Efeu - Die Kulturrundschau

Die Gefühle sind subtiler

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25.03.2021. In Myanmar protestieren die Dichter mit einer Video-Aktion gegen den Militärputsch, erzählt die taz. Wenn wir nur spielfilmartige Dokus sehen wollen, müssen wir uns über Fälschungen nicht wundern, meint die FR angesichts der gefakten Szenen in Margarete Lehrenkrauss' Doku "Lovemobil". Einen Mord dafür zu erfinden, geht allerdings zu weit, meint Zeit online. Monopol singt ein Liebeslied auf den deutschen Kunstverein. Und der Countertenor Tim Mead erklärt im Interview mit Van, warum er lieber Barock als Puccini singt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2021 finden Sie hier

Literatur

32 Dichterinnen und Dichter haben in Myanmar mit einer Video-Aktion gegen den Militärcoup protestiert, berichtet Esther Dischereit in der taz: "Unter den älteren sehr bekannten Dichterinnen und Dichtern des Landes ist es Thitsar Ni, der zunächst aus dem Off rhythmisch einen Sprechgesang anstimmt: Gerechtigkeit und Frieden. Und weiter: 'Wir sehen, wie sie unsere Nationalhymne aufs Schafott schicken. / Die Ansage, die Ära der Sandalen sei zu Ende gegangen / Kommt in der Öffentlichkeit an wie ein gebrauchtes Kondom aus einem Bordell.' Zeyar Lynn, auch bereits betagt, würdigt den Mut der Jungen, der Kinder, wenn er sagt: 'Wir können die Zeit nicht zurückdrehen / Die Kinder, die du und ich nicht hatten / haben zu den Waffen gegriffen zu einer Zeit, als wir nicht lebten'" und "im Gedicht 'Ogre Aluwaka' prophezeit Maung Pyiyt Min die Kapitulation des Monsters".



Weitere Artikel: Thomas Hummitzsch setzt seine Intellectures-Reihe mit Orwell-Übersetzern fort: Hier spricht er mit Eike Schönfeld, dort mit Gisbert Haefs. Arno Widmann versenkt sich für die FR in Dantes "Göttliche Komödie". Bei einer Tagung diskutierte das Marbacher Literaturarchiv über das eigene Selbstverständnis, berichtet Jan Wiele in der FAZ.

Besprochen werden unter anderem Christoph Ransmayrs "Der Fallmeister" (Standard, online nachgereicht von der FAZ), Ulrike Sterblichs "The German Girl" (taz), Anna Haifischs "Residenz Fahrenbühl" (Tagesspiegel), der 100. "Lucky Luke"-Band, zum Jubiläum mit Geschichten aus der Anfangszeit des Comics (FR) und Kevin Barrys "Beatlebone" (FAZ).
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Film

Diese Protagonistin aus dem Dokumentarfilm "Lovemobil" ist keine Sexarbeiterin, wie es im Film heißt. Foto © WDR/NDR/Christoph Rohrscheidt


Der künstlerische Dokumentarfilm hat seine eigenen Regeln und seine eigenen Verdienste und es steht ihm ohne weiteres frei, an der Grenze zu Fiktion und zum inszenierten Film zu hantieren, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR im Hinblick auf den Skandal um Elke Margarete Lehrenkrauss' für den NDR produzierten Kino-Dokumentarfilm "Lovemobil", der vorgab, echte, marginalisierte Sexarbeiterinnen zu zeigen, die sich nun allerdings als Schauspielerinnen entpuppten (unser erstes Resumee). In "Lovemobil" lassen sich laut Kothenschulte demnach auch künstlerische Qualitäten bewundern, die einer Relotius-Fälschung etwa abgingen. "In jedem Fall führt uns dieser Film ein Dilemma der gegenwärtigen Dokumentarfilmkultur vor Augen: Warum wünschen sich Fernsehredaktionen und Festivals Dokumentarfilme, die aussehen wie Spielfilme? Und warum ist ein Publikum so leicht bereit, diese Inszenierung für authentisch zu halten? Hängt es vielleicht auch damit zusammen, dass man einer Nigerianerin und einer Bulgarin eher zutraut, 'echte' Prostituierte zu sein, und dieser Effekt mit deutschen Laiendarstellerinnen nicht so einfach leicht zu erreichen gewesen wäre?" (Andererseits könnte es natürlich auch sein, dass nur die Filmemacherin das glaubt, nicht das Publikum.)

Eine Cutterin wirft Lehrenkrauss zudemvor, bei den Recherchen einen O-Ton-Geber glatt dazu gedrängt zu haben, einen Mord im Milieu zu erfinden, berichtet René Martens auf ZeitOnline. Martens war Teil der Grimme-Jury, die "Lovemobil" nominiert hat, und gewährt einen kleinen Einblick: Rasch diskutierte man über "die inszenierten Szenen. Dass es von diesen im Film nur so wimmelt, ist offensichtlich. Dokumentarfilmerinnen können nicht das Glück haben, bei jedem entscheidenden Ereignis im Alltag ihrer Protagonisten und Protagonistinnen anwesend zu sein, erst recht nicht im Milieu der Prostitution. Solange solche nachgestellten Szenen wahrhaftig sind, sind sie im Bereich des Dokumentarfilms legitim", aber "aus dramaturgischen Gründen einen Mord zu erfinden, kann nicht legitim sein."

Im Perlentaucher schreibt Robert Wagner über das Phänomen Bruno Sukrow, einem Rentner mit Aachen der mittels Game-Engines sehr eigensinnige Filmwelten schafft (eine kleine Auswahl davon gibt es in diesem und in diesem Youtube-Kanal): "Etwas so Mangelhaftes wie unsere Realität wird von 'Der Irrtum' ohne Heimweh überwunden und meilenweit hinter sich gelassen."

Außerdem: Unter anderem die FAZ meldet, dass ein polnisches Gericht das ZDF dazu verurteilt hat, in seinen Programmen eine Entschuldigung für den (zur Erstausstrahlung von so gut wie allen Feuilletons zum Monumentalereignis hochgejazzten) TV-Mehrteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" zu senden. Jonas Lübkert denkt für 54books über die Allgegenwärtigkeit von Superhelden im Kino nach. Edo Reents schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schauspieler George Segal.

Besprochen werden Oliver Schwehms SWR-Doku "Verzaubert und verdrängt" über den Nazi-Filmfunktionär Helmut Schreiber, der in den Wirtschaftswunderjahren eine Karriere als Bühnenzauberer hinlegte (Perlentaucher), Wu Haos und Chen Weixis Dokumentarfilm "76 Days" über die Anfänge der Pandemie in Wuhan (SZ), der beim Human Rights Film Festival Berlin gezeigte Kurzdokumentarfilm "Hunger Ward" über die Hungerkrise im Jemen (SZ), John Turturros "Jesus Rolls", eine Fortsetzung zu "The Big Lebowski" von den Coen-Brüdern (SZ), die spanische Netflixserie "Sky Rojo" (ZeitOnline) und Juris Kursietis' "Oleg" (taz, mehr dazu hier).
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Kunst

Ein wunderschönes Liebeslied an den von seinen Mitgliedern getragenen deutschen Kunstverein singt Hans-Joachim Müller in Monopol: "In Zeiten, in denen die Kunstwelt mit Inbrunst auf den Markt starrt und Sammlermuseen den Geschmack der gesellschaftlichen Eliten spiegeln, klingt es fast ein wenig romantisch, wenn man daran erinnert, dass es einmal die Kunstvereine waren, die die Wege der Kunst nicht nur nachgezeichnet, sondern mehr noch mit Witz und Ausdauer vorgespurt haben. ... Bei den Durchsetzungskämpfen der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhielten sie sich meist defensiv oder zögerlich. Und ihre große Zeit begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie sich unter neuen Vorständen und Direktoren mehrheitlich auf die Seite der Gegenwartskunst schlugen und sie auch jenseits der Landesgrenzen suchten. Plötzlich brach sie überall auf, diese ansteckende Neugier auf internationale Entwicklungen. Ein unschätzbares Gut in der provinziellen Kultur der 50er-Jahre. Es war kein Museum, es war der Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf, der 1961 Jackson Pollock zeigte. Von nun an musste, wer sich informieren wollte, immerzu auf den Beinen sein."

Im Interview mit Monopol skizziert der Kurator Andrea Lissoni, neuer Direktor des Münchner Hauses der Kunst, welche Richtung er mit dem Museum einschlagen will: "Irgendwann im vergangenen Jahr gab es diesen Moment, als alle plötzlich wieder davon schwärmten, wie schön es sei, wenn man vor einem Werk stehe und sich ganz der Kontemplation hingebe. Das hat mich aufgeregt. Seit so vielen Jahren kritisieren wir die modernistische Konvention, die das Werk im Rahmen einsperrt und in die Schachtel des White Cube steckt. Wir wollten den Werkbegriff verflüssigen. Und jetzt sollen wir wieder davor stehen und uns hineinversenken? Wir brauchen alle Sinne für die Kunst, es geht darum, wie wir uns bewegen, was wir riechen, was wir hören. Geräusche im Museum sind keine Störung, es gibt das Spiel des Lichts, und das Gebäude selbst ist da, mit all den Wasserleitungen, die pumpen. All das ist doch auch wahrnehmbar."

Weiteres: In der SZ berichtet Catrin Lorch über das geplante Museum M+ in Hongkong. Besprochen werden eine Daniel-Spoerri-Retrospektive im Bank-Austria-Kunstforum in Wien (Standard) und die Ausstellungen "Henry Moore in Toscana" sowie "Henry Moore. Il disegno dello scultore", beide im Museo Novocento in Florenz (FAZ)
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Musik

Paul-Philipp Hanskes schwärmt in der SZ von der BBC-Sendung "Radio 1's Residency", die "tatsächlich etwas Clubatmosphäre in die Wohnzimmer überträgt". Amira Ben Saoud staunt im Standard darüber, was man beim Eurovision Song Contest alles über Politik lernen kann. Für VAN unterhält sich Hartmut Welscher mit Nikolaus Römisch, Cellist bei den Berliner Philharmonikern, über das Erlebnis, endlich wieder vor Publikum gespielt zu haben (unser Resümee). Erwartungsgemäß fallen die Antworten begeistert aus: "Das hat den Akku wieder aufgeladen." In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Chiquinha Gonzaga. Außerdem vergleicht Lücker für VAN verschiedene Aufnahmen von Carl Philipp Emanuel Bach. Arno Widmann schreibt in der FR über Bachs vor 300 Jahren abgeschlossene "Brandenburgische Konzerte" und legt uns insbesondere dieses Youtube-Erklärvideo mit Nikolaus Harnoncourt ans Herz:



Besprochen werden Charles Lloyds Album "Tone Poem" (Presse), neue Einspielungen barocker Kammermusik (NZZ) und das Album "D.F." von Mexican Institute of Sound, hinter dessen Name sich allerdings nur ein einziger Musiker verbirgt (taz). Wir hören rein:

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Architektur

In der NZZ erinnert Anna Schindler an die Zürcher Architektin Annemarie Hubacher-Constam, "eine der ersten Frauen im Herrenklub der Schweizer Architektur", die zusammen mit ihrem Mann Hans Otto Hubacher in den vierziger Jahren ein Architekturbüro gründete und die u.a. für die Saffa, die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit, 1958 einen Wohnturm entwarf: "Der Chefarchitektin stand ein großes Frauenteam zur Seite: 33 Architektinnen, eine Ingenieurin und 34 Grafikerinnen. Sie gestalteten auf der Landiwiese und der eigens aufgeschütteten Saffa-Insel eine Ausstellung, deren Masterplan einerseits State of the Art im zeitgenössischen Städtebau war, andererseits aber auch die Themen aufnahm, die den Frauen zugesprochen wurden, um sie in moderner weiblicher Perspektive umzusetzen. 'Die Frau als Gestalterin des Wohnens' war eines dieser Kapitel, und die Chefin der Saffa schuf dafür höchstpersönlich ein Gefäß: einen 30 Meter hohen Turm, eine zweiseitig mit Wellaluminium verkleidete Stahlkonstruktion mit transparenten Brüstungen aus Armierungsnetzen."
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Bühne

Im Interview mit dem Van Magazin erzählt der in London lebende Countertenor Tim Mead, wie er durch die Pandemie gekommen ist und warum er lieber Barock singt als Puccini oder Wagner: "Diese offensichtliche, emotional überschwängliche Musik nervt mich eher, besonders bei Puccini. Das funktioniert für mich einfach nicht. In der Barockmusik muss man sich die Emotionen hart erkämpfen, das gefällt mir. In gewisser Weise ist diese Musik ehrlicher und echter, weil sie nicht so over the top daherkommt. Die Gefühle sind subtiler. Aber sie aus der Musik herauszuarbeiten, kann ziemlich viel Spaß machen."

Den Rücktritt von Volksbühnenintendant Klaus Dörr habe sie nie gefordert, erklärt im Interview mit der nachtkritik Eva Huber vom Vorstand der Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt im Kulturbereich Themis. Sie seien vielmehr nur zur Unterstützung der Betroffenen von sexueller Belästigung da. "Wir arbeiten mittlerweile auch stark im präventiven Bereich: Unsere Berater*innen hatten Ende letzten Jahres und im Februar acht Webinare angeboten, die sofort ausgebucht waren. Die Nachfrage wird auch von Arbeitgeber*innen-Seite immer größer. In diesem Zusammenhang hat Themis einen Leitfaden zur Gesprächsführung in Fällen sexueller Belästigung herausgegeben, der viel nachgefragt wird."

Weiteres: Kevin Hanschke besucht für die FAZ die Theatergruppe Gob Squad. Besprochen wird Andonis Foniadakis' gestreamte Choreografie "Palmos" am Ballet Vlaanderen in Antwerpen (SZ).
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