Efeu - Die Kulturrundschau

Diese Mischung aus Nonchalance und Desinteresse

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2016. Der Standard erschauert in Wien vor der abgründigen Schönheit von Sigalit Landaus Kunst. Die FAZ fragt, warum William Kentridge eigentlich nicht den Berliner Flughafen bespielen darf. In Cannes wurde Olivier Assayas' Geisterfilm  Personal Shopper" ausgebuht, fand aber auch entschiedene Anhänger. Slate.fr vergibt auf jeden Fall die Palme Dog an Marvin für seine tragende Rolle in Jim Jarmuschs "Paterson".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2016 finden Sie hier

Kunst


Still aus Sigalit Landaus Film "Dead Sea" von 2005. Bild: Wiener Festwochen

Die Wiener Festwochen widmen der israelischen Künstlerin Sigalit Landau eine große Retrospektive. Im Standard warnt Anne Katrin Fessler davor, sich von der verführerischen Schönheit der Arbeiten einlullen zu lassen: "So transformieren sich eindringlich schöne Bilder in den Sorrow Grove, Landaus Hain aus Trauer und Schmerz. Dort schwingt sie Stacheldraht-Hula-Hoops um ihren nackten Leib (Barbed Hula, 2000) oder verpackt den Kummer über allgegenwärtige Aggression in Bilder von Olivenbäumen (Hineni, 2012), Sinnbilder des Friedens, die mit extremer Gewalt gerüttelt werden. Die Wassermelonen etwa, die in DeadSee (2005) auf dem Salzgewässer des Toten Meeres diesen wundersamen Teppich formen, sie sind - schon allein wegen ihres roten Fleisches - für Landau Metaphern des Körpers."

Keine gewöhnliche William-Kentridge-Schau zeigt der Gropiusbau in Berlin, sondern gleich die ganz große Kentridge-Oper mit allem, was dazugehört. Andreas Kilb lässt sich in der FAZ davon nur kurz stören: "Wenn man das Programm liest, fragt man sich, warum Kentridge nicht gleich den ganzen Berliner Flughafen BER bespielt, möglichst bis zur ins Unendliche hinausgeschobenen Eröffnung. Das Zeug dazu hätte er. Dennoch fällt es schwer, in der Kunst von Kentridge die Marktgroßmacht zu sehen, die sie ist. Dafür wirkt sie zu intim. Gleich der erste Ausstellungsraum zieht den Betrachter in ein Spiel mit bewegten Bildern, das zugleich kindlich und philosophisch durchtrieben daherkommt. ... Er ist der Meister und das spielende Kind, der Konstrukteur und Zerstörer der Zeit."

Weiteres: Das Kunstmuseum São Paulo hat die von Lina Bo Bardi 1968 eingeführte, 1996 entfernte Sammlungspräsentation "mit den in Betonkuben steckenden Scheiben wieder eingeführt", berichtet Kolja Reichert in der FAZ.

Besprochen werden eine Ausstellung über Wildwest-Comics im Deutschen Zeitungsmuseum Wadgassen (taz), die Carl-Andre-Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin (Tagesspiegel), zwei Berliner Adolf-Fleischmann-Ausstellungen im Medizinhistorisches Museum der Charité und in der Daimler Contemporary (Tagesspiegel), eine Ausstellung zum Koran im Pergamonmuseum Berlin (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Enthüllt! Berlin und seine Denkmäler" in der Zitadelle Spandau (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Im Guardian stellt Alison Flood die koreanische Autorin Han Kang vor, die in diesem Jahr für ihren Roman "The Vegetarian" den Man Booker International Prize erhält. Der Roman erzählt von einer jungen Frau, die ein Baum werden möchte.

Der SWR bringt einen großen Radioessay von Christian Schärf über John Dos Passos' in einer neuen Übersetzung vorliegenden "Manhattan Transfer" und den Großstadtroman.

Besprochen werden Sarit Yishai-Levis "Die Schönheitskönigin von Jerusalem" (FR), Nicholas Shakespeares "Broken Hill" (Tagesspiegel), die Gesamtausgabe des Comics "Green Manor" (Tagesspiegel), Johannes Ehrmanns "Großer Bruder Zorn" (SZ) und Colin Barretts Erzählungsband "Junge Wölfe" (FAZ). Außerdem ist eine prall gefüllte neue Ausgabe des CrimeMag mit vielen Krimi- und Thriller-Rezensionen erschienen.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Kang, Han, SWR

Film


Hui? Buh! - Kristen Stewart auf melancholischer Suche in Olivier Assayas' Geisterfilm "Personal Shopper".

Cannes scheint sich gerade auf Routine einzupendeln. Filme von Pedro Almodóvar, Jim Jarmusch und Jeff Nichols werden ohne allzu viel Aufhebens nebenbei besprochen, nur bei Olivier Assayas' Geisterfilm "Personal Shopper" mit Kristen Stewart geriet die Presse in Wallung: Dem Vernehmen nach wurde kräftig gebuht. Tim Caspar Boehmes taz-Kolumne ist davon nichts anzumerken: Der Film beginne "wie eine melancholische Suche nach Kontakt zum Jenseits, spart im weiteren Verlauf aber nicht mit handfestem Grusel, der sich konstant steigert." Auf Slate.fr nennt auch Jean-Michel Frodon Assayas' Film den bisher kühnsten Film, der tief "in die Abgründe der Trauer und die okkulte Macht der Kunst" eintauche.

In seiner sehr abwägenden Kritik hält Frédéric Jaeger von critic.de den Film für "gleichzeitig durchdacht und völlig unreif", im Ergebnis jedenfalls außerordentlich interessant: "Die Verweise auf das selbstreferenzielle Horrorkino à la 'Scream' (1996) legen falsche Fährten, weil es hier viel stärker um die Reduktion als um das Genrespiel geht. Als kleine Produktion eingeschoben, weil ein anderes Projekt sich zerschlug, hat der Film gerade im Vergleich zu 'Die Wolken von Sils Maria', 'Die wilde Zeit' (2012) oder 'Carlos' (2010) einen anarchischen Touch. Das erklärt, gerade im Wettbewerb von Cannes, eine gewisse Ratlosigkeit, vielleicht auch die Wut und manches Gelächter. Das Festival kultiviert in den Hauptreihen immerhin nur selten die Öffnung für narrative Inkohärenz und nur so weit, wie stilistische Kohärenz sie ersetzt." Jan Schulz-Ojala vom Tagesspiegel bezeugt einen "Hokuspokusfilm".

Der Hund Marvin spielt in dem neuen Film von Jim Jarmusch, der in Cannes große Erfolge feiert, eine tragende Rolle. Und er verdient (leider posthum, denn er ist inzwischen verstorben) die "Palme Dog", schreibt Vincent Manilève bei Slate.fr: "Er spricht nicht, klar, aber sein Gesichtsausdruck (diese Mischung aus Nonchalance und Desinteresse) reicht schon, um ihn zum Teil der Konversation zu machen und bringt einen natürlich auch zum Lachen. Andere Einstellungen zeigen ihn zum Beispiel, wie er auf dem Sessel seines Herren sitzt, als wollte er ihn provozieren. Am stärksten ist aber, dass er, ganz wie ein professioneller Jarmusch-Schauspieler zu neunzig Prozent der Zeit gar nichts macht."



Weitere Cannes-Besprechungen auf den fleißig aktualisierten Websites von Kino-Zeit und critic.de. Internationale Pressespiegel bietet David Hudson auf KeyframeDaily. Im Perlentaucher bilanziert Lutz Meier die ersten Tage des Festivals.

Außerdem: Früher waren Actionfilme die Referenz für Videogames, heute haben die Games den Filmen längst den Rang abgelaufen, was "Tempo, Überraschungen, atmosphärische Intensität, die Adrenalisierung der Welt" betrifft, beobachtet David Hugendick auf ZeitOnline. Besprochen wird Bryan Singers neue Superheldensause aus dem "X-Men"-Franchise (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Benjamin Moldenhauer auf SpiegelOnline ist begeistert von "Gewalt", der neuen Noise-Rockband des einstigen "Surrogat"-Frontmanns Patrick Wagner, der ganz wie in alten Tagen auf Krawall gebürstet ist: "Alles wirkt sorgfältig verkrampft und gepresst. Damit stehen 'Gewalt' in der vor allem um Gemütlichkeit bemühten deutschen Indierock-Landschaft zurzeit recht singulär da. Die ersten Fanreaktionen deuten darauf hin, dass diese Band und die von ihr abstrahlende Dringlichkeit bei vielen auf große Resonanz stoßen könnte. Kann aber auch sein, dass das Ganze nur eine kurze Eruption bleibt. Die Sperrigkeit der Musik findet ihre Entsprechung nämlich in der Verweigerung gängiger Verkaufsstrategien." Zu Musikvideos reicht es dann aber doch:



Weitere Artikel: In der Zeit führt Adam Soboczynski durch das Schaffen Udo Lindenbergs, der gestern 70 Jahre alt geworden ist. Im Nachtstudio des Bayerischen Rundfunks geht Jens Balzer den Klängen geisterhaft klingender, bis an den Nullpunkt entschleunigter Popmusik von Witchhouse bis Grimes nach (hier als mp3 zum Nachhören). Außerdem: Ein sehr hörenswertes Radiofeature des Bayerischen Rundfunks beleuchtet die Geschichte der legendären Münchener Punkaktivisten von "Freizeit 81". Volker Hagedorn rettet in der Zeit den Komponisten Erik Satie vor seinen Bewunderern, die mit diesem nur allzu gern Schule machen. Im Welt-Interview mit Lucas Wiegelmann spricht Massimo Palombella, der Leiter des päpstlichen Privatchors, über den katholischen Klang und die Akustik in der Sixtinischen Kapelle.

Besprochen werden das Pfingstkonzert der Berliner Symponiker (Tagesspiegel), ein Konzert des Multimediakomponisten Philip Jeck (taz) und ein Konzert des Barockensembles Il Profondo (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Bühne


Metamorphoses 3° von Bara Kolenc und Atej Tutta beim Stückemarkt. Bild: Atej Tutta

Für den Tagesspiegel besuchte Patrick Wildermann den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens: "Alle fünf eingeladenen beziehungsweise gelesenen Arbeiten haben 'Macht, Gewalt, Krise und Krieg' zum Thema. Dauerbrenner quasi." Doch so recht überzeugt klingt sein Fazit indes nicht: "Im Grunde müsste man sich nur in Repertoire-Vorstellungen des Gorki-Theaters setzen, um viele Stückemarkt-Themen gegenwartsnäher erzählt zu bekommen."

Katrin Bettina Müller hat sich unterdessen die zwei beim Theatertreffen gezeigten Ibsen-Stücke angesehen: Stefan Puchers Zürcher "Volksfeind"-Inszenierung in einer Textbearbeitung von Dietmar Dath sowie Simon Stones für das das Theater Basel entstandene "John Gabriel Borkman"-Inszenierung. Dem über beide Stücke geäußerten Verdikt, "nur oberflächlich unterhaltsam zu sein", mag sich die taz-Kritikerin nicht anschließen: "Sie sind beide von einem tiefen Pessimismus gezeichnet, was Kapitalismus, Demokratie und das Entwickeln von Utopien angeht. Mit Dietmar Dath haben sich zudem Janis El-Bira und Falk Rößler für das Theatertreffen-Blog unterhalten - hier kann man das Gespräch nachhören:
 

In der Münchner "Meistersinger"-Inszenierung können Welt-Kritiker Manuel Brug eigentlich nur Dirigent Kirill Petrenko und Tenor Jonas Kaufmann überzeugen. Regisseur David Bösch nennt er etwas böse einen Konfektionär: "Diese 'Meistersinger' sind bereits seine fünfte Münchner Arbeit - und sie sind spürbar zu schwer. Er will die nationale Komödie nicht politisch befrachten, möchte sich im Kunstdiskurs nicht festlegen, nur eine gute Wagner-Zeit haben. Die bleibt an Oberfläche und der Bühnenrampe." Besprechungen gibt es auch in SZ und FAZ.

Weiteres: In der NZZ berichtet Christian Wildhagen eigentlich recht angetan von Cecilia Bartolis Salzburger Themen-Festival zu "Romeo und Julia". Dass Bartoli selbst jedoch unbedingt die Maria in Leonard Bernsteins "Westside Story" geben musste, hält er für eine echte Grille. Für die SZ besucht Alexander Menden Emma Rice, die neue Direktorin des Londoner Globe Theatre. Besprochen wird Hans-Werner Kroesingers und Regine Duras beim Theatertreffen in Berlin gezeigter Dokumentartheaterabend "Stolpersteine Staatstheater" (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne