Efeu - Die Kulturrundschau

So, weiter gehts!

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2021. Die SZ spürt im Haus der Kunst den Schweiß, der Menschen zusammenbringt. Auf ein erwartbar geteiltes Echo stößt Frank Castorf mit seiner "Fabian"-Inszenierung am Berliner Ensemble. Im Standard erinnert Elfriede Jelinek an den Lyriker H.C. Artmann, von dem sie lernte, dass es kein Zuviel gibt. Die Welt klagt, dass das Centre Pompidou schon wieder geschlossen wird. Und die FAZ lauscht dem Blues des Gitarrenvirtuose Mdou Moctar.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.06.2021 finden Sie hier

Kunst

Pacita Abad: "Girls in Ermita". 1983 /Haus der Kunst

SZ-Kritikerin Catrin Lorch reibt sich die Augen beim Gang durch die Ausstellung "Sweat", für die das Münchner Haus der Kunst eine ganze Anzahl von hierzulande bisher unbekannten KünstlerInnen zusammengestellt hat. Wenn das brasilianische Künstlerduo Chameckilerner hier Samba tanzen lässt oder die Philippinin Pacita Abad Sexarbeiterinnen auf Textilbilder zeigt, steht der Schweiß nicht für Erotik, sondern für die körperliche Nähe der Solidarität, betont Lorch: "Der fliegende Teppich, auf dem die internationale Riege der Kuratoren vor der Pandemie gleitend durch die globale Kunstwelt segelte, steht jetzt ganz offensichtlich zusammengerollt in der Ecke: Die so drastische, durchaus auch dramatische Ausstellung 'Sweat' wirkt - endlich -, als seien die Künstler selbst hier eingebrochen, hätten sich den kalten Steinboden im Haus der Kunst genauso erobert wie den Asphalt einer Stadt. Unaufhaltsam, verspielt. Mit Wortwitz und überwältigend schönen Bildern."

In der FAZ geht Andreas Kilb ziemlich scharf mit den Werken der israelischen Künstlerin Yael Bartana ins Gericht, der das Jüdische Museum gerade die Ausstellung "Redemption Now" widmet. Dass sie in ihrem Video "Malka Germania" Albert Speers Germania-Modell zum Symbol kollektiver Sehnsüchte nobilitiere, grenzt für ihn an Pornografie, aber auch in anderen Arbeiten findet er sie zu schwach: "In dem zitierten Gespräch sagt Yael Bartana, sie habe immer das Gefühl gehabt, 'dass Deutsche und Jüdinnen und Juden irgendwie Erlösung von der Geschichte brauchen'. In dem 'irgendwie' dieses Satzes steckt Bartanas künstlerisches Scheitern. Erlösung heißt Befreiung vom Leiden, und Leiden bezieht sich auf konkrete geschichtliche Erfahrungen. Auch ein Messias macht Speers Halle nicht zum Tempel und Germania nicht zur Jüdin. In der Kunst ist Unschärfe eine Form von Respektlosigkeit."

Weiteres: Voller Bewunderung schreibt Philipp Meier in der NZZ über die afroamerikanische Künstlerin Kara Walker, der das Kunstmuseum Basel eine große Ausstellung widmet: "Kara Walker ist keine Moralistin mit erhobenem Mahnfinger. Sie ist Künstlerin. Und mit ihrer Kunst schafft sie Raum für Reflexion - einen sehr großen und tiefen Raum sogar." Brigitte Werneburg berichtet in der taz von einem Workshop zur NS-Verstrickung der Documenta-Gründer. Besprochen werden eine Ausstellung zu Camille Henrot in der Kestner Gesellschaft in Hannover (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Fabian" am BE. Foto: Matthias Horn


Da vor einige Jahren die deftigere Originalversion von Erich Kästners Zwanzigerjahre-Roman "Fabian oder Der Gang vor die Ende" herauskam, hat sich nicht nur Dominik Graf den Stoff vorgenommen, sondern auch Frank Castorf für eine fünfstündige Inszenierung am Berliner Ensemble. Laut und lang ist sie geworden, räumt Nachtkritiker Janis E-Bira, der trotzdem großes Theaterglück erlebte. Denn Castorf erzähle vom Verfall des Männer-Egos in der Noir-Version: "Sind Fabian und Labude bei Kästner mehr oder minder theorieverquaste Dandys, aus deren Abenteuern sich der Autor immer dort anspielungsreich ausblendet, wo das Triebhafte den Witz zernagt, gibt es bei Castorf kein Backen ohne Mehl. 'Komm, wir gehen ein bisschen ins Bordell', sagt Döhlers Labude schon nach wenigen Minuten. Politik und Puff verlängern sich hier gegenseitig zur Herrschaftshaltung im vermeintlich konsequenzenlosen Raum." In der SZ zeigt sich Peter Laudenbach durchaus auch angetan, aber nicht restlos überzeugt: "Der Fieberwahn ist der natürliche Zustand seines Theaters. Für Kästners spöttische Eleganz, für Fabians ratlose Einzelgänger-Melancholie hat die Inszenierung keine Verwendung."

In der taz findet Simone Kaempf, dass der Abend den Schauspielerinnen gehört: "Margarita Breitkreiz schlüpft mit voller Verausgabung in Rollen von der Mutter bis zu opiumsüchtigen Künstlerin. Sina Martens verwandelt die Schlafzimmer-Szenen in die der komischen Art. Und Clara de Pin, die mit Burlesque-Tänzerin Madita Mannhardt an der Seite bis in die ersten Publikumsreihen klettert, verströmt mehr moralische Grandezza als der Männer-Haufen hinter ihr." Im Tagesspiegel winkt Rüdiger Schaper ab: "Im BE kaum eine Spur von Kästners Ironie und Melancholie. Castorf kann nur hart und laut und blutig. Das Hinterzimmer ist eine Metzgerei mit Schweinehälften und Fleischwolf; ein sprechendes Requisit. Alles muss da durch. Dazu flaue Weinstein-Schweinstein-Sprüche, von wegen Filmindustrie." Auch in der Welt stöhnt Elmar Krekeler: "Es ist ein einziger Albtraum. Politik interessiert Castorf nicht. Liebe interessiert ihn auch nicht."

Weiteres: In der taz unterhält sich Regine Müller mit Festivaldirektor Stefan Schmidtke über das am Donnerstag in Düsseldorf startende "Theater der Welt".  Besprochen werden Lilja Rupprechts Inszenierung von Ingeborg Bachmanns "Malina" am Schauspiel Frankfurt (FR, FAZ), Stefan Herheims "Rheingold"-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin (FR, FAZ), "Pelléas und Mélisande" am Akademietheater Wien (SZ) und ein "Idomeneo" beim Würzburger Mozartfest (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In einer kurzen, im Standard veröffentlichten Hommage-Notiz an den Lyriker H.C.Artmann, der am Samstag vor hundert Jahren geboren wurde, bekennt die Schriftstellerin Elfriede Jelinek: "Ich habe, zumindest am Anfang meines Schreibens, von keinem Autor soviel gelernt wie von H.C. ... Was ich ihm verdanke, ist, dass man alles schreiben kann mit allem, mit allen Zutaten, und dass nichts zuviel und nichts zuwenig ist, denn alle Worte, die es gibt, stehen einem zur Verfügung. Ich würde es ein akkumulatives Verfahren nennen. Die Sprache ist irgendwo angrennt, und sie rennt weiter, etwas benommen, weil sie zu so vielen daherkommt, dass das einzelne Wort kaum Luft schnappen kann. So, weiter gehts!" Auch Standard-Kritiker Ronald Pohl würdigt Artmann.

Weitere Artikel: Im Dlf Kultur diskutieren Thea Dorn, Jörg Magenau und Johannes Franzen über Wohl und Wehe der Literaturkritik im Netz. Die FAZ dokumentiert Nora Bossongs Dankesrede zum Thomas-Mann-Preis. Handke-Libero Mladen Gladic erinnert in der Welt zur EM an Peter Handkes "Angst des Tormanns beim Elfmeter". In der Dante-Reihe der FAZ widmet sich Paul Ingendaay Dantes blutigen Szenen.

Besprochen werden unter anderem eine Neuausgabe von Cesare Paveses Romantrilogie "Der schöne Sommer" (Tagesspiegel), Yulia Marfutovas Debütroman "Der Himmel vor hundert Jahren" (online nachgereicht von der Welt), Volker Brauns Lyrikband "Große Fuge" (Freitag), Nora Eckerts Memoir "Wie alle, nur anders" (online nachgereicht von der FAZ), Michel Winocks Flaubert-Biografie (NZZ), Lukas Maisels "Das Buch der geträumten Inseln" (Standard), Olli Jalonens "Die Himmelskugel" (NZZ) und eine Schau des Literaturmuseums Wien über Stefan Zweig (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Albrecht Koch über Sapphos "Das hat mir ja das Herz in der Brust zusammenzucken lassen":

"Es scheint mir jener gleich den Göttern
zu sein, der Mann, der gegenüber dir
sitzt und aus direkter Nähe, wie du süß die Stimme
..."
Archiv: Literatur

Architektur

Das neue Munch Museum, erbaut von Estudio Herreros. Photo: Guttorm Stilén Johansen © Munchmuseet


Das neue Munch-Museum in Oslo ist doch noch gebaut worden, nahezu wider Erwarten, erzählt Aldo Keel in der NZZ: "Das Ringen um seinen Standort - im multikulturellen Osten oder in der luxuriösen Fjord-City - artete zum "Kampf um Oslos Seele" aus, der - wie der Poet Jan Erik Vold befand - zwischen 'elitären Kultursnobs' und der 'Volksaufklärung' ausgefochten wurde... Jahrelang blieben die Fronten verhärtet, das ganze Projekt drohte zu scheitern, bis eines Tages die Linkssozialisten aus der roten Front ausscherten und mit den Bürgerlichen einen Deal schlossen, der den Neubau in der Fjord-City rettete. Im Gegenzug stimmten die Bürgerlichen einer hohen Summe zu, um das East End, wo die grössten Moscheen der Stadt stehen, mit einem Technopark, einem Freibad und andern Herrlichkeiten auszustatten."

Das Pariser Centre Pompidou muss, kurz nach seiner Sanierung, schon wieder schließen, wie Martina Meister in der Welt berichtet. Das Problem ist seine kühne Architektur, die alles Funktionale nach außen kehrte: "Serge Lasvignes spricht von einer 'quasi Rekonstruktion'. Das größte Problem sei der Energieverbrauch: Es gibt keine Isolation. Die Hülle, eine Fläche von 18.345 Quadratmetern, ist aus Glas. Das Gerüst, in dem das Glas sitzt, ist mit Asbest verseucht. Sommers wie winters wird kalte und heiße Luft produziert und vermischt, erklärt Lasvignes, eine vollkommen überholte Gebäudetechnik, ja alles zusammengenommen ein 'ökologischer Skandal'. Durch die Renovierung sollen die Energie- und Heizkosten um 60 Prozent reduziert, das Asbest entsorgt und neuen Brandschutz- und Katastrophennormen genügt werden."
Archiv: Architektur

Film

Auf der Suche nach der Innenwahrheit: Julianne Moore in "Lisey's Story" (Bild: Apple TV+)

In der Apple-Serie "Lisey's Story" vereinen sich mit Pablo Larraín (Regie), Stephen King (Vorlage und Drehbuch) und Julianne Moore (Hauptrolle) die kreativen Kräfte von hochstehendem Autorenfilm, Horrorliteratur und Hollywoodkino. FAZ-Kritiker Dietmar Dath ist in seiner online nachgereichten Besprechung von diesem intimen Porträt einer Witwe, die zum äußersten geht, tief beeindruckt: "Das aktuelle Film-, Stream- und Fernsehwesen inszeniert gern Paarläufe von Menschen mit allerlei nicht vorhandenem Personal, etwa mit digital veränderten Kolleginnen und Kollegen oder gänzlich computeranimierten Figuren. Larraíns Arbeit bei den Szenen, in denen jemand oder etwas nicht da ist, aber von Moore wahrgenommen werden soll, wendet dies ins Metaphysische: Die Schauspielerin muss eine Innenwahrheit aus sich herausspielen, bis wir sie zwar immer noch nicht sehen und hören können, aber glauben. Das tut Julianne Moore tatsächlich - und tritt damit dem Geist des Autors King näher, als man je für möglich hielt."

Außerdem: Susanne Burg spricht im Dlf Kultur mit der Filmemacherin Emma Seligman über deren (in der SZ besprochene) Tragikomödie "Shiva Baby", die derzeit auf Mubi zu sehen ist. Andreas Busche befragt im Tagesspiegel die Filmemacherin Céline Sciamma nach ihrem neuen, auf der Berlinale gezeigten Film "Petite Maman" ("ein magisch funkelndes Kleinod", schrieb Thekla Dannenberg im Perlentaucher). Kerstin Holm gratuliert in der FAZ dem russischen Filmregisseur Alexander Sokurow zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Ferit Karahans auf der Berlinale gezeigter Film "Brother's Keeper" (taz), Max Barbakows Liebeskomödie "Palm Springs" (ZeitOnline), die Serie "Blindspotting" (FAZ) und der Disneyfilm "Cruella" mit Emma Stone (Freitag).
Archiv: Film

Musik

Auf seinem neuen Album "Afrique Victime" wird Mdou Moctar seinem Ruf als Gitarrenvirtuose wieder sehr gerecht, freut sich Peter Kemper in der FAZ: "Moctar singt in einer Sprache, die gerade mal von einer halben Million Menschen gesprochen wird. Und dennoch besitzt sein Blues eine universelle Verständlichkeit." So klagt er "die Ausbeutung seines geliebten Heimatkontinents durch multinationale Bergbaukonzerne ebenso an wie den fundamentalistischen Terror von Milizen. ... Der oft metallisch wirkende Sound der E-Gitarre ist bohrend und hypnotisch zugleich. Mit silbrig schimmernder Flattertechnik produziert Moctar endlose Notenschwärme, die sich vom Griffbrett erheben. Der Zeigefinger seiner linken Hand attackiert - fast unsichtbar - rasend schnell die Saiten, während die rechte unaufhörlich Hammer-on-Ketten knüpft. Der Tuareg-Troubadour beherrscht die Tapping-Technik eines Eddie Van Halen ebenso, wie er die rhythmische Wucht von Prince besitzt."



Besprochen werden die Neuauflage der Alben von My Bloody Valentine (Rolling Stone), eine 74 CDs umfassende Edition mit Aufnahmen des Geigers Arthur Grumiaux (FAZ), die Neuauflage von Rod Stewarts amerikanischen Alben (Welt), Andris Nelsons beim Würzburger Mozartfest gegebene Interpretation von Bruckners sechster Symphonie mit den Bamberger Symphonikern (FAZ) und das neue Garbage-Album, das SZ-Kritiker Joachim Hentschel eher ratlos zurücklässt: "Es ist, als hätte die Band versucht, in ihrem bewährten Psycho-Cyber-Rocksound die Plattform Twitter zu vertonen."
Archiv: Musik