Efeu - Die Kulturrundschau

Tätowierung Nr. 7

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23.10.2020. Der neue Borat-Film bringt selbst die Daily Mail zum Lachen. Die SZ hört, wie Bruce Springsteen mit seinem neuen Album den kosmischen Motor anwirft. Die nachtkritik freut sich über die Rückkehr der Rampensau auf TikTok. Die FAZ hat herausgefunden: Monika Maron ist auch nicht mittelbar mit dem Antaios Verlag in Verbindung zu bringen. Für die Jüdischen Allgemeine hat die ganze SZ ein Antisemitismusproblem.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.10.2020 finden Sie hier

Film

Wieder da: Borat.

Heute startet Sacha Baron Cohens "Borat"-Sequel auf Amazon Prime. Dass er in der Charade des vermeintlich kasachischen Reporters noch immer seine entlarvenden Späße aufführen kann, wundert einen ja schon an sich. Dass es ihm nun, kurz vor der Wahl in den USA, gelungen ist, Trumps Anwalt Rudolph Giuliani in ein kompromittierendes Szenario zu bugsieren, ist da schon ein Coup: Zu sehen ist, wie sich eine Fake-Journalistin an Giuliani ranwanzt, bis dieser mit der Hand in der Unterhose auf dem Bett liegt, als Cohen die Szenerie stürmt. Tobias Kniebe hat sich die Szene für die SZ angesehen. Tomasz Kurianowicz stellt sich in der Berliner Zeitung die Frage, "was die Zur-Schau-Stellung von minderbemittelten Republikanern für einen aufklärerischen Effekt haben soll." Andrian Kreye (SZ) sieht in solchen Szenen auch ein politisches Statement des Anbieters - denn immer mehr Streamingdienste suchen in der Gegenwart nach Haltung: "Amazon hat sich bis zum neuen 'Borat'-Film noch nicht eindeutig positioniert. Netflix hat sich als klar linksliberale Alternative zum rechtsnationalen Medienkosmos aus Talk Radio, Fox News und den sozialen Plattformen positioniert."

Im Daily Mail ist Brian Viner absolut hingerissen: "Just like the original, 'Borat 2' is audaciously brilliant in that it starts off looking like a mickey-take of a backward, former Soviet republic, when really the only object of the mockery is America. In particular, this film sets out to catch the more diehard Trump supporters and far-Right conspiracy theorists, scooping up more than a few others in its satirical net, such as a cosmetic surgeon quite happy to inflate the breasts of 15-year-old Tutar, who wants only to be the next 'Queen Melania'. Most of them unwittingly conspire in their own ridicule, though there are times - as with a kindly Holocaust survivor in a synagogue - when your heart goes out to them. Not everyone deserves to be one of Borat's victims." Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und im Standard.

Weitere Artikel: In der Welt spricht Lilith Stangenberg über ihre Rollen in "Hausen", einer deutschen Horror-Serie, die im Plattenbau spielt. Über diese - und die Netflix-Serie "The Haunting of Bly Manor" - schreibt Sebastian Markt auf ZeitOnline.

Besprochen werden Pablo Larraíns "Ema" (Zeit, mehr dazu hier), Sofia Coppolas für AppleTV gedrehte Tragikomödie "On the Rocks" (online nachgereicht von der FAZ), Moritz Bleibtreus Regiedebüt "Cortex" (Tagesspiegel, SZ), Therese Koppes Dokumentarfilm "Im Stillen Laut" über die Künstlerin Erika Stürmer-Alex und ihrer Lebensgefährtin (taz), Jeff Orlowskis Netflix-Doku "The Social Dilemma" (Freitag), die Wiederaufführung von Elem Klimows Antikriegsklassiker "Komm und sieh" (taz), die DVD von Juraj Herz' Klassiker "Der Leichenverbrenner" von 1968 (Berliner Zeitung) und Ben Wheatleys Netflix-Neuverfilmung von Daphne du Mauriers "Rebecca" (Presse).
Archiv: Film

Bühne

Die Rampensau lebt!, ruft fröhlich der Dramatiker Konstantin Küspert in der nachtkritik - mit Blick auf die Selbstdarsteller bei TikTok. "Im Versuch populär zu sein, vorzukommen, entdecken die Performer*innen en passant Grundelemente theatraler Praxis: TikToks müssen, um erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe haben, meistens überraschend und lustig, und damit grundsätzliche Elemente einer Narration - teilweise regelrechte Fünf-Akt-Strukturen im Miniformat - nachbauen. Stellenweise werden gleichsam Lerninhalte der Schauspielschulen entdeckt, wenn Menschen etwa auf kanonisierten Soundbits Narrative aus ihren eigenen Leben performen und damit nicht das gesprochene Spielen, sondern die Spielebene selbst mit eigener Bedeutung füllen. ... Wenn Theater anfängt über digitale Inhalte nachzudenken, wirklich nachzudenken über die Möglichkeiten einer Fusion von theatralen und digitalen Mitteln, dann könnte eine neue Form des Theaters entstehen, eine neue Sparte für Stadt- und Staatstheater, die unabhängig von Lockdowns und physischen Beschränkungen existiert und die völlig neue Publikumsschichten adressiert".

Weiteres: Felix Lempp versucht sich in 54books an einer Ortsbestimmung der aktuellen Theaterkritik. Auch die Privattheater bekommen jetzt Corona-Hilfen, meldet der Tagesspiegel. Besprochen werden Jossi Wielers Inszenierung von Peter Handkes Kammerstück "Zdeněk Adamec" am Deutschen Theater in Berlin (nachtkritik, Berliner Zeitung, SZ, FAZ) und eine "Cavalleria Rusticana" an der Oper Stuttgart (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

Huang Yan, Chinese Shan Shui Tattoo serie no. 7, 1999, Fondation INK


"Wer bei der Anthropozän-Debatte immer noch nicht verstanden hat, worum es geht, bekommt in Zürich eine Chance, einzusteigen", verspricht im Tagesspiegel Nicola Kuhn, die sich im Rietberg Museum die Ausstellung "Sehnsucht Natur - Sprechende Landschaften in der Kunst Chinas" angesehen hat. "Mensch und Landschaft wurden in der chinesischen Kunst immer schon als Einheit gesehen. In der Landschaft bildet sich die Psyche des Menschen ab, das kennt der Westen bereits von der romantischen Malerei. Aber in China verschmilzt beides, das Funktionieren eines Staates, das Wohlergehen seiner Bürger hat sein Ideal in der Natur. Von dieser existenziellen Nähe handelt auch Huang Yans 'Tätowierung Nr. 7', für die er sich von seiner Frau eine Landschaft auf Brust, Arme und Hände malen ließ. Zwei Kiefern beginnen in Bauchhöhe zu sprießen, die Wipfel eines Gebirges reichen fast bis zu seinen Schultern. Auf einer Hand findet sich die obligatorische Strohhütte, auf der anderen meditiert ein Gelehrter."

Weiteres: Im Guardian schreibt Tim Jonze den Nachruf auf den französischen Fotografen Frank Horvat (daneben gibt es eine tolle Bildergalerie mit Horvats Straßenfotos von New York). Besprochen werden außerdem und Therese Koppes Dokfilm "Im Stillen laut" über die Künstlerin Erika Stürmer-Alex und ihre Lebensgefährtin (taz) und Simon Dennys Schau im K21 Düsseldorf (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Überall - auch im Perlentaucher - hieß es, S. Fischer habe sich von Monika Maron getrennt, weil ihr in der "edition buchhaus loschwitz" erschienener Essayband vom neurechten Antaios Verlag aus Schnellroda vertrieben werde. Eine Information, die Maron selbst im Gespräch mit der WamS gegeben hat. Patrick Bahners kommt nach Nachfragen für die FAZ nun zu dem Ergebnis: Dies stimmt nicht. Die Edition Loschwitz habe weder eine Vertriebsabteilung, noch delegiere sie den Vertrieb. "Es ist nicht so, dass man Marons Essayband nur durch Vermittlung von Kubitschek beziehen könnte und Kubitschek an jedem verkauften Exemplar mitverdienen würde. Noch nicht einmal dies, die Duldung einer Vertriebskooperation, kann Maron von Fischer vorgehalten werden."

In der Jungle World erinnern Daniela Henke und Nikolas Lelle an den Schriftsteller und Filmemacher Thomas Harlan, Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan, an dem er sich zeit seines Lebens abarbeitete. Seinen Roman "'Heldenfriedhof' zu lesen, ist eine Zumutung im besten Sinne. Zugemutet wird der Leserin und dem Leser, der deutschen Schuld ins Gesicht zu sehen - einer Schuld, die nicht allein auf die Taten selbst zu reduzieren ist, sondern darüber hinaus in der verfehlten Aufarbeitung liegt." Bedauerlich finden sie es daher, dass seine "Romane kaum rezipiert werden. Denn sie würden die deutsche Erinnerungsprosa konterkarieren, die die Vernichtung von Menschen häufig in Passivkonstruktionen wie 'wurde deportiert' und 'wurde ermordet' zum Ausdruck bringt, als ob diese Taten keine Urheber hätten."

Weitere Artikel: In einem ZeitOnline-Essay befasst sich Jan Süselbeck mit dem deutschsprachigen Familienroman, der lange im Schatten einer großen Nähe zur Tätergeneration des "Dritten Reiches" stand, jüngst aber neue Perspektiven wage. Adelheid Wölfl berichtet im Standard um eine Kontroverse um Serbien um Saša Ilić: Dass der antinationalistische Schriftsteller dort mit dem NIN-Preis ausgezeichnet wurde, passt vielen gar nicht. Arno Widmann erinnert in der Berliner Zeitung an Iwan Bunin: Der erste russische Literaturnobelpreisträger wurde vor 150 Jahren geboren. Nachrufe auf den Schriftsteller Guntram Vesper schreiben Katrin Hillgruber (Tagesspiegel), Hilmar Klute (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ).

Besprochen werden unter anderem Helmut Lethens Memoir "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug" (SZ) und eine Neuausgabe von Ludwig Hirschfelds Wien-Führer aus dem Jahr 1927 (FAZ).
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Musik

Für Philipp Peyman Engel ist in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung klar: Helmut Maurós Polemik gegen Igor Levit war antisemitisch. Engel wundert das nicht, schließlich habe die ganze SZ eine lange Geschichte antisemitischer Ausfälle: "Wie kann es sein, dass eure Redaktion eine Karikatur des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu veröffentlicht, die klar antisemitische Züge aufweist, was selbst ihr nach nicht abreißender Kritik einräumen musstet? Wie kann es sein, dass eure Zeitung eine Bildkomposition des Facebook-Chefs Mark Zuckerberg - als Krake mit Hakennase, Pejes und Tentakeln - druckt, die Leser an das NS-Hetzblatt Der Stürmer erinnerte? Wie kann es sein, dass eure Zeitung einen Artikel zum Chaos am Mainzer Hauptbahnhof mit dem NS-Vernichtungslager Auschwitz bebildert?"

Jens Uthoff spricht für die taz mit Chuck D über das neue Public-Enemy-Album "What You Gonna Do When the Grid Goes Down". Der Titel beziehe "sich auf das, was bald passieren könnte. Wir wollen den Leuten sagen: Bereitet euch vor auf die Tricks, die Trumps Regierung anwenden wird. Die Leute müssen wachsam sein, denn es kursieren viele Fehlinformationen und Dummheit da draußen. 'The Grid Goes Down' bedeutet so viel wie: Plötzlich könnten Netze zusammenbrechen, nun soll sogar verhindert werden, dass die Leute wählen gehen." Wir hören rein:



Bruce Springsteen hat sich mit seiner E-Street-Band wieder zusammengetan und mit "Letter to You" ein neues Album aufgenommen, das flankiert wird von einer Doku auf AppleTV. Erst vor wenigen Jahren hat Springsteen sein Leben in einer gefeierten Broadway-Show Revue passieren lassen - auch dieses Album kommt im Gestus der Rückschau, schreibt Joachim Hentschel in der SZ: "Dass Springsteen hier in Wahrheit schon den kosmischen Motor anwirft, um die Sphäre des Irdischen zu verlassen, dass man die Platte also als Letzten Willen und Testament hören kann, sozusagen als Brief an Gott: Vieles deutet darauf hin." Markus Schneider von der Berliner Zeitung lustwandelt "durch das Album wie durch ein Boomer-Museum, man wird an allen Ecken und Enden daran erinnert, wie ansteckend Springsteens breitreifiger Sound Mitte des Jahrzehnts den Mythos Amerika gegen die Wirklichkeit USA beschwor." FAZ-Kritiker Jan Wiele freut sich, wie rüstig Springsteen mit seinen siebzig noch zu Werke geht. Das Titelstück:



Weitere Artikel: Sehr traurig meldet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung, dass Keith Jarrett wohl nie wieder Klavier wird spielen können: Wie der Pianist der New York Times verriet, haben ihm 2018 zwei Schlaganfälle schwer zugesetzt. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über Peter Fox' "Haus am See".

Besprochen werden zwei neue Alben von Adrianne Lenker (Tagesspiegel), das neue Album der Gorillaz (taz), neuer Rap aus Bremen von Erotik Toy Records (ZeitOnline) und ein italienischer Abend mit der Akademie für Alte Musik (Tagesspiegel).
Archiv: Musik