Efeu - Die Kulturrundschau

Es faucht der dampfende Hocker

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07.12.2015. Hingerissen sind die Theaterkritiker von Michael Thalheimers Inszenierung der "Penthesilea": pures Schauspiel- und Texttheater und dann auch noch kein bisschen konfliktscheu. Dass es das noch gibt! Kein Pardon gibts für Alvis Hermanis, der die Flüchtlingspolitik Deutschlands im Allgemeinen und des Thalia Theaters im Besonderen kritisiert. Wenig Sympathie hat die Zeit auch für die innige Balance des Künstlers Jeppe Hein. Und: Nikolaus Harnoncourt verkündet seinen Rückzug.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2015 finden Sie hier

Bühne


Felix Rech und Contanze Becker in "Penthesilea". Foto: © Birgit Hupfeld

Einen "großen Theaterabend" konnte man laut Hubert Spiegel in der FAZ mit Michael Thalheimers Inszenierung von Kleists "Penthesilea" am Frankfurter Schauspiel erleben - obwohl, oder gerade weil der Regisseur beherzt in den Text eingegriffen hat. Von einem "schroffen Fremdkörper im Gegenwartstheater" spricht der von den Schauspielleistungen regelrecht umgeblasene SZ-Kritiker Peter Laudenbach. Dass es bei Thalheimer knackig zur Sache geht, findet er gerade gut: "Während sich viele seiner Regie-Kollegen mit Ironie, Kommentar und allerlei weich gezeichneten Befindlichkeiten am wohlsten fühlen, weicht Thalheimers Theater den harten, auch ausweglosen Konflikten nicht aus." In der nachtkritik schwärmt Grete Götze: "Eigentlich ist diese 'Penthesilea' nur eine strenge Inszenierung eines grandiosen, fast unspielbaren Textes mit ein paar langen Strichen und Neuzuordnungen. Aber Michael Thalheimer kann das einfach sehr gut. Der unerträglichen Tragik, die den Figuren innewohnt, entkommen die Schauspieler, in dem sie die Perspektive wechseln, mal in der ersten und mal in der dritten Person sprechen, mal als sie selbst, mal aus anderer Perspektive. Dieser Abend ist Texttheater und Schauspielertheater pur."

Viel Wirbel hat Alvis Hermanis' Rückzug aus dem Hamburger Thalia Theater ausgelöst. Er wolle dort nicht mehr inszenieren, weil er die Flüchtlingspolitik des Theaters nicht unterstütze, hatte er gesagt. In einer Stellungnahme gegenüber der nachtkritik wird er konkreter: "Is it still the tabu in Germany to connect emigration policy and terrorism? After speaking with a people from Thalia Theater I understood that they are not open for different opinions. They are identifying themselves with a refugee-welcome center. Yes, I do not want to participate in this. Can I afford to have my own choice and my own opinions?"

Till Briegleb findet das in der SZ "absurd". Für einen Rassisten hält er den Regisseur deshalb nicht (anders als Stefan Grund in der Welt), doch "als ein respektierter Intellektueller der europäischen Kulturszene muss sich Alvis Hermanis fragen lassen, warum er mit derartig kurz gedachten Wutreden und pauschalisierenden Tiraden gegen die humanitäre Flüchtlingspolitik in Deutschland sich unter jene einreiht, die dieser komplexen Krise nur mit Ressentiments und Unterstellungen begegnen." Im Deutschlandradio Kultur macht Michael Laages das ganz große Fass auf: "Kann sein, dass Alvis Hermanis ein bedeutender Theaterkünstler ist - seit heute aber hat er sich außerhalb der Gemeinschaft derer gestellt, die Menschen mit anderer Überzeugung nicht gleich mit Kriegserklärungen überziehen."

Interessant auch Michael Thalheimers Interview mit dem Wiesbadener Kurier, in dem er - einige Tage vor Alvis Hermanis' Absage in Hamburg - den politischen Aktivismus im heutigen Theater (mehr dazu in der SZ) kritisiert: "Es ist Mode geworden, Aufgaben zu übernehmen, für die andere Institutionen zuständig sind. Wenn neue Intendanten ihr Programm vorstellen, habe ich häufig den Eindruck, dass Amnesty International, die Obdachlosenhilfe und das Flüchtlingshilfswerk einen gemeinsamen Zukunftsort kreiert haben. Was aber komplett vergessen wird: es handelt sich um ein Theater. Diese Kollegen biedern sich einerseits dem Zeitgeist an und ignorieren andererseits die Aufgaben des Theaters. Dahinter verbirgt sich eine große Lüge."

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Matthias Lilienthal von seiner Reise im Auftrag der Münchner Kammerspiele nach Beirut (dazu passend: beim Bayerischen Rundfunk gibt es gerade ein Feature über Lilienthal im Online-Angebot).

Besprochen werden Herbert Fritschs Inszenierung von Molières "Der eingebildete Kranke" am Burgtheater (Foto: Reinhard Werner. Fritsch hat "dem Theater Hanswurst zurückgebracht", freut sich Uwe Mattheiss in der taz, "laut und billig", schimpft Norbert Mayer in der Presse, "Ja, mit dem Hammer inszenieren, das kann Fritsch", lobt Theresa Luise Gindlstrasser in der nachtkritik, "Man lacht sich kaputt", versichert Margarete Affenzeller im Standard, "Gesellschaftskritik, die ans Eingeweide, pardon: Eingemachte geht", applaudiert die NZZ), Nino Haratischwilis "Zorn" am Theater Freiburg (nachtkritik), Karin Beiers "Schiff der Träume" nach Fellini am Hamburger Schauspielhaus (nachtkritik), René Polleschs "Service/No Service" an der Volksbühne Berlin (SZ, mehr dazu hier), Stefan Puchers Ibsen-Inszenierung "Nora" am Deutschen Theater in Berlin ("kommt überhaupt nicht in den Groove", klagt Ulrich Seidler in der FR und auch Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel stöhnt: "Hier stimmt nichts"), Maja Haderlaps Dramatisierung von Christine Lavants Erzählung "Das Wechselbälgchen" am Wiener Volkstheater (Presse, Standard), Christoph Marthalers Inszenierung "Tessa Blomstedt gibt nicht auf" in Zürich (NZZ) und Huan-Hsiung Lis Duisburger Inszenierung von Giacomo Puccinis "Turandot" (Malte Hemmerich berichtet in der FAZ von einem "Abend voll flüchtiger Symbolik").
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Musik

Nikolaus Harnoncourt verkündet seinen Rücktritt, meldet unter anderem ZeitOnline, wo auch die handschriftliche Notiz des Dirigenten dokumentiert ist: "Liebes Publikum, meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne." "Ein epochaler Einschnitt", bedauert Christian Wildhagen in der NZZ.

Besprochen werden Konzertreigen mit dem Collegium Novum Zürich (NZZ) und der Gesprächsband "Das Geheimnis liegt in der Stille" mit dem Dirigenten Riccardo Chailly (SZ).
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Kunst


Jeppe Hein: 360° Illusion III, 2007. Foto: Marek Kruszewski, © Jeppe Hein

Jeppe Hein, einst vom Markt gefeiert, dann vom Burn-Out heimgesucht, meldet sich mit einer großen Ausstellung in Wolfsburg zurück und gibt sich nun esoterisch-tiefgründelnd geläutert, beobachtet Hanno Rauterberg von der Zeit und macht keinen Hehl daraus, davon durchaus befremdet zu sein. Hein "schwärmt von inniger Balance und Meditation, in seiner Ausstellung aber geht es zu wie auf einem Jahrmarkt. Es zischen Wasserfontänen, es faucht der dampfende Hocker, es herrscht ein Durcheinander der Effekte und Affekte, dass es jedem, der tatsächlich Besinnung sucht, ein Graus sein muss." Und zur Hektik des Marktes gehe der Künstler auch nicht auf Distanz: Er füttere weiterhin "die gierige Flamme nach Kräften (...), mit dem entscheidenden Unterschied, dass er heute ruhig und entspannt in seiner Zehlendorfer Yoga-Laube sitzt, während seine Mitarbeiter sehen dürfen, wie sie mit dem wachsenden Druck zurechtkommen. Heins Lehre heißt: Werde reich, und bürde deine Probleme anderen auf."

Weiteres: Brigitte Werneburg (taz) und Christiane Meixner (Tagesspiegel) resümieren die Art Basel/Miami Beach.

Besprochen wird die dem kaum kategorisierbarem Undergroundkünstler Harry Smith gewidmete Schau in der Temporary Gallery in Köln (SZ).
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Literatur

Besprochen werden neue Superheldinnen-Comics (taz), Karl-Heinz Otts "Die Auferstehung" (SZ, mehr dazu hier) und Michael Robothams "Um Leben und Tod" (FAZ).

Für die (online nachgereichte) Frankfurter Anthologie befasst sich Rüdiger Görner mit Max Dauthendeys Gedicht "Nacht vor dem Haus":

"Dort in der rauschenden Nacht, schlafender Mandelbaum,
Meine Lampe bescheint dich streichelnd im finsteren Raum.
..."
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Architektur

Für die SZ wirft Alexander Menden einen kritischen Blick auf das Olympische Dorf in London und wie es sich drei Jahre nach den Spielen in die Stadt eingliedert: "Während Hunderte von Millionen in die hochkulturelle Infrastruktur von Olympicopolis gepumpt werden, zwingt die Regierung die Stadtteilverwaltungen von Newham, Tower Hamlets und Hackney zu drastischen Kürzungen bei alltäglichen Dienstleistungen, von der Müllentsorgung bis zu sozialen Diensten. Driften die Entwicklungen inner- und außerhalb des Olympiaparks weiter so auseinander, wird das geplante Kulturviertel eine künstliche Kunstinsel bleiben."

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Film



"Das Theater", sagt Bruno Ganz im Interview mit dem Standard, "ist mir einfach abhandengekommen". Dafür spielt er jetzt in Alain Gsponers Neuverfilmung der "Heidi" den Almöhi: "Gsponer hat einen sehr guten Film gemacht, das Familiendrama 'Rose', den habe ich sehr gemocht. Der entscheidende Punkt war aber, dass Heidi nun einmal ein nationaler Mythos ist und ich Schweizer bin, der viel Zeit im Ausland verbracht hat. Heidi zu drehen war wie eine Rückkehr, wenn Sie so wollen: ein patriotischer Akt. Ich wollte einmal teilnehmen an einem richtigen schweizerischen Ding."

Der Filmhistoriker Rolf Giesen, Experte für den fantastischen Film und handgemachte Special Effects, bläst in der FAZ ziemlichTrübsal angesichts der zwar quantitativen Fülle des deutschen Animationsfilms, die aber partout nicht in Qualität umschlagen wolle: In seiner Ausrichtung auf den bloßen Kinderfilm werde "Banalität standardisiert" und im Gegensatz zu Animationsfilmen aus Übersee "bleiben deutsche Figuren im Klischee stecken."

Weiteres: Für die Berliner Zeitung spricht Ulrich Lössl mit der Schauspielerin Greta Gerwig, deren neuer Film "Mistress America" diese Woche in den Kinos startet. Gunda Bartels vom Tagesspiegel trifft sich mit Geraldine Chaplin. In der Jungle World würdigt Paulette Gensler die britische Serie "Downtown Abbey", die mit der aktuellen Staffel eingestellt wird. FAZler Jörg Michael Seewald spricht mit Hans W. Geißendörfer über 30 Jahre "Lindenstraße". Im Tagesspiegel gratuliert Peter von Becker Hans-Jürgen Syberberg zum 80. Geburtstag (der Bayerische Rundfunk hat aus diesem Anlass Georg Seeßlens und Markus Metz' ausführliches Radioporträt des ungewöhnlichen deutschen Filmemachers wieder online gestellt).

Besprochen werden Quentin Dupieuxs auf Heimkinomedien erschienene Komödie "Reality" (ein "völlig wahnsinniger Experimentalspielfilm", jubelt David Steinitz in der SZ), Sékou Nebletts HipHop-Mockumentary "Blacktape" (Tagesspiegel), Nanni Morettis "Mia Madre" (Zeit) und ein Prachtband über Charlie Chaplin (CulturMag).
Archiv: Film