Efeu - Die Kulturrundschau

Unter Gepauke, Gefiedel und Kunstnebel

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13.09.2019. Die Welt gesteht ein, dass ein halbes Jahrhundert DDR-Kunst nie ganz verstanden werden wird. Rüdiger Suchsland ist in Artechock schockiert, dass sich der Chef der hessischen Filmförderung Hans Joachim Mendig mit dem AfDler Jörg Meuthen hat fotografieren lassen. Im Standard erklären Martin Kusej und drei Mitarbeiter, warum das Burgtheater künftig mehrsprachig (aber mit Obertiteln) ist. Die FAZ ist enttäuscht vom Auftritt der simbabwischen Schriftstellerin Petina Gappah beim Berliner Literaturfestival.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.09.2019 finden Sie hier

Literatur

Dass die britisch-pakistanische Schriftstellerin Kamila Shamsie mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet werden soll, hält Alan Posener in der Welt für einen Skandal ersten Ranges: Eine nach einer Holocaust-Überlebenden benannten Auszeichnung für eine glühende BDS-Anhängerin? Insbesondere Shamsies Weigerung, ihre Werke ins Hebräische übersetzen zu lassen (weil hebräisch veröffentlichte Verlage in der Regel Israelis gehören), stößt ihm bitter auf: "Jede hat das Recht auf ihre Meinung, sie sei noch so schlecht begründet, vorurteilsbeladen und einseitig: Denn Shamsie hat natürlich nichts dagegen, dass ihre Werke auf Arabisch, Chinesisch oder Russisch erscheinen. Und sie bringt es nicht über die Lippen, den Terror der Hamas, die Korruption, die Unterdrückung von Frauen und Schwulen, die Marginalisierung von Christen in den palästinensischen Gebieten auch nur zu erwähnen. Egal. Sie hat ein Recht auf ihre Meinung. Worauf Shamsie aber kein Recht hat, das ist ein Preis, der nach Nelly Sachs benannt." Ähnlich sieht es Carsten Hueck im Kommentar beim Dlf Kultur.

Annika Glunz berichtet in der taz vom Auftakt des Literaturfests Berlin mit Petina Gappah. Die simbabwische Schriftstellerin war vor wenigen Tagen in die Kritik geraten, nachdem die SZ daran erinnert hat, dass sie bis vor kurzem noch Mugabes Nachfolger Emmerson Mnangagwa als Beraterin gedient hatte, der die blutige Politik seines Vorgängers mitunter fortgesetzt hatte (unser Resümee). Glunz kommt darauf nur am Rande zu besprechen, deutlich enttäuschter von dem Abend zeigt sich Paul Ingendaay in der FAZ: Nicht nur Gabriele von Arnims Einführung war 'in eiserner Lobesabsicht' formuliert, auch die Rednerin selbst "hielt es nicht für nötig, auch nur ein einziges Wort über mögliche moralische Widersprüche politischen Handelns in Zeiten korrupter Regierungen zu verlieren. Sie habe die Chance ergreifen wollen, 'Veränderung zu sein, nicht nur über die Notwendigkeit der Veränderung zu schreiben', sagte sie zahm. ... Aus dem Briefwechsel zwischen der Autorin und der Festivalleitung, der dieser Zeitung vorliegt, geht hervor, dass Petina Gappah auf ihrer deutschen Buchtournee aus Furcht vor Missverständnissen, aber auch vor Anfeindungen im eigenen Land nur von Literatur, nicht von Politik sprechen will. Das ist eine kuriose Vorstellung von der öffentlichen Rolle einer Intellektuellen, die ihre Literatur zweifellos als politisch empfindet." Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel hingegen hat an dem Abend nichts auszusetzen: Die von der SZ "attackierte" Gappah hat alles richtig gemacht, lautet sein Fazit. "Im Blick aufs Ganze der postkolonialen Verwerfungen auf dem afrikanischen Kontinent hätte sie ... nicht eleganter und entschiedener auftreten können."

Weitere Artikel: Die SZ widmet ihre Literaturseite Alexander von Humboldt, dessen Geburtstag sich morgen zum 250. Mal jährt: Jens Bisky vertieft sich im Humboldt-Kosmos, während der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme daran erinnert, dass Humboldt einst einen "Roman des Weltalls" schreiben wollte, der sämtliche Erkenntnisse der Menschheit darstellen sollte - ein Vorhaben, das zuvor schon Goethe auf dem Friedhof der Ambitionen begraben hatte.

Besprochen werden unter anderem Margaret Atwoods "Die Zeuginnen" (NZZ), Peter Kurzecks "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (online nachgereicht von der FAZ), Pia Klemps "Lass uns mit den Toten tanzen" (taz), Yrsa Daley-Wards "Alles, was passiert ist" (ZeitOnline), Dror Mishanis "Drei" (FR), Dana von Suffrins "Otto" (FR), Robert Macfarlanes "Im Unterland" (Dlf Kultur), Martin Simons' "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon" (Freitag) und Alexander von Humboldts von Sarah Bärtschi herausgegebener Band "Tierleben" (SZ).
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Bühne

Die Schreitbänder der Bakchen. Foto: Andreas Pohlmann


Die österreichischen Zeitungen blicken gespannt auf den "Start der Ära Kušej" am Wiener Burgtheater, die gestern abend mit der Premiere der "Bakchen", inszeniert von Ulrich Rasche, begann. Die Kritiker können erst morgen liefern, aber in der Presse spricht Norbert Mayer in seiner Glosse schon mal von einem vollen Erfolg, "nicht nur, weil die fast dreieinhalb Stunden dauernde Premiere enthusiastisch gefeiert worden war. Sondern vor allem auch, weil er die Bühne mit einer gigantischen Maschine ausstatten durfte, einem Wunderwerk der Hydraulik, auf dem sich sechs sicherlich je ein Dutzend Meter lange, flexible Laufbänder befinden. Genauer gesagt sind es Schreitbänder, denn auf diesen Schanzen bewegen sich gemessenen Schrittes, unter Gepauke, Gefidel und Kunstnebel die Protagonisten sowie der Chor, den Text in der für Rasche typischen Sprachmahlerei deklamierend. Jedes Wort findet auf ganz eigene Art der Absonderung Bedeutung."

Im Standard erklären Martin Kušej, die Schauspielerinnen Sabine Haupt, Salwa Nakkara und der Regisseur Itay Tiran, dessen Inszenierung von Wajdi Mouawads "Vögel" heute abend Premiere hat, warum das Burgtheater künftig mehrsprachig sein wird, auch auf der Bühne (dann mit Übertiteln). "Das Missverständnis besteht darin zu glauben, dass damit nicht mehr die deutschsprachigen Autoren gepflegt würden, dass die deutsche Sprache ins Hintertreffen geriete. Dabei schließt das eine das andere nicht aus", erklärt Sabine Haupt. "Es wurde höchste Zeit, dass das Ensemble des Burgtheaters internationaler wird. Martin Kušej riskiert damit, Publikum zu verlieren. Er gewinnt damit aber auch eines. Vögel-Regisseur Itay Tiran etwa hat ein ganz anderes Verhältnis zu Pathos. Dem müssen wir uns als Ensemble stellen, und das ist eine große Herausforderung. Ich spiele Nora und spreche auf der Bühne Deutsch und Englisch. Markus Scheumann, der meinen Mann spielt, musste dagegen große Passagen Hebräisch lernen. Ich beneide ihn um diese Erfahrung."

Besprochen werden außerdem Claudia Bosses Inszenierung von "Thyestes Brüder! Kapital" mit dem theatercombinat am FFT Düsseldorf (nachtkritik) und Wiener Romanadaptionen von Heimito von Doderer am Volkstheater und am Theater in der Josefstadt (nachtkritik, Standard, FAZ, SZ).
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Musik

In der FR staunt Petra Kohse über die Sogkraft, die das türkische, unversöhnlich Erdogan-kritische Rap-Epos "Susamam" (mehr dazu hier) in der Türkei gerade entwickelt: "Wie befreiend und identitätsstiftend dieses Video in der Türkei selbst wirkt, kann man von außen nur ahnen." Harald Eggebrecht berichtet für die SZ vom Workshop Krzyżowa Music in Polen. Katharina Granzin (taz) und Ulrich Amling (Tagesspiegel) berichten vom Musikfest Berlin, für das Simon Rattle mit seinem London Symphony Orchestra nach Berlin zurückgekommen ist. Nachrufe auf den Singer-Songwriter Daniel Johnston schreiben Nadine Lange (Tagesspiegel), Robert Mießner (taz), Karl Fluch (Standard) und  Johannes von Weizsäcker (Berliner Zeitung) - weitere Nachrufe in unserer gestrigen Kulturrundschau.

Besprochen werden Equiknoxx' Dancehall-Album "Eternal Children", von dem sich tazler Lars Fleischmann eine Runderneuerung des Genres verspricht, das Gastspiel des Orchestre National de France beim Lucerne Festival (NZZ), das Comeback-Album der Pixies (Standard) und neue Bücher über die Komponistin Clara Schumann (FAZ), die vor 200 Jahren geboren wurde, woran Manuel Brug in der Welt erinnert.
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Film

Warum lässt sich Hans Joachim Mendig, Chef der hessischen Filmförderung, wie auf einem Instagram nachzuvollziehen ist, mit dem AfDler Jörg Meuthen, der von einem anregenden und konstruktiven Dialog schwärmt, fotografieren, fragt Rüdiger Suchsland auf Artechock. Und warum steigt die Presse darauf nicht ein? Beides findet Suchsland skandalös: "Im besten Fall ist es so: Mendig ist einfach naiv. Naiv genug, um sich mit einem politischen Rechtsaußen fotografieren und missbrauchen zu lassen; missbrauchen für das in rechtsextremen Kreisen gern gehegte Bild einer 'normalen', 'bürgerlichen' Partei, die von den bösen linken Medien nur schlecht gemacht wird. Im schlimmsten Fall, sind sich Mendig und Meuthen einig in ihrer Sicht auf das 'links-rot-grün-versiffte 68er-Deutschland'. So oder so, Dummheit oder Rechtsradikalismus, beschädigt Mendigs Auftritt den Ruf der Hessischen Filmförderung."

Weiteres: Für den Standard spricht Bert Rebhandl mit dem Schauspieler Alexander Fehling über dessen Rolle in der (im Tagesspiegel besprochenen) Verfilmung von Daniel Glattauers E-Mail-Roman "Gut gegen Nordwind". Urs Bühler wirft in der NZZ einen ersten Blick ins Programm des Zurich Film Festivals.

Besprochen werden Jodi Kantors und Megan Twoheys in den USA erschienenes Buch "She Said", in dem die beiden Reporterinnen erzählen, wie sie den Fall Harvey Weinsteins mit ihren ersten Berichten über dessen mutmaßliche Stratftaten ins Rollen brachten (ZeitOnline), Rebbeca Zlotowskis "Ein leichtes Mädchen" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Luzie Looses Coming-of-Age-Film "Schwimmen" (ZeitOnline), Syllas Tzoumerkas' Thriller "Das Wunder im Meer von Sargasso" (Tagesspiegel), Mikhaël Hers' "Mein Leben mit Amanda" (SZ) und die BBC-Serie "Gentleman Jack" (NZZ).
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Kunst

Die Berliner Akademie der Künste zeigt gerade in einer Ausstellung Videokunst der vergangenen fünfzig Jahre aus dem Archiv des Kurators Wulf Herzogenrath. Dabei hatte es die Videokunst am Anfang nicht leicht, sich zu etablieren, erfährt Ulrike Timm im Gespräch mit Herzogenrath für Dlf Kultur. "Seine eigenen Mitarbeiter, erzählt Wulf Herzogenrath, hätten aus dem Katalog zu der Ausstellung 'Projekt 74' die Dokumentation der Videoarbeiten herausgeschnitten, weil sie sie nicht interessant genug fanden. Aber auch in anderen Bereichen des Kunstbetriebs tat man sich mit der neuen Form schwer. 'Ich glaube, es war auch eine Art von Neid', sagt Wulf Herzogenrath. Mancher Maler oder Galerist konnte wohl schlecht akzeptieren, dass das Publikum 'vor einem Monitor eher stehenblieb als vor einem Bild', selbst wenn 'das Publikum zwar vielleicht nicht alles verstand und begeistert war und das kaufen wollte'."

Bernhard Heisig: "Brigadier II", 1968 bis 1979. Zu sehen in der Düsseldorfer Ausstellung "Utopie und Untergang". Bild: mdbk / bpk / Museum der Bildenden Künste Leipzig
Wird die ostdeutsche Kunst vernachlässigt? Nicht im Ernst, meint Hans-Joachim Müller in der Welt mit Blick auf zwei große Ausstellungen zum Thema in Leipzig und im Düsseldorfer Kunstpalast. Vielleicht muss man auch einfach akzeptieren, dass ein halbes Jahrhundert DDR-Kunst "nie ganz verstanden" wird. Umso mehr, wenn der geschichtliche Kontext verblasst: "Erich Honecker und Willi Sitte auf der IX. Dresdener Kunstausstellung vor der 'Schicht im Salzbergwerk' im Oktober 1982, das ist wie Michelangelo und Papst Julius II. in der Sixtinischen Kapelle. Aber es ist auch wie Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, der dem zum Nachkriegsdirektor des Düsseldorfer Kunstvereins aufgestiegenen Nazi-Kunsthändler Hildebrandt Gurlitt anerkennend die Hand auf die Kuratoren-Schulter legt - alle wissen alles voneinander, und alle spielen gelassen das Machtspiel der Mächtigen."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "No Photos on the Dance Floor!" im c/o Berlin (monopol), die Ausstellung "Meisterstücke - Vom Handwerk der Maler" im Historischen Museum Frankfurt (FAZ) und die Ausstellung "Wir gratulieren - 20 Jahre Labor Ateliergemeinschaft" im Bilderbuchmuseum Troisdorf (FAZ).
Archiv: Kunst