Efeu - Die Kulturrundschau

Es geht ja ums Erschrecken und Aufrütteln

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23.11.2018. Die Filmkritiker feiern Herbert Achternbuschs Achtzigsten mit Liebeserklärungen an den großen Grübler, Spinner, Biertrinker, Provokateur und Poeten. Die SZ bewegt sich zum Parliament-Groove George Clintons. Die taz hört dreckigen Funk von Waajeed. Im Interview mit Tell erklärt der Linguist Hossam Abouzahr, warum das Hocharabische bei arabischen Muttersprachlern keinen allzu guten Ruf genießt. Die SZ fragt sich mit Victor Papanek: Wann ist Design gut, wann böse?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.11.2018 finden Sie hier

Film

Das war'n Zeiten: Herbert Achternbusch als Jesus-Wiedergänger in seinem Film "Das Gespenst", 1982


Der große bayerische Film-Anarchist Herbert Achternbusch wird achtzig Jahre alt, da blicken die Kritiker gern mal zurück. Er ist vieles auf einmal, schreibt Christine Dössel in der SZ: "Achternbusch, der Grübler, der Spinner, der Biertrinker, der Provokateur und Poet. Achternbusch, der Tausendsassa. Ein Charakterkopf, ein Dickschädel, ein Kindskopf auch. Gesegnet mit einer unbändigen, ungebändigten Fantasie. Ein Künstler durch und durch, ein Unangepasster, ewig Suchender, Spielender. ... Achternbusch ist mit seinem subversiv-sarkastischen Humor der einzig legitime Nachfolger von Karl Valentin. Und auch der Einzige, den Deutschland ohne Gesichts- und Witzverlust in eine Arena mit Monty Python hätte schicken können." Der BR hat zu Achternbusch Geburtstag dessen Hörspiel "Meine Grabinschrift" von 1996 online gestellt, außerdem liest Achternbusch beim BR.

In der FAZ würdigt Claudius Seidl diesen Filmkünstler, der wie kaum ein zweiter hierzulande "so unabweisbar vorgeführt hat, dass ein armes Kino so unendlich viel reicher ist, als es die mittelteuren Produktionen mit ihren mittelguten Drehbüchern und ihren mittleren Ambitionen sind. 'Bierkampf', der Film mit dem Achternbusch berühmt wurde, zeigte, wie Achternbusch, als halbverrückter Polizist, in ein Oktoberfestzelt eindringt, dort die Menschen beim Saufen stört oder unterbricht, grausame Scherze macht und sehr aufpassen muss, dass er dafür nicht verdroschen wird. Drehgenehmigung gab es keine, Statisten auch nicht; er ist da halt hineingegangen mit seinem Kameramann. Heute würde man das als immersiv und Performancekunst preisen." Das sah dann so aus:



Weitere Artikel: Für ZeitOnline spricht Gabriele Pinkert mit Regissuer Philip Gröning über dessen neuen (in Tagesspiegel und Berliner Zeitung besprochenen) Film "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" (mehr dazu hier). Dem Berliner Publikum empfiehlt Barbara Wurm in der taz die Sergej Paradschanow gewidmete Reihe im Kino Arsenal. Außerdem wirft Andreas Busche einen Blick ins Programm des Berliner Nachlese-Festivals "Around the World in 14 Films".

Besprochen werden Pawel Pawlikowskis "Cold War" (Welt, Zeit, mehr dazu hier), Kornél Mundruczós "Jupiter's Moon" (online nachgereicht von der FAZ), Christian Froschs "Murer - Anatomie eines Prozesses" (SZ), die Verfilmung von David Lagercrantz' Thriller "Verschwörung" (Berliner Zeitung), Christoph Rüters Dokumentarfilm "Der unsichtbare Philosoph" über Hans Blumenberg (Tagesspiegel) und das Serienremake von "Das Boot" (NZZ, FAZ).
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Kunst

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Erwin Wurm in der Wiener Albertina (Presse) und eine Ausstellung über den Herkules-Mythos in der Kunst im Palazzo Venaria Reale in Turin (FAZ).
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Stichwörter: Wurm, Erwin

Musik

Mit seiner House-Music schöpft Robert O'Bryant unter dem Namen Waajeed beherzt aus dem Fundus des dreckigen Funks, freut sich Julian Weber in der taz. "From the Dirt" heißt denn auch das Debütalbum des Detroiter Produzenten, das "choreografiert ist wie ein Gospelgottesdienst: Was mit Eiltempo losgeht, zwischendurch runterschaltet, aber an allen Ecken und Enden der zehn Tracks Überraschungsmomente bereithält, steigert sich gegen Ende bei 'I just wanna tell' in Raserei. Ein funky Konzert für den Heiland auf dem Dancefloor, antreibend und in jeder Sekunde erweckend. Nur ist der Spirit nicht einschmeichelnd, sondern Hardcore. Selbst die Streichersounds, die aus einem Synthesizer für den Track 'After you Left' das Arrangement unterlegen, klingen nach Rasierklinge." Wir hören rein:



Zu O'Bryants Einflüssen zählt auch George Clinton, der in den 70ern zu den Funk-Pionieren zählte. Dessen neues, als endgültiges Abschiedsalbum "Medicaid Fraud Dogg" bespricht Jonathan Fischer in der SZ: Zu hören gibt es darauf viel, was man auch von Clintons wegweisender Band Parliament her kennt: "Wuchtige synthetische Bassläufe, quengelnde Keyboards, riffendes Blech. Allein die kraftprotzende Bläsersektion mit den James-Brown-Veteranen Fred Wesley und Pee Wee Ellis schiebt kräftig, während eine junge Generation von Musikern den Parliament-Groove immer wieder neu interpretiert." Doch "niemand würde diese Songs in den Siebzigerjahren verorten. Eher machen sie hörbar, wie viel den P-Funk-Kosmos mit heutigem Rhythm 'n' Blues und den neuesten Hip-Hop-Spielarten verbindet." Auf Youtube Music kann man es online hören:



Der Metal-Klassiker Slayer geht zum letzten Mal auf Tour - Christian Schachinger verabschiedet sich im Standard: "Ein schlauer Mensch hat einmal gesagt, dass Slayer die Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs rückwärts und bei fünffacher Geschwindigkeit spielen würden. Allerdings wird im Gegensatz zu Glenn Goulds Interpretation weniger dazu gebrabbelt als mit großer Entschlossenheit gebrüllt." Wir erinnern an den denkwürdigen Auftritt bei Jimmy Fallon:



Weitere Artikel: Ole Schulz informiert sich für die taz bei der Musikkonferenz Acces in Nairobi über die Zukunft des afrikanischen Musikmarkts. Markus Ganz führt in der NZZ durch die Welt des Schweizer Mundart-Pop. Die FAS hat ihr Gespräch mit Mark Knopfler online nachgereicht. Für die NZZ spricht Marco Frei knapp mit Krzysztof Penderecki, der heute seinen 85. Geburtstag feiert. Filmkünstler haben seine Musik immer wieder aufgegriffen - zuletzt etwa David Lynch in seiner dritten "Twin Peaks"-Staffel in der denkwürdigen Episode 8:



Besprochen werden Steve Loveridges Porträtfilm über die Musikerin M.I.A. (Standard, Tagesspiegel), Patrick Dinslages Buch über den Komponisten Edvard Grieg (SZ) und ein Jazzkonzert mit Jeff Goldblum (Tagesspiegel).
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Bühne

Besprochen werden Shakespeares "Romeo und Julia" am Stadttheater Gießen (FR) und "Alles kann passieren" am Wiener Akademietheater - eine von Doron Rabinovici und Florian Klenk zusammengebastelte Montage von Reden rechter Populisten ("Für die Zuschauer allerdings kann die facettenreiche Montage aus manchmal furchtbar verlogenen und dann wieder furchtbar ehrlichen Sätzen auf Dauer auch anstrengend sein. Doch Schmerz muss sein, es geht ja ums Erschrecken und Aufrütteln", tröstet Peter Münch in der SZ, taz).
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Literatur

Im Interview für Tell-Review erklärt der Linguist Hossam Abouzahr, warum das Hocharabische bei arabischen Muttersprachlern keinen allzu guten Ruf genießt und teilweise sogar von den Lehrplänen gestrichen wurde - auch weil viele Emiratis für die Karriere ohnehin Englisch bevorzugen. Es hängt allerdings auch ein ganzer Rattenschwanz an identitätspolitischen Bedrängnissen, dem viele gerne aus dem Weg gehen: "Lassen Sie es mich so veranschaulichen: Mein Vater ist als Libanese in den siebziger Jahren vor dem Bürgerkrieg in die USA geflohen. Er begann alles zu hassen, was ihm in seinem Herkunftsland als Identität angetragen wurde. Letztlich hasste er den Islam, den Arabismus, den ganzen Mittleren Osten. Ich hingegen wuchs in den USA auf, wo mir kein Mensch sagte, was arabische und muslimische Identität bedeuten oder welchem Religionsgelehrten ich folgen muss. Stattdessen habe ich so gebetet, wie ich wollte, bis zu dem Punkt, dass mein eigener Vater mich um meine Unbekümmertheit beneidet hat. Denn in einem arabischen Land hast du keine Chance, frei zu entscheiden, sondern wirst sofort in eine Ecke gedrängt: 'Bist du ein Muslimbruder?' 'Was denkst du über Kopten?' 'Über Kurden?' 'Bist du Nationalist?' 'Wieso bist du nicht in der Gemeinde dieses oder jenes Scheichs?' Alles ist unglaublich aufgeladen. Viele junge Araber wollen diese Zwänge abschütteln. Und da ihr Hochschulzeugnis ihr gesamtes künftiges Leben bestimmt, vernachlässigen sie ihr Hocharabisch und vertiefen sich, sofern sie Mittel und Möglichkeiten dazu haben, in Fremdsprachen, um Arbeitsstellen mit globalen Marktchancen zu ergattern."

Besprochen werden unter anderem Roberto Arlts 1929 entstandener Roman "Die sieben Irren", der in den Augen von NZZ-Kritiker Roman Bucheli für Buenos Aires das leistet, was Döblin zeitgleich mit "Berlin Alexanderplatz" für Berlin leistete, A.L. Kennedys "Süßer Ernst" (online nachgereicht von der FAZ), Martin Walsers "Spätdienst" (Tagesspiegel), Florian Illies' "1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte" (NZZ) und I.L. Callis' Thriller "Das Alphabet der Schöpfung" (Freitag).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Design

Victor J. Papanek und James Hennessey, "Lean-to-Chair", abgebildet im Originalmanuskripts von Nomadic Furniture 2, 1974 © James Hennessey und Universität für angewandte Kunst Wien, Victor J. Papanek Foundation
In der SZ berichtet Laura Weißmüller ganz hingerissen von der Ausstellung "Victor Papanek. The Politic of Design" im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Papanek, stellt sich heraus, ist ein Mann ganz nach dem Geschmack der Kritikerin: Umweltbewusst, seiner Profession gegenüber, die mit dem Kulturkapitalismus verknüpft ist, höchst kritisch eingestellt und voller widersprüchlicher Fragen, auf die es schon in den 60ern keine richtigen Antworten gibt: "Wann ist Design gut, wann böse? Etwa das Sicherheitssystem 'Mosquito', das einen so hohen Pfeifton abgibt, dass ihn nur Kinder und Jugendliche hören, damit sie einem Ort fernbleiben (und zum Beispiel kein Graffito sprayen) - ist das dann gut oder böse? Oder wenn Bordsteine abgesenkt werden, damit Rollstuhlfahrer und Kinderwagenschieber sich nicht mehr so mühsam abkämpfen müssen, aber Blinde plötzlich die Orientierung verlieren? Daumen hoch oder runter?" Über solche moralischen Probleme wird die Frage nach der Ästhetik für Weißmüller ganz nebensächlich.
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