Efeu - Die Kulturrundschau

Das Unmögliche möglich machen

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05.11.2020. Die FR ahnt, warum Museumsmann Udo Kittelmann die Neue Nationalgalerie und Berlin verlässt. Die FAZ würdigt den Einsatz der Oper Graz für das Randrepertoire. Im Dlf Kultur schlägt Thomas Ostermeier vor, die Theater den ganzen Winter über geschlossen zu halten und dann im Sommer durchzuspielen. Die SZ sammelt Stimmen von Autoren zur Wahlnacht in den USA. Die taz sichtet online das Programm des Dok.-Filmfestivals in Leipzig. Die SZ staunt über das gewaltige transatlantische Gratis-Onlinefestival des Jazzfestes Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.11.2020 finden Sie hier

Musik

Andrian Kreye staunt in der SZ über den Aufwand, mit dem das heute beginnende Jazzfest Berlin sich in den letzten Monaten als transatlantisches Gratis-Onlinefestival aufgestellt hat, mit Standleitungen zu einer Live-Location in den USA, dazu Radio- und TV-Übertragungen sowie zusätzliche Videoprojekte. "Was nach Reizüberflutung klingt, ergibt im Netz ein in sich schlüssiges Gesamtbild eines Stroms, der der Grundhaltung des Jazz mehr als gerecht wird. Die Streamingwelt ist ja nicht der erste technische Fortschritt, den der Jazz umarmt und für die eigene Evolution nutzt. Mikrofon, Aufnahmestudio und Synthesizer waren alles mal Neuerungen, für die der Jazz neue Verwendungen und dann auch Formen fand. Warum sollte das diesmal anders sein." Dass von einer solchen Digitaloffensive Impulse ausgehen können, glaubt auch tazler Steffen Greiner: "Sind die Reisen großer Combos angesichts des Klimawandels zeitgemäß? Wie kann das Lokale mit dem Globalen nachhaltiger verzahnt werden?" Andererseits "gehören der enge Keller, das stickige Nebeneinander und das Durcheinanderpalavern zur Musik wie das Saxofon".

In der Zeit sorgt Herbert Grönemeyer mit einem kreativen Vorschlag für Aufsehen: Warum mit Blick auf einen kargen Corona-Herbst nicht die Solidarität der Wohlhabendsten - Grönemeyer spricht von 1,8 Millionen Millionären im Land - erzwingen, um den Musik- und Kulturbetrieb zu retten? Wenn diese sich "bereit erklären würden zu einer zweimaligen Sonderzahlung von zum Beispiel 50.000 bis 150.000 Euro, jeweils in diesem wie auch im nächsten Jahr, stünden ad hoc circa 200 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung, um Existenzen zu sichern, Pleiten aufzufangen und Ängste zu mildern. ... Wir befinden uns nicht in einer Weltwirtschaftskrise. Geld ist im Übermaß und in Unverhältnismäßigkeit vorhanden."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel spricht Manfred Honeck, Chefdirigent des Pittsburg Symphony Orchestra, über die missliche Lage, in der sich die US-Orchester derzeit befinden: "Chor und Orchester der Metropolitan Opera in New York haben seit April kein Gehalt mehr erhalten." Besprochen wird die Compilation "Blue Note Re:Imagined" (Presse).
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Film

Naturschönheit oder Horrorfilmidyll? Jim Finns "Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant" (DokLeipzig)

Fabian Tietke resümiert in der taz das weitgehend online stattgefundene Festival Dok.Leipzig, wo ihm die hohe Anzahl von Fernsehdokumentationen die Sichtungen mitunter schon arg zur Last machten. "Eine glorreiche Ausnahme: Der US-Filmemacher Jim Finn hat mit 'The Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant' einen der sehenswertesten Filme zum amerikanischen Bürgerkrieg und dessen Mythologisierung der letzten Jahre gedreht. ... In den Naturaufnahmen der Schlachtfelder und Schauplätze wird das Ausmaß des Blutbades merkbar, und bisweilen ergeben sich Brücken in die Gegenwart. Finn hat seinen Film analog auf 16mm-Film gedreht, was einerseits die Schönheit der Natur betont, Familienerinnerungen anklingen lässt, andererseits an Horrorfilme aus den 1970er Jahren erinnert. All das evoziert angenehm zurückhaltend den Horror des Bürgerkriegs." Der Film steht derzeit noch im On-Demand-Angebot des Festivals zum Kinoticketpreis zur Verfügung.

Weitere Artikel: Urs Bühler spricht für die NZZ mit dem Schweizer Regisseur Stefan Haupt über dessen Filmessay "Zürcher Tagebuch". In der FAZ gratuliert Claudius Seidl 60s-Ikone Elke Sommer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Sky-Serie "The Comey Rule" (FR) sowie DVD-Veröffentlichungen von Natalie Erika James' Horrorfilm "Relic" (taz) und von Andrzej Wajdas Klassiker "Danton" (Berliner Zeitung).
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Bühne

Szene aus "Die Passagierin" in Graz. Foto: © Werner Kmetitsch


Gerade noch vor dem erneuten Lockdown konnte die Oper Graz der bereits für März geplante Inszenierung Nadja Loschkys von Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" aufführen, berichtet Reinhard Kager, der dabei war, in der FAZ. Sie spielt auf einem Passagierdampfer in den 60ern auf dem Weg nach Brasilien, zu dessen Passagieren eine ehemalige KZ-Aufseherin gehören und eine der damaligen Häftlinge, so Kager, der nicht nur diese Aufführung, sondern auch das Programm der Grazer Oper insgesamt lobt: "Seit Beginn der Intendanz der Schweizerin Nora Schmid im Jahr 2015 widmet sich das Haus kontinuierlich dem Randrepertoire - mit dem Erfolg durchweg hohen Auslastungszahlen. Hinter diesem Erfolg steckt ein schlüssiges dramaturgisches Konzept. Lässt man die Raritäten in den Grazer Spielplänen der letzten Jahre Revue passieren, so fällt auf, dass es meist Schicksale von Außenseitern, Entrechteten, Verfolgten waren, die darin thematisiert werden - ob in Schrekers 'Der ferne Klang' (2015) oder in Martinůs 'Die griechische Passion' (2016), ob in Zemlinskys 'Der Zwerg' und Dallapiccolas 'Il prigioniero' (2017) oder in Humperdincks 'Die Königskinder' (2019)."

Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier hat im Interview mit Dlf Kultur vorgeschlagen, die Theater über den ganzen Winter geschlossen zu halten, um dafür den ganzen Sommer über zu spielen: "Man müsse der Kulturpolitik auf Landes- und auch auf Bundesebene klarmachen, dass 'dieses 'On and Off' die Leute zermürbt, dass es Arbeitsbeziehungen unnötig belastet'. Es sei auch wirtschaftlich nicht sinnvoll, wenn man Stücke und Premieren plant, diese dann nicht rausbringen kann. Im Moment komme man zwar aufgrund des Kurzarbeitergeldes finanziell noch hin. 'Schwierig wird es dann, wenn die akute Pandemie vorbei ist, wir aber mit den Nachwehen dieser Jahrhundertkatastrophe zu tun haben, nämlich mit leeren öffentlichen Haushalten.'"

Stephan Märki, Intendant des Staatstheaters Cottbus, lehnt Ostermeiers Vorschlag im Gespräch mit Dlf Kultur ab: "Ich habe da eine ganz andere Haltung, weil ich finde, Theater sollten immer versuchen, das Unmögliche möglich zu machen. Und das ist ja in diesem Fall: Nähe in der Distanz herzustellen, also Theater oder große Opern auch unter Coronabedingungen auf die Bühne zu bringen."

Weiteres: In der taz berichtet Sabine Leucht von den Figurentheaterfestivals "Wunder" und "Theater der Dinge" in München und Berlin. Auf Zeit online erzählt Lili Hering wie das Burgtheater während des Terrorattentats am Montagabend zur Zufluchtsstätte für die Wiener wurde. Bernd Noack besucht für die NZZ den Wiener Schauspieler Philipp Hochmair, der demnächst im ZDF-Film "Die Wannseekonferenz" Heydrich spielen wird

Besprochen werden eine " Zauberflöte" an der Semperoper in Dresden (nmz) und ein "Lohengrin" in Leipzig (nmz).
Archiv: Bühne

Kunst

Udo Kittelmann, Direktor der Neuen Nationalgalerie, geht und will immer noch nicht sagen, warum. Ingeborg Ruthe ahnt es in der FR mit "Blick auf die Situation und diverse Konstellationen der Staatlichen Museen zu Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Hier darf man wohl ergänzen, was Kittelmann so nicht aussprechen wollte: Reformbedarf, die Auflösung versteifter, uneffektiver bürokratischer Strukturen und starrer Hierarchien, die sich gegenseitig bis zur Absurdität behindern, die wohlfeilen Schuldzuweisungen bei Pannen, die Rolle der Politik. Genug ist genug. Kittelmann kehrt der Berliner Kunst im Jahr der Corona-Heimsuchung den Rücken. Es ist ihm anzumerken, dass er das nicht leichtfertig entschieden hat, sondern dass da etwas grundsätzlich falsch gelaufen sein muss. So verquer, dass sein sprichwörtlicher Enthusiasmus, dieser ausgeprägte Optimismus so gänzlich aufgebraucht sind." Das ist für Berlin so typisch wie die lieblose Verabschiedung des angesehenen Museumsmannes: "Die Staatlichen Museen zu Berlin versandten per E-Mail eine dreiseitige Würdigung der Arbeit Kittelmanns im amtlichen Nachruf-Modus".

Weiteres: Shanna McGoldrick bewundert im Guardian 50 Schaufenster in Manchester, die den Lockdown für eine kleine Kunstausstellung nutzen. In der FAZ feiert Andreas Platthaus die bei Suhrkamp erschienenen James-Joyce-Comics des Zeichners Nicolas Mahler.
Archiv: Kunst

Literatur

Die SZ hat bei Autorinnen und Autoren nachgefragt, wie sie die Wahlnacht in den USA erlebt haben. Manche liebäugelten in den frühen Stunden schon mit dem Schnaps: "Ich habe nichts Neues oder Hilfreiches über Politik zu sagen", gesteht etwa Kristen Roupenian. "Ich habe die Aufgabe, diesen Text zu schreiben, nur übernommen, um mich nicht ins Nirwana zu trinken. Es ist jetzt elf Uhr abends und ein paar Nachrichtensender haben Arizona soeben Biden zugeschlagen, weshalb ich mich jetzt ein wenig besser fühle als noch vor einer Stunde." Im Dlf Kultur spricht die in Deutschland lebende US-Autorin Nell Zink darüber, wie sie die ersten Stunden nach der Wahl erlebt hat.

Weitere Artikel: Stefan Müller-Doohm denkt in der NZZ über die Parallelen zwischen Lesen und Gehen nach. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung beklagt sich die Schriftstellerin Katja Lange-Müller sehr über die Zustände in Berlin, wo der Sperrmüll von nicht wenigen Leuten einfach nachts auf der Straße entsorgt wird.

Besprochen werden unter anderem Karine Tuils "Menschliche Dinge" (online nachgereicht von der FAZ), Gunnar Deckers "Zwischen den Zeiten" über die späte Literatur der DDR (Dlf Kultur), der von Peter Urban-Halle und Henning Vangsgaard herausgegebene Band "Licht überm Land" mit dänischer Lyrik (FR), Steven Uhlys "Finsternis" (SZ) und Nicolas Mahlers Comicadaption von James Joyce' "Ulysses" (FAZ).
Archiv: Literatur