Efeu - Die Kulturrundschau

Schießerei ohne Pistolen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2021. Die FAZ erlebt mit Jane Campions Western "The Power of the Dog" ein Massaker der Sinne. Hans Pleschinski attestiert der deutschen Literatur in der Welt einen Hang zur Griesgrämigkeit. Der Guardian liegt der freundlichen Rhinozeros-Dame Miss Clara zu Füßen. Die SZ ergründet im Wallraf-Richartz-Museum die Maltechniken der Moderne. Standard und Welt gehen mit Adele in Trennungstherapie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2021 finden Sie hier

Film

Kuhjungs unter sich: Jane Campions "The Power of the Dog"

Jane Campions "The Power of the Dog", eine vor eine Westernkulisse verschobene Variante von Elia Kazans und Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht", hat FAZ-Kritiker Dietmar Dath sehr beeindruckt - insbesondere Benedict Cumberbatch, der als Phil Burbank vor der Liebe ins Schurkendasein flüchtet, ist für Dath ein würdiger Brando-Nachfolger. Doch "der Höhepunkt des Films ist eine Schießerei ohne Pistolen: Rose versucht per Vierfingersystem den Radetzkymarsch auf einem Klavier zu üben, das ihr der Gatte ins Haus gewuchtet hat, damit sie bei einer geplanten Soirée einen lokalen Würdenträger beeindruckt, und während ihre Spielversuche immer blöder und kläglicher werden, feuert Phil, der sie heimlich belauert hat, plötzlich eine atemberaubende Banjofantasie über das vorgegebene musikalische Melodiestückchen ab - ein Massaker der Sinne."

Weitere Artikel: Andreas Busche gibt im Tagesspiegel eine Zwischenbilanz zum noch bis zum Samstag (auch online) laufenden Internationalen Filmfestival Mannheim. Im Standard empfiehlt Frank Arnold eine dem Schauspieler Adolf Wohlbrück gewidmete Retrospektive im Filmarchiv Austria.

Besprochen werden das Netflix-Musical "Tick, tick ... Boom!" von "Hamilton"-Schaffer Lin-Manuel Miranda (SZ) und das Roadmovie "Mein Sohn" mit Anke Engelke (SZ).
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Kunst

Freundlich, aber kampfbereit: Miss Clara nach Jean-Baptiste Oudry. Foto: British Museum

Absolut hingerissen ist Laura Cummings von der kleinen Ausstellung "Miss Clara and the Celebrity Beast in Art, 1500-1860" in Birmingham. Das Barber Institute of Fine Arts zeigt darin Zeichnungen, Stiche und Drucke von berühmten Elefanten, Flusspferden oder Schimpansen, im Mittelpunkt steht das Nashorn Miss Clara, mit dem der niederländische Kapitan Douwe Mout van der Meer von 1741 an durch Europa tourte: "In einem Stich einen liegt sie auf der Seite und scheint gleich einzuschlafen - in einer Vignette ihres Kopfes auf demselben Blatt scheint sie zu gähnen -, während sie auf einem späteren Stich desselben Künstlers als altes Weib dargestellt ist, mit rheumatischen Augen und schrumpeliger Haut; alles, was ihr noch fehlt, ist eine Nachthaube. Beide Bilder stehen in gewissem Kontrast zur 'Studie zum holländischen Rhinoceros' von Jean-Baptiste Oudry, auf dem das Tier trotz aufgestellter Ohren und freundlichem Gesicht kampfbereit aussieht, mit einem Brustpanzer aus Haut um den Leib geschlungen; und noch mehr zu Pietro Longhis Ölgemälde 'Die Schaustellung eines Rhinoceros in Venedig', auf dem das Tier fast samtig aussieht, die Zobelfalten seines Fells locker und üppig."

Berthe Morisot: Der Hafen von Nizza, 1881/82, Bild: Wallraf-Richartz-Museum

Geballtes Fachwissen schlägt SZ-Kritiker Alexander Menden aus dem Wallraf-Richartz-Museum entgegen, das mit der Ausstellung "Entdeckt" die Maltechniken der Moderne erklärt: Welches Holz wurde benutzt oder warum Ölfarben? "Die Grundierung kann dem Künstler einiges an Arbeit ersparen. Ein schönes Beispiel ist 'Der Hafen von Nizza' von Berthe Morisot. Die französische Impressionistin, das lässt sich mit einer sogenannten Durchlichtaufnahme nachweisen, nutzte die cremefarbene Vorgrundierung der Leinwand, indem sie einfach Stellen freiließ. Viele der helleren Flecken und Lichtreflexionen in der Hafenansicht sind also Aussparungen. Das beschleunigte den Malvorgang, Morisot erstellte das Bild höchstwahrscheinlich mit sparsamen Vorzeichnungen in einer Sitzung."

Besprochen werden die Ausstellung zum "Modell Tier" in der Fotografie im neuen Kunsthaus Göttingen (taz), eine Schau des amerikanischen Künstlers Gordon Matta-Clark im Museum der Moderne Salzburg (Standard), die Schau "Wieder zurück in Gotha!" über die verlorenen Meisterwerke im Herzoglichen Museum Gotha (FAZ) und die Ausstellung "Mercury Rising - Inter* Hermstory[ies] Now and Then" im Schwulen Museum* (Tsp).
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Bühne

taz-Kritiker Niklaus Hablützel würde heute für Patrice Chereaus "Ring", der Wagners Nibelungen eine antikapitalistische Botschaft einschrieb, kein Geld ausgeben, aber Stefan Herheims Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin hat ihn überzeugt, weil sie Wagner als das zeigt, was er war: "Der radikalste Vordenker der politischen Reaktion gegen die aufkommende Moderne seiner Zeit. Herheim hat ihn beim Wort genommen. Er ist ein Skandal. Die Bühnenscheinwerfer fahren herunter, leuchten glühend rot, werden blass und verlöschen. Eine Putzfrau kehrt den Abfall zusammen. Die Deutsche Oper Berlin hat ihn wieder, ihren 'Ring des Nibelungen', der Maßstäbe setzt, in diesem Fall, weil er hoffentlich ein Skandal bleibt. Herheim hat ihn so rücksichtslos genau gelesen und auf die Bühne gestellt, dass man ihn versteht."

Weiteres: In der NZZ wünscht Christian Wildhagen der Findungskommission, die die Nachfolge von Intendant Andreas Homoki regeln soll, auch ein paar grunsätzliche Fragen zur Zukunft der Zürcher Oper.

Besprochen werden Roger Vontobels Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" in Bern (SZ), Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Thomas Köcks Stück "Eure Paläste sind leer" an den Münchner Kammerspielen (taz), Luise Kautz' Inszenierung von Wagners "Tristan und Isolde" am Nationaltheater Mannheim (FR), Simon Stephens' Stück "Am Ende Licht" in Stuttgart (FAZ), eine Ausstellung zur Theaterfotografin Ruth Walz im Berliner Museum für Fotografie (SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Die Welt dokumentiert Hans Pleschinskis Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Konrad-Adenauer-Preis, in der der Schriftsteller der deutschen Literatur einen Hang zur Griesgrämigkeit trotz Privilegiertheit attestiert: "Durchaus voller Entdeckerfreude und für eine bessere, reichere Identität spähte ich nach Zeiten und Vorfahren, durch die man sich glücklicher fühlen konnte."

Außerdem: In der NZZ fasst Volker Pabst die Hintergründe zum erneuten Prozess, der Orhan Pamuk in der Türkei gemacht werden soll, zusammen (unser Resümee). Klaus Simon begibt sich für die FAZ auf die Spuren Flauberts in der Normandie. Stefan Trinks schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Schriftstellerin Etel Adnan (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem eine Neuausgabe von Volter Kilpis "Im Saal von Alastalo" aus dem Jahr 1933 (NZZ), neue Bücher von Édouard Louis (online nachgereicht von der FAZ), Jaroslav Rudiš' "Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen" (online nachgereicht von der Zeit), Georg Kleins "Bruder aller Bilder" (Tagesspiegel), Colin Niels Krimi "Nur die Tiere" (SZ), weitere neue Krimis von Martin Becker und Benito Wogatzki (Freitag) und Bae Suahs "Weiße Nacht" (FAZ).
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Musik

Am Freitag erscheint nach langer Pause das neue Album von Adele, "30" heißt es und setzt die Reihe von Altersmarkierungen in Adeles Albenzyklus fort, obwohl die Musikerin selbst schon 33 ist. Verarbeitet hat sie darauf ihre Scheidung, wie man bereits überall lesen konnte. Standard-Kritiker Christian Schachinger hört "die wohl größte öffentliche Therapiesitzung in der Geschichte des an beschädigten Seelen nicht gerade armen Pop", die allerdings ein handfestes Ziel verfolgt: "Das von der halben Menschheit bejubelte Gesülze von Ed Sheeran und das Comeback von Abba müssen in ihre Grenzen gewiesen werden. Das soll mittels zeitgenössischen Überwältigungssouls und Befreiungsgospels fürs Kuchlradio geschehen." Bei Schachinger zünden die Songs nicht, denn "leider fehlen große wellenbrechende Refrains wie früher" und "dazu kommt auch noch Autotune! Auf dieser Stimme! Die Texte der Lieder sind doch schon hart genug." Welt-Rezensent Michael Pilz verortet das Album vor dem mittlerweile auch schon ziemlich retro wirkenden Retrotrend der letzten fünfzehn Jahre und bleibt recht indifferent: "Manche nennen es Melancholie. Aber es ist nicht einmal Nostalgie." Das erste Video zum Album hat der Autorenfilmer Xavier Dolan inszeniert:



Hin und weg ist FAZ-Kritiker Clemens Haustein von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern, die, unterstützt vom Berliner Rundfunkchor und russischen Solisten wie Olga Peretyatko und Dmitry Ulyanov, in Berlin Tschaikowskys "Mazeppa" konzertant aufgeführt haben. Tschaikowskys zwischen kantig und lieblich changierender Musik lotet Petrenko genau aus, schwärmt Haustein: "Klanglich massive Szenen wie die 'Nacht der Qualen" oder die tonmalerische Schlachtendarstellung zu Beginn des dritten Aktes klingen bei Petrenko dramatisch und doch nie reißerisch, die zahlreichen intimen Szenen, in die Tschaikowsky oft Volksliedmelodien einfließen lässt, atmen dagegen innere Ruhe und sind oft von weltferner Schönheit. ... Dass Petrenko entschieden eine Lücke füllt, die sein Vorgänger Simon Rattle hinterließ, der mit Tschaikowskys Musik wenig anfangen kann, stößt beim Orchester erkennbar auf Gegenliebe."

Außerdem: Konstantin Parnian besucht für die NMZ die 2. Mühlenbecker Klanglandschaften. Fürs ZeitMagazin backt Jakob Pontius auf Instagram mit Billie Eilish. In seiner Standard-Kolumne erinnert sich Ronald Pohl daran, wie er einst die Mutter seines Jugendfreundes anschmachtete, die sich beim Hören von Plácido-Domingo-Platten auf dem Lehnstuhl räkelte.

Besprochen werden das erste Björk-Konzert seit langem (ZeitOnline), Makthaverskans Album "För Allting" (Pitchfork), neue Popveröffentlichungen, darunter Postumes von Lee "Scratch" Perry (Standard) und Silk Sonic (SZ), und das neue Album von Joan As Police Woman (NZZ). Die satten Farben dieses bunten Musikvideos kann man an diesem grauen Herbstmorgen gut gebrauchen:

Archiv: Musik