an der Grenze ihrer historischen Gültigkeit, er sieht das Ende einer historischen Ära gekommen."

Außerdem:
Für die Berliner Zeitung trifft sich Kerstin Krupp mit Edgar Krasa, der einst als KZ-Gefangener in Theresienstadt mit anderen Gefangenen das heute in Berlin gespielte "Defiant Requiem" aufgeführt hat: "'Dies irae - der Tag des Zorns' ist auch heute noch der Teil des Requiems, der Edgar Krasa am stärksten berührt. Er sang im Bass dieses Gefangenenchors." Ulrich Rüdenauer war beim Konzert von Nick Lowe. Jens Uthoff spricht für die taz mit Torsun Burkhardt von der Polit-Elektropunkband Egotronic. Hier deren aktuelles Musikvideo:



Besprochen wird
das neue Album von Die Heiterkeit (Tagesspiegel). Neu in der Rubrik "Best New Music" bei Pitchfork: "Atlas", das neue Album von Real Estate. Jayson Greene schreibt: "The result is at once their most forlorn album and their most beautiful. Producer and mixer Tom Schick dissolves the noncommittal haze of reverb that made it sound like you were hearing Days through a fisheye lens, and the crispness that emerges on Atlas is gorgeous." Hier spielt die Band das gesamte Album live.
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Kunst



Ingo Arend besucht für die taz eine kleine Berliner Ausstellung mit Werken der deutsch-afghanischen Künstlerin Jeanno Gaussi. Diese "treiben weder Nostalgie noch die Verlustgefühle der Diaspora. Stattdessen analysiert sie sonst meist fetischisierte Fragmente der Erinnerung oder der Kultur und rückt sie in einen neuen Kontext." (Bild: Galerie koal)

In Miami sind in Kuba geraubte Kunstwerke aufgetaucht, berichtet Knut Henkel in der taz: "Wie die Bilder die Insel verlassen konnten und ob die Kunstwerke den Weg auf die Insel zurückfinden werden, ist derzeit allerdings noch vollkommen offen."

Besprochen werden eine Peter-Doig-Retrospektive im Museum of Fine Arts in Montreal (SZ) und die große Wikinger-Ausstellung im British Museum in London (SZ).
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Literatur

In der NZZ stellt Angela Schader die "ThugNotes" vor, kurze, mit Zeichnungen und Collagen unterlegte Youtube-Videos zur Weltliteratur im "gangsta style" . Vorgetragen werden sie von Sparky Sweets, PhD., hinter dem sich der Stand-up-Komiker Greg Edwards verbirgt. So kann man sich die ganze Odyssee in vier Minuten zu Gemüte führen: zwei Minuten Nacherzählung, zwei Minuten Analyse: "Trotz der saloppen Sprache und der zügigen Darstellung lässt sich die Serie aber nicht einfach als bloße Literatur-Veräppelung oder 'Dumbing down'-Kampagne abtun: Die Interpretationen versuchen, auf Augenhöhe mit einem jugendlichen Publikum durchaus Relevantes auf den Punkt zu bringen, und die jeweils mündlich und schriftlich wiedergegebenen Kernzitate aus den vorgestellten Werken sind sorgfältig und gut gewählt."

Bitte sehr, die Odyssee, mad streetsmart:



Die Debatte um die deutsche Gegenwartsliteratur geht offenbar ihrem Ende entgegen. Jetzt kommen die Stimmen derer, die sie von vornherein für gegenstandslos hielten. Dirk Pilz in der Berliner Zeitung schreibt etwa, dass er die verschiedenen Positionen wohl zur Kenntnisse nehme, doch einfach nicht verstehe: "Ich begreife dieses Gerede über die Gegenwartsliteratur nicht, weil es niemand gibt, der sie kennt. Kein Mensch verfügt über so viel Zeit, alle Bücher zu lesen, noch nicht einmal die Neuerscheinungen. Das ist eine Tatsache von so hohem Binsengehalt, dass sie schlicht ignoriert wird."

Die Schweiz ist Gastland der Leipziger Buchmesse. Aus diesem Anlass hat sich Sandra Kegel (FAZ) von der Tourismusbehörde durchs Land lotsen lassen und erfährt von den Einheimischen, "dass sie sich häufiger auf Englisch verständigten als in einer der vier Landessprachen".

Besprochen werden unter anderem Gaito Gasdanows Roman "Ein Abend bei Claire" (von NZZ-Rezensent Andreas Breitenstein wärmstens empfohlen), Ulrich Blumenbachs Neuübersetzung von Anthony Burgess' "Clockwork Orange" (NZZ) und Lewis Trondheims Comic "Ein vergrabener Stein bleibt dumm" (taz). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Film

Nach der großen Preisvergabe in Hollywood ziehen die Feuilletons Bilanz: Sehr gerecht ging es bei der Verleihung der Oscars zu, meint Daniel Kothenschulte in der FR. Auch für Barbara Schweizerhof von der taz lief "eigentlich alles nach Plan", außer vielleicht, dass sie die Auszeichnung für den besten Regisseur dann doch lieber Steve McQueen gegönnt hätte. FAZ und SZ waren auch zufrieden. Dirk Peitz bleibt da in der Welt nur mehr indifferentes Schulterzucken und etwas Gähnen.

Etwas lauteren Widerspruch wagt Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel: Er fand die Entscheidungen insgesamt doch sehr gefällig. Die Academy hat vor allem "sehr amerikanische Vorbilder-Geschichten" und "Hymnen auf das Individuum" prämiert, mit denen man sich in den USA schon traditionell gut arrangieren kann.

Außerdem: Ralf Schenk bringt in der Berliner Zeitung Hintergründe zu Hans Steinhoffs 1944 noch im "Dritten Reich" entstandenen Film "Melusine", den das Berliner Zeughauskino am vergangenen Sonntag als Welturaufführung zeigte. Beim Standard schreibt der Filmemacher Michael Glawogger weiterhin Tagebuch seiner Recherchereise.
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