Efeu - Die Kulturrundschau

Lippkarü! lippkarü! (brchnchsprch)

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2015. Die Welt verzweifelt an der Liebe im 21. Jahrhundert. Was kommt nach der Krise, fragt der Freitag, wird aber auch in der Science-Fiction nicht fündig. In der Zeit hat Wolf Haas mehr Lust auf Zerstörung. Die SZ bewundert kindlichen Trotz und pubertären Übermut des Dramatikers Wolfram Lotz. Die NZZ lässt sich vom Architekten Arno Lederer in die Kunst des Kontextes einweisen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2015 finden Sie hier

Film


Charlotte Gainsbourg und Chiara Mastroianni in "3 Herzen".

Was ist nur im 21. Jahrhundert aus der Amour fou geworden? Reichlich ernüchtert kommt Welt-Rezensent Peter Praschl aus Benoît Jacquots Melodram "3 Herzen": "Noch vor zwanzig Jahren - vor dem Triumph von Austerität, politischer Korrektheit, Realismus, Eskapismusangst - hätte jeder Regisseur diese eine Woche gedreht, in der ein Mann und eine Frau endlich übereinander herfallen und nicht genug davon bekommen können, genug vom elenden Leben in der Mittellage zu haben. 2015 dreht man alles, nur diese eine Woche nicht, und melodramatisiert dem Publikum die allerletzten Flausen aus dem Kopf. Harte Zeiten."

Auch Perlentaucher Janis El-Bira blieb ungerührt: "Das mag an dem etwas zu bitterbösen Vergnügen liegen, das der Film am Scheitern seiner Figuren zeigt. Es riecht zwischen den Bildern und Klängen nach einem Hauch von Verachtung gegenüber deren Unbeherrschtheit, Hilflosigkeit und Naivität." Für ZeitOnline bespricht Martin Schwickert den Film. Cristina Nord (taz) hat sich mit dem Regisseur unterhalten.

Weitere Artikel: Barbara Wurm berichtet in der taz von einer Berliner Veranstaltung der Filmzeitschrift Revolver mit dem ukrainischen Regisseur Sergei Loznitsa, der dort ausführlich über seinen Dokumentarfilm "Maidan" sprach. Die Spex bringt einen Essay von Drehli Robnik über Jacques Tatis "Playtime", der dieser Tage in einer aufwändigen Box wieder auf DVD erscheint: "Noch bevor der Postfordismus die kapitalisierte Welt richtig erfasste, fand er bei Tati prägnante Bild-Formen, die erkenntnisfähig, einsichtig (und mehrschichtig) sind." In der taz empfiehlt Thomas Groh Adam Wingards Thriller "The Guest", der am kommenden Wochenende bei den Fantasy Filmfest Nights in Berlin zu sehen ist. Für die SZ hat Susan Vahabzadeh mit Josef Hader getroffen, der ab dieser Woche in "Das ewige Leben" (unsere Besprechung hier) wieder als Ermittler Brenner im Kino zu sehen ist. Verena Lueken (FAZ) und David Steinitz (SZ) gratulieren Bruce Willis zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden Helmut Käutners auf DVD veröffentlichter Film "Epilog - Das Geheimnis der Orplid" (taz), der Science-Fiction-Film "Predestination" mit Ethan Hawke (Freitag), Stanislaw Muchas Dokumentarfilm "Tristia - Eine Schwarzmeer-Odyssee" (taz), J. C. Chandors "A Most Violent Year" (Freitag, Tagesspiegel, Welt) und der Animationsfilm "Shaun das Schaf" (taz, Berliner Zeitung).
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Kunst


Gerhard Altenbourg, Mein Bruder, das fraßlüsterne Schwein, 1949. © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Im Kupferstichkabinett in Berlin lässt sich derzeit der seinerzeit in der DDR gegängelte Außenseiterkünstler Gerhard Altenbourg wiederentdecken, freut sich Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung: Seine Zeichnungen sind "exzentrisch. Das war sein Schutzschild - gegen den robusten Sozialistischen Realismus. Alles ist Wuchs, Wucherung und nervöse Verästelung der Linien. Wie Flechten breiten sich Strich und Gestrichel über die Bildfläche aus, als wäre das Papier Waldboden, Baumhöhlung, Felsspalte, Vagina, aber auch leere Augenhöhle, zerschossener Körper, zerstörte Behausung, zertretener Garten Eden."

Besprochen werden ein Band über "Die Malerei der deutschen Renaissance" (NZZ) und eine Ausstellung mit Blumendesign im Kunsthaus Aarau (NZZ).
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Musik

Nadine Lange staunt im Tagesspiegel über den Erfolg der aktuellen, britischen Singer-Songwriter-Welle. In der Welt meint Michael Pilz: "Pop ist ein Plagiat", ist mit dem Plagiatsurteil gegen Pharrell Williams aber dennoch einverstanden. In der FAZ schreibt Edo Reents zum Tod des Bluesrock-Bassisten Andy Fraser.

Besprochen werden das neue Album "Hinterland" von Lonelady (Spex), Kendrik Lamars "To Pimp A Butterfly" (Spex), Aksak Mabouls "Ex-Futur Album" (taz), ein Konzert der Pianistin Junghee Ryu (Tagesspiegel), ein Konzert von Element of Crime (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), ein Konzert von Evan Dando (Berliner Zeitung), ein Konzert von Philippe Jaroussky (Tagesspiegel) und Dagoberts neues Album "Afrika" (SZ).
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Literatur

Science-Fiction hat die für dieses Genre einst einschlägigen Verlage längst hinter sich gelassen, stellt Florian Schmid im Freitag nach der Lektüre neuer Romane von Leif Randt (mehr), Kevin Barry (mehr) und Jeff VanderMeer (hier und hier) fest. Die Werke unterscheiden sich zwar stark voneinander, weisen aber auch eine Gemeinsamkeit auf: Sie "erzählen von krisenhaften Einbrüchen in ein mehr oder weniger funktionierendes gesellschaftliches Gefüge. ... Was nach der Krise kommen kann - sei es der Untergang oder ein utopischer Neuanfang -, thematisieren diese Romane nicht. Dabei wäre das, wenn nicht die spannendste, so doch die dringlichste Frage."

Der Kritik von Georg Diez auf SpiegelOnline an der Vergabe des Leipziger Buchpreises an den Lyriker Jan Wagner und an der deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt widerspricht Jan Dress im Freitag: "Gefühlt jedes Jahr kommen diese Forderungen auf nach einer neuen, relevanteren, urbaneren, weiblicheren oder weniger akademischen deutschen Literatur, gern auch mit Hinweis auf US-amerikanische Vorbilder. Doch diese Literatur ist da, auch wenn 95 Prozent belangloser Quatsch sein mag, aber 95 Prozent belanglosen Quatsch gibt es auch anderswo, im Film oder in der Regionalküche. Ausgerechnet Jan Wagner für diese 95 Prozent Quatsch haftbar zu machen, ist Unsinn."

Im Dossier der Zeit unterhalten sich Peter Kümmel und Sabine Rückert auf drei Seiten höchst unterhaltsam mit Wolf Haas über Krimis und das Schreiben: "Abkürzen ist für mich das Allerlustvollste. Ich habe schon oft ein langes Kapitel auf einen Satz zusammengekürzt. Das ist eine Zerstörungslust... Ich habe einmal einen gotischen Dom in Burgund besichtigt, da gibt es Stellen, wo die Säulen übergehen in die Kuppeln, und diese Stellen sind immer verziert: Das ist der nervöse Punkt, wo tragende und lastende Stellen zusammenstoßen. Um diesen Punkt dreht sich alles. Dieser Gedanke erregt mich richtig."

Außerdem druckt die Zeit die letzten Tagebucheinträge, in denen Fritz J. Raddatz die letzten Wochen vor seinem geplanten Selbstmord dokumentiert: "Hamburg, Januar 2015. Dieses Todes-Karussell sirrt weiter. Ich mache Termine, von denen ich weiß, ich werde sie nicht mehr einhalten."

Weitere Artikel: Auf faust kultur porträtiert Daniel Kahn den 1913 geborenen weißrussischen Dichter Abraham Sutzkever. Im Freitag befassen sich Millay Hyat (hier) und Jana Volkmann (hier) mit Fragen nach der handschriftlichen Widmung in Büchern im Ebook-Zeitalter. Und Christoph Leusch erinnert sich an Fritz J. Raddatz. Hans-Peter Kunisch resümiert in der SZ die 15. lit.Cologne, die "zwischen dem spürbaren literarisch-politischen Anspruch und der Neigung, süffigen Boulevard zu favorisieren", schwanke.

Besprochen werden Ulrike Draesners "subsong"-Gedichte (Beatrice Matt, NZZ; gefallen besonders gut die "Vogelstimmen-Gedichte in der Abteilung "lippkarü! lippkarü! (brchnchsprch)""), Peter Richters "89/90" (Freitag), Nina Bunjevacs Comic "Vaterland" (Freitag), Hilary Mantels Autobiografie (Zeit), Rody Doyles "Punk is Dad" (CulturMag), Graham Greenes "Reise ohne Landkarten" (CulturMag), Anna Quindlens "Ein Jahr auf dem Land" (FR), Helen Hessels "Ich schreibe aus Paris" (CulturMag), Tanja Maljartschuks "Von Hasen und anderen Europäern" (CulturMag), Scott McClouds neuer Comic "Der Bildhauer" (SZ, mehr) und Valerie Fritschs "Winters Garten" (FAZ, unsere Leseprobe).
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Bühne

Die Theater reißen sich um die Stücke des jungen Autors Wolfram Lotz, mit dem sich Mounia Meiborg für ein SZ-Porträt in Berlin getroffen hat: "Er macht Werbeslogans mit Lautverschiebungen zu Nonsens-Sätzen, liebt Alliterationen und imitiert kunstvoll Floskeln und Alltagssprache. ... Kindlicher Trotz und pubertärer Übermut verbinden sich bei Wolfram Lotz, wenn es gut läuft, zu einer visionären Kraft."

Im Aufmacher der Zeit unterhält sich Peter Kümmel ausführlich mit Frank Castorf, der sich nur mit Mühe an den Gedanken gewöhnen kann, nach 25 Jahren im kommenden Jahr als Leiter der Berlin Volksbühne abzutreten: "Es gibt ein großes Interesse in Berlin daran, dass ich aufhöre. im Alten Testament heißt es: Sie sind weder heiß noch kalt. Ach wären sie doch heiß und kalt und nicht lau. Und Berlin ist nicht lau, aber cool geworden. Coolness ist nicht meine Temperatur. Daher ist dies vielleicht die rechte Zeit für Veränderungen; so ein Theater ist ja kein Erbhof."

Weitere Artikel: Christian Wildhagen besuchte für die NZZ das von Serge Dorny veranstaltete Opernfestival "Jardins mystérieux" in Lyon. Ulrich Amling (Tagesspiegel) schreibt über die Programmankündigungen der Komischen Oper in Berlin. In der FR berichtet Sylvia Staude von Jacopo Godanis Plänen für die kommende Saison der Forsythe Company. Raphael Groß (FAZ) schreibt zum Tod von Buddy Elias.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Zdeněk Fibichs bereits 1884 komponierter Oper "Die Braut von Messina" am Theater Magedeburg (FAZ-Kritiker Jan Brachmann schmilzt förmlich dahin: "Was diese Oper auszeichnet, das ist der milde Schleier der Melancholie, den die Musik über das Drama legt") und der Dortmunder Ballettabend b.23 mit Choreografien von Martin Schläpfer, Mats Ek und Brigitta Luisa Merki (FAZ).
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Architektur

Im neuen, von Coop Himmelb(l)au konzipierten und gestern unter heftigem Krawall eröffneten Gebäude der Europäischen Zentralbank in Frankfurt zeichnet sich nach Felix Stephans Ansicht (ZeitOnline) eine typische Entwicklung der letzten Jahre ab: "Macht und Dominanz werden heute oft nicht mehr durch monolithische Zentralbauten symbolisiert, sondern durch spiritualistische Harmoniesymbole. Von oben erinnert das Gebäude an das Yin-Yang-Emblem ... Als europäische Regulierungsbank möchte die EZB nicht traditionelle Patriarchen-Potenz repräsentieren, sondern Gleichgewicht und Stabilität." Gleichzeitig schirme das Gebäude jedoch die Menschen, die darin arbeiten, von der "sozialen Realität" ab.

Jürgen Tietz fährt für die NZZ mit Arno Lederer vom Stuttgarter Architekturbüro Lederer, Ragnarsdóttir, Oei im Auto von Stuttgart über Ulm nach Ravensburg und über Rottenburg zurück nach Stuttgart und lässt sich erklären, warum die Auseinandersetzung mit einem Ort und seiner Geschichte Voraussetzung für modernes Bauen ist: "Diese Kunst des Kontextes kennzeichnet auch das Museum in Ravensburg, das mit seinen Mauern aus wiederverwendeten Ziegeln eine sanft gewellte Dachlandschaft erzeugt und auf dem wenigen Platz, der an der Stadtkante zur Verfügung stand, eine wunderbar intime Eingangssituation schafft. Dass dabei auch noch der Passivhausstandard eingehalten werden konnte, erscheint als besondere Zugabe. ... Wie die Dachentwässerung hier mit offener Rinne gleich einem senkrechten Brunnen an der mörtelschön gefugten Ziegelwand hinabgeführt wird, das berührt ebenso wie die gemauerten Gewölbe im obersten Ausstellungsgeschoss." (Bild: Kunstmuseum Ravensburg, LRO Architekten)
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