Efeu - Die Kulturrundschau

Er hat ausgejammert.

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21.01.2019. Der Held der Vernunft ist ein  86-jähriger gebrechlicher Mann, erkennen die Theaterkritiker mit Frank Castorf und bewundern den nackten Jürgen Holtz in der Rolle des Galileo Galilei. Der Standard beobachtet, wie Ed Atkins im Kunsthaus Bregenz den verzweifelten Mann verschluckt. Der Tagesspiegel bewundert in Michail Kalik den Humanisten des sowjetischen Kinos. Im Freitag fragt die Lyrikerin Sabine Scho, was eigentlich nach dem großen Fressen kommt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.01.2019 finden Sie hier

Bühne

Nackte Erkenntnis: Jürgen Holtz in Frank Castorfs "Galilei". Foto: Matthias Horn / Berliner Ensemble


Wirklich sinnvoll lasse sich Bertolt Brechts Vernunftsromantik nicht mit Antonin Artauds Theater der Grausamkeit paaren, stellt Jens Bisky fest. Trotzdem hat er in Frank Castorfs sechsstündiger Inszenierung des "Galileo Galilei" am Berliner Ensemble bei aller Raserei auch wunderschöne Theateraugenblicke erlebt. Vor allem Jürgen Holtz als Galilei - "nackt, voller Würde, unvergesslich": "Man sieht seinem Körper die 86 Jahre an, sieht Falten, Lebensspuren. Brecht hat sich seinen Vernunfthelden als prächtigen Mann vorgestellt. Jürgen Holtz gibt ihm eine Kraft, die nichts Triumphierendes hat und deswegen umso überzeugender wirkt, nicht entblößt, sondern selbstverständlich in sich ruhend. Diesem Mann, der die Bahn der Gestirne erkundet, glaubt man vom ersten Augenblick, dass er weiß, wie die Dinge auf der Erde laufen. Die neue Zeit beginnt mit einem gebrechlichen Leib."

Michael Wolf findet in der Nachtkritik die Parallelsetzung von Brecht und Artaud gar nicht so uninteressant: "Castorf setzt beide Unternehmungen parallel: Galilei strebt mit Mitteln der Wissenschaft, Artaud mit denen der Kunst nach Erkenntnis. Nicht zuletzt ist seine Inszenierung eine Selbstbefragung, eine Vergewisserung über die Relevanz, die Macht und Legitimität von Kunst. Er setzt an diesem Abend das Berliner Ensemble in den Mittelpunkt der Welt, um zu falsifizieren, ob es diesen Ort verdient hat." In der Berliner Zeitung kann Ulrich Seidler leider nur Anfang und Ende der Inszenierung empfehlen, dazwischen scheint ihm alles "nur ein Echo früherer Castorf-Entdeckungsreisen und -Entgleisungen". Weitere Besprechungen in taz und Welt.

Houellebecqs "Plattform/Unterwerfung" am Schauspielhaus Bochum. Foto: Tobias Kruse /Ostkreuz

Als "bitterböses, mitunter krachend komisches Untergangs-Crescendo" feiert Regine Müller in der taz Johan Simons' Verklammerung von Michel Houellebecqs Romanen "Unterwerfung" und "Plattform" am Schauspiel Bochum: "Simons reduziert Houellebecqs mäandernde und manchmal bewusst zur Geschwätzigkeit neigende Romane dabei virtuos auf ihre Essenz: Auf die sexuelle Frustration des ausgebrannten, von Konsumsucht und Leistungsdruck ermüdeten Westeuropäers mittleren Alters sowie die dumpfe Bedrohung, die vom Aufstieg des Islam und den fatalen Verheißungen politischer Radikalisierung ausgehen. In 'Plattform' setzt Houellebeqcs satirische Kritik am globalen Spaß-Tourismus an, der die Sehnsüchte der verkappten Romantiker befriedigen soll und nur zum Preis systematischer - auch sexueller - Ausbeutung der Prekären zu haben ist."

Weitere Artikel: In der Welt berichtet Manuel Brug, dass der ukrainisch-russische Skandal-Startänzer Sergej Polunin nicht mehr in der Pariser Oper auftreten darf, während man bei der Bayerischen Staatsoper in München seine homophoben, sexistischen und putinfreundlichen Auslassungen nicht "vereinfachen" möchte. Ronald Berg blickt in der taz auf das Bühnenprogramm zum Bauhaus-Jubiläum in der Akademie der Künste. Brigitte Werneburg berichtet in der taz von der Podiumsdiskussion "Wie politisch ist das Bauhaus" im Haus der Kulturen der Welt.

Besprochen werden Karin Beiers Inszenierung von Edward Albees Eheschlachtspektakel "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Hamburger Schauspielhaus (die taz-Kritikerin Eva Behrendt zufolge das Stück als "echten Papiertiger" entlarvt, Nachtkritik), Alvis Hermanis' Tschechow-Inszenierung "Möwe" am Münchner Cuvilliés-Theater (Nachtkritik, FAZ), Marius von Mayenburgs Uraufführung von Maja Zades "amüsant-unpädagogischem" Gender-Stück "Status quo" an der Schaubühne (Tagesspiegel), Susanne Kennedys Inszenierung "Coming Society" an der Volksbühne (Tagesspiegel) und die Uraufführung von Thomas Arzts Stück "Die Österreicherinnen" im Tiroler Landestheater (Standard).
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Kunst

Ausstellungsansicht zu Ed Atkins im Kunsthaus Bregenz. Foto: Markus Tretter 

Vergnügt hat sich Standard-KritikerinJutta Berger im Kunsthaus Bregenz die Ed-Atkins-Ausstellung angesehen, wo ihr verzweifelte Männer, Babys in Monstergröße, mit Menschen belegte Sandwiches begegneten: "Alles ist in unserer Bilderwelt retuschiert, lässt uns Atkins wissen: schönes Essen, schöne Menschen, schöne Statistiken. Die Erzählung vom verzweifelten Mann setzt sich in den beiden oberen Stockwerken fort. Auf vier sich in der Größe steigernden Screens begegnet man dem traurigen Avatar in seinem Schlafzimmer. Obwohl vollgeräumt, wirkt es steril. Atkins schildert in Hisser zwanzig Minuten lang die Einsamkeit seines Protagonisten. 'Sorry, I didn't know', wird der nicht müde zu sagen oder zu singen. Wofür er sich entschuldigt, bleibt offen. Das Haus bebt, die Erde öffnet sich, Mann und Zimmer werden verschluckt. Er hat ausgejammert."

Besprochen werden die Oskar-Kokoschka-Ausstellung "Expressionist, Migrant, Europäer" im Kunsthaus Zürich (Welt), eine Schau des Malers Uwe Wittwer in der Zürcher Galerie Kilchmann (NZZ), die Fotografie-Ausstellung über den Tod "Das letzte Bild" im C/O Berlin (FAZ) und die Schau "Frans Hals und die Modernen" in Haarlem (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Im Freitag geht die Lyrikerin Sabine Scho der Frage nach, was die Literatur vom guten Leben weiß - und streift dabei irritierenderweise auch Fragen des Stuhlgangs: "Kot ohne Not zählt ganz sicher zu einem guten Leben, denn an ihm zeigt sich nicht zuletzt der Hunger ohne Kummer. ... Fragt die Literatur mit Recht seit Brecht erst nach dem Fressen und dann nach Moral, so schien mir immer, sie frug sich viel zu selten, was nach dem großen Fressen kommt und wohin das geht. Für Prädatoren ist man ein gefundenes, wenn man auf weiter Flur wieder loswerden will, was man zu sich genommen hat."

Gerrit Bartels lässt im Tagesspiegel Takis Würger in der Kontroverse um seinen Roman "Stella" zu Wort kommen. Vorwürfe der literarischen Leichtfertigkeit weist er unter Fingerzeig auf zweieinhalb Jahre Recherchetätigkeit von sich: "Ich habe mich von drei Historikern bei der Arbeit an diesen Roman beraten lassen, dutzende Bücher von Zeitzeugen gelesen, ich war in den Museen in Berlin, in denen diese Zeit dokumentiert ist. ... Ja, es wurden im Adlon bei Bombenalarm Schokolade und Rotwein im Bunker serviert, das war so. Das habe ich aus der Chronik des Adlons." In der online nachgereichten NZZ-Kritik sieht Paul Jandl in dem Buch dennoch "die Schnulzenversion eines Holocaust-Romans".

Weitere Artikel: Bernd Noack porträtiert in einem online von der NZZ nachgereichten Artikel Fabian Saul, der die Zeitschrift Flaneur herausgibt, die sich in jeder Ausgabe einer einzelnen Straße einer internationalen Metropole widmet. In seiner Jungle-World-Kolumne "Lahme Literaten" nimmt sich Magnus Klaue Robert Menasse zur Brust. Für die SZ hat Alexandra Föderl-Schmid die auf hebräische Bücher spezialisierte Übersetzerin Ruth Achlama besucht.

Besprochen werden Kristen Roupenians Storyband "Cat Person" (FR, online nachgereicht von der Welt), Patrick Modianos "Schlafende Erinnerungen" (online nachgereicht von der FAZ), Un-Su Kims "Die Plotter" (Presse), Johanna Dombois' Prosaband "Rettungswesen" (Freitag), Michail Schischkins "Tote Seelen, lebende Nasen. Eine Einführung in die russische Kulturgeschichte" (NZZ), Paul Beattys "Der Verräter" (Presse) und neue Hörbücher, darunter Devid Striesows Lesung von Philipp Schwenkes Karl-May-Roman "Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste" (FAZ).

In der online nachgereichten Franfurter Anthologie schreibt Hans-Joachim Sinn über Robert Walsers "Welt (I)":

"Es lachen, es entstehen
im Kommen und im Gehen
der Welt viel tiefe Welten,
..."
Archiv: Literatur

Film

Im Tagesspiegel empfiehlt Andreas Busche den Berlinern eine Reihe mit Michail Kaliks Filmen im Kino Arsenal. Mit "Der Sonne nach" drehte Kalik 1961 "eines der hoffnungsvollsten Zeugnisse des Tauwetterkinos" - die Behörden verboten das Werk prompt. "Dabei war Kalik alles andere als ein Dissident, eher ein Humanist und Visionär. ...  Licht-Vexierspiele, kaleidoskopartige Überbelichtungen, ungestüme Bewegung angetrieben von kindlicher Neugier. 'Der Sonne nach' war ein visueller Befreiungsschlag nach den düsteren Stalin-Jahren, doch der Staat schien diesem Optimismus nicht über den Weg zu trauen." In der taz schrieb zuvor Fabian Tietke über die Reihe. Auf Youtube gibt es davon einen Eindruck:



Besprochen werden Michael Moores "Fahrenheit 11/9" (Freitag), Sudabeh Mortezais Zwangsprostitutionsdrama "Joy" (Presse), Jason Reitmans "Der Spitzenkandidat" (SZ), die österreichische Sky-Serie "Der Pass" (Presse), Bart Laytons auf Heimmedien veröffentlichter Heist-Film "American Animals" (SZ) und Icíar Bollaíns "Yuli" (FAZ).
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Design


Bilder: Porträt Margarete Leischner, 1927-1928 / Bertha Senestréy, 1923, Privatbesitz

Mit ihrer Abschiedsausstellung im Dresdner Kunstgewerbemusum erinnert Direktorin Tulga Beyerle an Designerinnen wie Margarethe von Brauchitsch, Margarete Junge, Gertrud Kleinhempel, Bertha Senestréy und andere, die ab dem frühen 20. Jahrhundert in den Deutschen Werkstätten Hellerau tätig waren, schreibt Peter Richter in der SZ. "In der vor dem Ersten Weltkrieg für jede Raumwirkung noch absolut zentralen Tapetenproduktion waren in Hellerau Gestalterinnen am Werk, die dem Ornament beeindruckende Wege in die Moderne bahnten. Ab den Zwanzigerjahren ist Else Wenz-Viëtor die herausragende Gestalterin an den Werkstätten, ein Multitalent, das sich dem Design von Spielzeug genauso gewidmet hat wie dem von Glas und Möbeln. Und der gehobene Stil der Dreißigerjahre, in der Designgeschichte auch als Dampferstil bekannt, wurde ebenfalls ab den späten Zwanzigern in Hellerau mit geprägt, unter anderem von Lisl Bertsch-Kampferseck."
Archiv: Design

Musik

Michael Stallknecht geht in der SZ auf die Knie vor Christoph von Dohnányi, der mit fast neunzig Jahren die BR-Symphoniker durch einen beeindruckenden Abend mit Kompositionen von Charles Ives, György Ligeti und Peter Tschaikowsky geführt hat. Insbesondere Tschaikowskys "Pathétique" war in diesem Kontext ein Glanzstück: Man hört sie "anders nach dieser ersten Hälfte, nicht mehr nur als Seelenbekenntnis von romantischer Zerrissenheit, das Tschaikowsky in tatsächlicher oder vermeintlicher Vorahnung seines nahenden Todes ablegte. Wenn Dohnányi die Einleitung in größtmöglicher Langsamkeit beginnt, dann klingt darin etwas von der Ruhe bei Ives fort, von der in Bewegung geratenden Fläche bei Ligeti, dann hört man Tschaikowsky struktureller als sonst, als formales Spiel aus Ruhe und Bewegung." BR Klassik hat der Dirigent vor dem Konzert ein Interview gegeben.

Weitere Artikel: Für die Jungle World hat Steffen Greiner mit Sharon Van Etten telefoniert und über deren neues, auf Pitchfork ziemlich gefeiertes Album gesprochen. In der FAS freut sich Tobias Rüther über den Optimismus, den Paul McCartney dieser Tage versprüht.

Besprochen werden das neue Deerhunter-Album "Why Hasn't Everything Already Disappeared?" (Pitchfork, Berliner Zeitung), ein von Mariss Jansons dirigierter Abend bei den Berliner Philharmonikern (Tagesspiegel), eine Ausstellung über Claudio Abbado in Berlin (Tagesspiegel), ein Auftritt von Anna Calvi (taz) und Cristina Brancos Frankfurter Konzert (FR).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über Van Morrisons "In the Garden":

Archiv: Musik