Efeu - Die Kulturrundschau

Irgendwas geht immer ab

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15.06.2020. In der New York Times blickt Bob Dylan auf das zerbrechliche menschliche Wesen. Im Standard beklagt Franzobel das Gefühl des Defizitären, das der Kapitalismus leider auch im Überfluss proudziere. NZZ und Nachtkritik bangen um die britischen Bühnen, deren Geschäftstüchtigkeit ihnen weder gegen Corona noch gegen Sparwut hilft. Die FAS freut sich, dass Franz Erhard Walthers partizipative Kunst endlich gewürdigt wird. Und alle Feuilletons trauern um den März-Verleger und Genussmenschen Jörg Schröder, der Sex und Revolution in die deutsche Buchbranche brachte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Franz Erhard Walther Gargoyle: Versuch, eine Skulptur zu sein, 1958. Bild haus der Kunst

Dominikus Müller besucht für die FAS die große Schau "Shifting Perspectives" des Künstlers Franz Erhard Walther im Münchner Haus der Kunst und wundert sich gar nicht, dass seine Kunst erst in den letzten Jahren so richtig gewürdigt werden konnte: "Im Spannungsfeld von Text, Bild, Skulptur und Performance entwickelte dieses Werk eine eigene Sprache und ein eigenes Nachdenken über die Rolle von Kunst, mit dem es nicht nur in der westdeutschen Nachkriegskunstgeschichte recht solitär herumsteht. Mit seinen berührbaren, benutzbaren und bis heute von seiner ersten Frau Johanna Walther genähten Stoffskulpturen arbeitete Walther seit den frühen sechziger Jahren an einem offenen, partizipativen Verständnis von Kunst - ohne dabei das Prinzip des Werks völlig zu verabschieden, wie das zur selben Zeit manche seiner Freunde an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Happenings und Fluxus-Festen versuchten. Die 'Werkstücke' dieses 'Werksatzes' sind dazu gedacht, 'aktiviert', das heißt in die Hand genommen, angezogen, aufgespannt oder herumgetragen zu werden. Allein, zu zweit, zu mehreren."

Weiteres: In der FAZ feiert Peter Kropmanns die Wiedereröffnung des Musée de Picardie in Amiens, das mit einer Vielzahl grandioser Werke auftrumpfen kann: Nur die Moderne ist etwas kläglich vertreten. Besprochen werden Katharina Grosses Schau "It Wasn't Us" im Museum Hamburger Bahnhof (deren Werk Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung als Opus Magnum der Künstlerin tituliert), die Ausstellung "Ich bin.", mit der die Bremer Weserburg die Österreicherin Birgit Jürgenssen und ihr feministisches Werk würdigt (taz) sowie die Ausstellung "Reizend!" über den Tanz in der Werbung im Deutschen Tanzarchiv in Köln (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Aus London blickt NZZ-Korrespondentin Marion Löhndorf auf die Not der britischen Bühnen, die zum großen Teil privat betrieben werden. Am Ende des Jahres werden ihre finanziellen Mittel aufgebraucht sein: "'Ich weiß nicht einmal, ob es noch eine wiedererkennbare Theater- und Filmindustrie geben wird, wenn all das vorbei ist', sagte James Graham, einer der derzeit prominentesten britischen Dramatiker, der die Stücke 'Ink' und 'Privacy' sowie das Brexit-Drama "The Uncivil War" geschrieben hat. 'Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn TV-Streaming-Dienste im Lockdown Millionengewinne machten, während man ausgerechnet die Quelle unseres Talentpools für Schauspieler, Produzenten, Autoren und Regisseure sterben ließe', schrieb der Film- und Theaterregisseur Sam Mendes, bekannt für 'American Beauty' und 'James Bond: Spectre', in der Financial Times."

In der Nachtkritik sieht Alice Saville das große Problem der britischen Theater darin, dass sie sich immer nur auf ihre Geschäftstüchtigkeit verlassen haben: "Während Frankreich protestierte, hat die Kunstszene Großbritanniens gelernt, Schnitt für Schnitt zu überstehen und sich daran anzupassen. Die jüngste Umfrage der National Campaign for the Arts ergab, dass die öffentlichen Gelder für die Künste seit dem Finanzcrash 2008 pro britischem Bürger um 35 Prozent zurückgegangen sind."

Besprochen werden die Notinszenierung von Richard Wagners "Rheingold" in gekürzter Fassung und auf dem Parkdeck der Berliner Oper (die SZ-Kritikerin Julia Spinola über die Schließung der Theater nicht hinwegtrösten konnte: Der gute Wille offenbarte ihr vielmehr die ganze Tragödie, FAZ, Tsp), Beau Willimons "Tage des Verrats" am Staatstheater Mainz (die FR-Kritikerin Judith von Sternburg perfekt in die Zeit passte) und die "Stadtansichten" der Dresdener Bürgerbühne als Freilufttheater (taz).
Archiv: Bühne

Literatur



Die Feuilletons trauern um den legendären Verleger und taz-Blogger Jörg Schröder, der mit dem MÄRZ-Verlag Literaturgeschichte geschrieben hat. Kein Konzern steht am Ende dieser Lebensbilanz und dennoch war Schröder "einer der großen Verleger der Bundesrepublik", schreibt Arno Widmann in der FR: "Revolution und Sex war die bundesrepublikanische Parole der späten sechziger Jahre. Es war auch das Rezept Jörg Schröders. Er fand nichts dabei, Texte von Che Guevara und Pornografie zu verlegen. Am liebsten aber war es ihm, wenn es ihm gelang, Bücher zu finden, in denen Sex und Revolution sich verbanden. ...  Er gehörte zu den wenigen freien Menschen. Zu denen also, die immer radikal, aber niemals konsequent sind." Geboren und gestorben ist er im Virchow-Klinikum, schreibt seine Ehefrau und Co-Bloggerin Barbara Kalender im Blog-Nachruf: "Jörg war ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Verleger und Buchgestalter. Er erfand das März-Corporate-Identity-Raster, das von der zartesten bis zur brutalistisch-plakativen Typographie alle Möglichkeiten offen lässt. ... Ich habe mehr als mein halbes Leben mit ihm zusammen verbracht und werde ihn sehr vermissen. Es war ein Geschenk, mit ihm vierzig Jahre leben zu dürfen."

"Der schamlose Genussmensch Schröder war von Haus aus nicht besonders links". schreibt Willi Winkler in der SZ, "aber er wurde es unvermeidlich. Genüsslich verkrachte er sich mit Melzer, gründete unter Mitnahme des Mobiliars sein eigenes Unternehmen, eben den März-Verlag, holte sich den von mehreren Strafverfahren bedrängten SDS-Vorsitzenden Karl Dietrich Wolff und wurde als Nachfolger des glücklosen Bernward Vesper der Verleger der bereits erlahmten Studentenbewegung." Weitere Nachrufe in taz, Tagesspiegel und FAZ.

In einem Standard-Essay umkreist der Schriftsteller Franzobel die gesellschaftlichen Schieflagen der Gegenwart: "Noch nie ging es den Leuten so gut. Jeder kann sich alles leisten, niemand hungert, jeder wohnt, selbst Urlaube sind finanzierbar, Ärzte sowieso. Die ganze erste Welt gehört zur Klasse der Besitzenden, zur Oberschicht. Wer in Westeuropa oder den USA geboren ist, hat quasi den Jackpot gezogen. Es gibt keine Klassen mehr, nur noch eine: Mittelschicht. ... Aber sind die Mittelklassemenschen glücklich und dankbar? Nein, sie sind neidisch, ängstlich und voller Hass. Das mag viele Ursachen haben: Der Kapitalismus erzeugt ein defizitäres Gefühl - irgendwas geht immer ab, und sei es nur ein neuartiger Topfreiniger."

FAZ-Autor Patrick Bahners sieht in der Debatte um den rechten Autor Jörg Bernig, der Kulturamtsleiter der Stadt Radebeul werden wollte, eine Fallstudie für die Entwicklung der radikalisierten ostdeutschen Intellektuellen: "Beim Blick in Bernigs jüngere Schriften ist das Eklatante die Vergröberung im Stil wie im Argument. Eine mit der Schablone produzierte politische Essayistik kann im literarischen Sinne nicht als dissident gelten."

Weitere Artikel:Der Standard stellt die vier Autorinnen vor, die ab 17. Juni beim Bachmannwettbewerb lesen. Im Standard plaudert Michael Wurmitzer mit dem Musiker Hubert von Goisern, der jetzt auch unter die Schriftsteller gegangen ist. Simon Strauß schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Jean Raspail.

Besprochen werden Rebecca Makkais "Die Optimisten" (Freitag), Alexander Kluges "Russland-Kontainer" (Freitag), die Studienausgabe von Emmy Hennings Gedichten (SZ), Benjamin Quaderers "Für immer die Alpen" (NZZ), Alice Jardines Biografie über die Theoretikerin Julia Kristeva (Jungle World), Richard Russos "Jenseits der Erwartungen" (Berliner Zeitung) und neue Hörbücher, darunter eine Gottfried-Keller-Lesung von Ulrich Noethen (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Nadja Küchenmeisters "Wurzeln":

"der wäscheständer vor dem fenster, aufgestellt
gegen den ansturm der tauben, auf dem dach
des kühlschranks ..."
Archiv: Literatur

Architektur

Die Diskussion um die Frankfurter Bühnen wird für Dankwart Guratzsch immer verworrener, vor allem aber sieht er mit einer gewissen Genugtuung den alten Kulturstreit der Nachkriegsmoderne wiederaufgelegt. Nur: "Diese Fronten haben sich verkehrt. Während der Denkmalschutz dabei ist, sich an die architektonische Moderne der Nachkriegszeit zu erinnern und sie flächenhaft unter Schutz zu stellen, können große Teile der städtischen Bevölkerung dieser Architektur bis heute nichts abgewinnen. Umgekehrt kränkt es die Architekten bis in die Seele, in Dutzenden deutschen Städten abgerissene, schon fast vergessene Altbauviertel wiederauferstehen zu sehen. Jetzt sehen sie sich, die Vorkämpfer der Moderne, unverhofft an der Seite der Denkmalpflege, die sich den heiligen Grundsätzen eines Georg Dehio verpflichtet fühlt und in der Wiederauferstehung des verschwundenen Alten nur Masken und Gespenster sieht."
Archiv: Architektur

Film

Beat Stauffer stellt in der NZZ die von Schweizern in Marokko geführt Filmhochschule École Supérieure des Arts Visuels vor. Claus Löser führt in der Berliner Zeitung durch das Programm des Onlinefestival "10 Days of Iranian Cinema". Im Tagesspiegel empfiehlt Gregor Dotzauer Nadin Mais Online-Magazin The Art(s) of Slow Cinema. Hartmut Becker schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Kameramann Igor Luther. Die Berliner Zeitung gratuliert dem Schauspieler Gojko Mitić zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Serie "Penny Dreadful: City of Angels" (Freitag), Andrew Pattersons auf Amazon gezeigter Film "Die Weite der Nacht" (SZ) und Spike Lees Kriegsveteranendrama "Da 5 Bloods" (SZ, Berliner Zeitung, mehr dazu hier).
Archiv: Film

Musik

Der New York Times hat Bob Dylan eines seiner raren, aber umso epischeren Interviews gegeben. Unter anderem geht es um seine große Abrechnung "Murder Most Foul", eines der jüngeren Lebenszeichen des Nobelpreisträgers: "Ich denke über das Ende der Menschheit nach. Die lange, sonderbare Reise des nackten Affen. Ohne es zu leicht nehmen zu wollen, aber jedes Leben ist so flüchtig. Jedes menschliche Wesen, egal, wie stark oder mächtig, ist zerbrechlich, wenn es um den Tod geht. Ich denke da ganz allgemein, nicht persönlich darüber nach. .... Heutzutage gibt es definitiv mehr Anspannung und Nervosität als früher. Aber das betrifft nur Leute eines gewissen Alters, Leute wie uns beide. Unsereins neigt dazu, in der Vergangenheit zu leben. Aber das sind nur wir. Die jungen Leute haben diese Neigung nicht. Sie haben keine Geschichte. Alles, was sie kennen, ist, was sie sehen und hören und sie glauben alles mögliche. In 20 oder 30 Jahren werden sie an der Spitze stehen. Wenn du heute jemanden siehst, der zehn Jahre alt ist, dann wird der in 20 oder 30 Jahren die Kontrolle haben und keine Ahnung von der Welt, die wir noch kannten."

Sehr anschmiegsam bespricht Stefan Hochgesand in der taz Owen Palletts Konzeptalbum "Island", an dem er sehr viel Freude hat: Es geht um toxische Maskulinät, Drogenabhängigkeit und Problematiken des Hedonismus. "Die Komplexität bei Owen Pallett, wo die Queerness in der Form liegt - sie fischt, bei aller Meeresmetaphorik voller Riffe, nie nach Komplimenten. Und doch läuft sie quer zum Mainstream: So arbeitet Owen Pallett oft mit Techniken der klassischen Musik: etwa Bitonalität - zwei Tonarten in einer -, wie sie sich im sinfonischen Werk von Claude Debussy findet. In einem Popsong taucht dies sonst eher selten auf. Palletts Akkorde dringen mitunter spektral auseinander." Wir hören rein:



Uneins ist sich allerdings Daniel Gerhardt auf ZeitOnline, ob Fynn Kliemanns Album "Pop" wirklich der große Wurf ist, wie die darauf geäußerten Thesen implizieren: "Kliemann kokettiert mit dem völligen Abriss, aber dieses Mal passt die Pose nicht zur Erscheinung. Es gibt ja gerade keinen Müll in seinem Leben und seinen Liedern, keine Menschen und keine Schlagbohrmaschine, die nicht mehr zu reparieren wären. Es gibt nur Probleme und Kliemanns Lösungen. Die Frage ist, ob das die Lösung ist."

Besprochen werden das neue Album von Run the Jewels (Standard, mehr dazu hier und dort) und John Scofields "Swallow Tales" (Standard).

Archiv: Musik