Efeu - Die Kulturrundschau

Er singt für sich

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04.06.2014. Große Begeisterung über Richard Linklaters Film "Boyhood", der für die SZ einige Grundannahmen über die Zeit und das Kino in Frage stellt. Johan Simons Wiener Inszenierung der "Neger" verlief ganz ohne Zwischenfälle, berichtet die Nachtkritik. Die NZZ lernt bei einer Werkschau Fritz Hallers, dass Schönheit auch aus objektiven Ordnungsprinzipien wachsen kann. Die FAZ erlebt in London, was ein Künstler aus einer "stinkigen Bruchbude" macht. Und: Warum war Prince nicht in Berlin?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2014 finden Sie hier

Film

Selten hat ein Film die Kritiker so begeistert wie Richard Linklaters "Boyhood", der nach seiner Berlinale-Premiere (unsere Kritik) nun auch regulär im Kino startet. In diesem Film schildert der Regisseur Jugend und Adoleszenz eines Jungen - und dies in Form teilnehmender Beobachtung: Tatsächlich dauerten die Dreharbeiten zwölf Jahre. Da werden die Kritiker ganz wehmütig: "Man sieht der Zeit bei der Arbeit zu, sieht, wie sie Gesichtszüge und Charaktere verändert und wie die Menschen sich dennoch treu bleiben dabei", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel.

Hier geht es nicht nur um die Schilderung einer Lebensphase, meint Jochen Bordwehr in der taz: "Das Leben eines Jungen interessiert Linklater, weil er wissen möchte, wie jemand ein Mann wird." Für Tobias Kniebe von der SZ stellt dieses Experiment einige Grundannahmen über das Kino gründlich infrage, so etwa die Behauptung, "Kamera und Schnitt könnten die Zeit nach Belieben manipulieren, gerade das Kino müsse auf ihr reales Vergehen keine Rücksicht nehmen". Und Andreas Kilb meint in der FAZ, man merke eben, dass Linklater vom klassischen Autorenkino komme und nicht vom Genrefilm. "Boyhood" sei eine logische Konsequenz dieser Filmbildung: Denn das große amerikanische Kino "wurzelt in europäischen Traditionen, die es sich anverwandelt, bis sie den Sound und den Rhythmus des American way of life angenommen haben. So wirft uns Linklaters "Boyhood" das ferne Echo von Truffauts Antoine-Doinel-Filmen zurück."

Außerdem: Im Standard trifft Bert Rebhandl den französischen Schauspieler Guillaume Gallienne, dessen Komödienerfolg "Maman und ich" jetzt auch in Deutschland und Österreich in die Kinos kommt. Er spielt beide Rollen: "Meine Mutter pflegte immer zu sagen: Jungs und Guillaume, zu Tisch!"
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Bühne

Der Eklat in Wien ist ausgeblieben. Johan Simons Inszenierung von Jean Genets "Negern" bei den Festwochen verlief ganz friedlich und, wie die Nachtkritik ahnen lässt, eher harmlos: "Im Detail ist das alles gerade nicht so schwarzweiß. Die Clownerie/Farce erfordert konzentriertes Zuhören, erfreut mit vielen präzis gesetzten gestischen Irritationen, mit Subtexten. Das ist streckenweise auch recht mühsam."

Völlig hingerissen ist Egbert Tholl von der SZ von Christof Loys "Don Giovanni" an der Frankfurter Oper und Christian Gerhaher in der Titelrolle: Lebendige Oper! "Seine Darbietung des Ständchens unter dem Fenster erzählt mehr über die Figur als Loys inszenatorischer Aufwand. Hier leuchten die Worte in blühender Jugendlichkeit, jedes einzelne von ihnen ist reine Verführung, Verheißung, und doch singt hier Don Giovanni gar nicht für Donna Elviras Zofe, er singt für sich."

Der russische Dramatiker Farid Nagim, derzeit Gast bei den Berliner Autorentheatertagen, spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über die Situation in Russland und sein Stück "Der Tag der weißen Blume". Aktuell daran sei, "dass das Streben nach Freiheit, nach schöpferischem Ausdruck, nach sexueller Selbstbestimmung wieder in den Untergrund gedrängt wird". An seine Stelle trete "ein verlogener Patriotismus und eine völlige Überschätzung der Kirche. Wissen Sie, während der Revolution war ein Lied sehr populär, "Fahr vorwärts, unsere Dampflok". Heute lautet die Losung: Vorwärts, Russland - aber welche Richtung damit gemeint sein soll, ist vollkommen unklar."
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Literatur

Auch Ekkehard Knörer war auf dem Hildesheimer Prosanova-Festival für junge Literatur und erzählt im Blog des Merkurs von der Veranstaltung, die ganz geprägt war vom großen Elefanten namens Florian Kessler und seiner Attacke gegen Mittelschichtsliteraten: "Der oberflächliche Blick auf das Soziotop, das sich zum vierten Hildesheimer Schreibschulliteraturfestival Prosanova versammelte, führt Kesslers Diagnosen jedenfalls nicht sofort ad absurdum. Sehr weiß, sehr mittelschicht, sehr lässig postmaterialistisch gekleidet im Ulf-Poschardt-Herzkaschper-Stil. Der Mann im Anzug: Schreibschulprofessor Hanns-Josef Ortheil. An der Festivalfrittenbude keine Fritten, sondern Chili sin carne. Umgangsformen: rempeliges Hier-komm-ich auf den Gängen, ansonsten gepflegt."

Der Börsenverein meldet, dass sich erstmals die Umsätze im stationären Buchhandel besser entwickelten als im Online-Buchhandel. Und in der Berliner Zeitung kommentiert Cornelia Geißler, dass die E-Books im Buchhandel keinen Umsturz verursacht haben, sondern höchstens eine sanfte Wendung: "Vielleicht ist es eine Frage der Mentalität: Revolutionen in Deutschland laufen geordnet ab."

Judith von Sternburg berichtet in der FR von Daniel Kehlmanns Antritt zu seiner Frankfurter Poetikvorlesung.

Besprochen werden Oliver Bottinis Krimi "Ein paar Tage Licht" (taz), Grigori Kanowitschs "Ewiger Sabbat" (FAZ) und Chimamanda Ngozi Adichies "Americanah" (SZ - unsere Leseprobe), Aleida Assmanns Studie "Ist die Zeit aus den Fugen?" (NZZ)
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Musik

Michael Pilz ist echt sauer, dass Prince sein Berliner Konzert abgesagt hat, obwohl Pilz doch schon eine Karte für den Bühnenrand für 332 Euro ergattert hatte. Da bleibt nur YouTube, um Prince und seine Frauenband 3rdeyegirl zu sehen. Let"s go crazy:



Weiteres: Laura Ewert erkundet in der Welt das Phänomen des braven Berliner DJ Frans Zimmer: "Alle Farben nennt er sich, inspiriert durch Friedensreich Hundertwasser. Und so wie Hundertwasser der Künstler für Menschen ist, die nicht auf Vernissagen gehen, macht Alle Farben Techno, oder Elektronische Musik wie man heute sagt, für Leute, die nicht in Clubs gehen." Julia Prosinger und Ulf Lippitz unterhalten sich für Zeit Online mit dem Rapper Cro.

Besprochen werden Daniel Martin Feiges Buch "Philosophie des Jazz", das Willy Hochkeppel in der SZ zumindest dem intendierten Sinn nach für gescheitert erklärt (ein "philosophisch irrelevanter, ansonsten aber achtenswerter Versuch, dem Wesen des Jazz auf den Grund zu kommen"), das neue Album von Chrissie Hynde (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Mike Heron in Berlin (Berliner Zeitung).
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Kunst



Gabriele Detterer besucht für die NZZ im Basler Architekturmuseum eine Werkschau des großen Fritz Haller, dessen Konstruktionen nur gelegentlich zu komplex waren, um realisiert werden zu können - wie etwa sein nach den "Unsichtbaren Städten" von Italo Calvino gedachtes Projekt Amarillo. Ansonsten klappte alles: "Die Beziehung von Idee und Formgestalt im Baudenken von Fritz Haller gründete sich - ähnlich wie die konkrete Kunst der 1950er Jahre und die Minimal Art der 1960er Jahre - auf einer Vorstellung von Schönheit, die aus überzeitlichen räumlichen, objektiven Ordnungsprinzipien resultierte. "Die Idee wird eine Maschine, die Kunst macht" - diese 1967 von Sol LeWitt formulierte Vorstellung beherrschte schon Jahre zuvor Hallers baukünstlerischen Kosmos, in welchem "Ideen zu Maschinen werden, die Architektur machen"." (Foto: Primarschule am Wasgenring © ETH Zürich)

Tendenziell eher achselzuckend wandelt Annegret Erhard (taz) durch eine Ausstellung der Langzeit-Projekte der Künstlerin und Sexualforscherin Maria Eichhorn im Kunsthaus Bregenz. Unter anderem kann man dort auch auf expliziten Wunsch 16mm-Aufnahmen einschlägigen Materials sichten. Was man da erblickt? "Ein Lexikon halt. Die tollkühne Mutprobe, das unvorstellbare Outing, es ist überstanden. Nichts ist passiert. Oder? Eine soziokulturelle Studie zu Tabu, Gesellschaft, Kunst und Verhalten hat in einer originellen Versuchsanordnung je nach Temperament das Schamgefühl stimuliert oder strapaziert."

Für die FAZ hat sich Gina Thomas in London eine Videoinstallation von Saskia Olde Wolbers in der Hackford Road 87 angesehen, wo einst Vincent van Gogh ein Jahr verbracht hat. Heute macht die Wohnung freilich keinen guten Eindruck mehr. "Seltsam, wie suggestiv die bloße Information ist, dass der Ruhm oder, genauer gesagt, der Nachruhm die Hackford Road 87 gestreift hat. Ohne van Gogh wäre das Haus nichts als eine stinkige Bruchbude."

Weiteres: Eine große Schau der Kunsthalle in Karlsruhe arbeitet die Geschichte des seit geraumer Zeit architektonisch umstrittene Hauses auf. Davon zeigt sich Swantje Karich in der FAZ durchaus beeindruckt, auch wenn die Ausstellung um jüngere Diskussionen einen auffälligen Bogen mache. Marc Zitzmann besucht für die NZZ eine Schau zum Orientexpress im Pariser Institut du monde arabe.
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