Efeu - Die Kulturrundschau

Inklusive Moog-Synthesizer

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13.12.2021. Jasmila Žbanić gewinnt den Europäischen Filmpreis mit ihrem Srebrenica-Drama "Quo Vadis, Aida?" Der Tagesspiegel gratuliert, hätte aber auch gern die Vielfalt des gerade sehr starken europäischen Kinos gewürdigt gesehen. Leos Carax zum Beispiel, der auf ZeitOnline über sein Musical "Anette" spricht. In Meiningen gab Markus Lüpertz sein Opernregiedebüt mit Puccinis "La Bohème", FR und SZ erleben Oper wie gemalt. In der taz schreibt Diedrich Diederichsen zum Tode des Monkees-Musikers Michael Nesmith.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.12.2021 finden Sie hier

Film

Szene aus "Quo Vadis, Aida?"


Beim Europäischen Filmpreis hat Jasmila Žbanićs Srebrenica-Drama "Quo Vadis, Aida?" (unsere Kritik) in allen Hauptkategorien abgeräumt. Für den europäischen Film neigt sich zwar ein ziemlich starkes Jahr dem Ende zu, lautet Andreas Busches Fazit im Tagesspiegel, "als repräsentativ für das europäische Kino 2021 möchte man die Verleihung dennoch nicht verstehen. Nicht nur die Tatsache, dass ein singulärer Film wie 'Titane' leer ausgeht, irritiert. Auch der Blick auf die Longlist zeigt, dass das Kinojahr formal viel Aufregendes abseits der ausgetretenen erzählerischen Pfade zu bieten hat. Die Akademiemitglieder aber wussten Filme wie Nadav Lapids 'Ahed's Knee', 'Annette' von Leos Carax oder 'Petrov's Flu' von Kirill Serebrennikow nicht zu würdigen." Jenni Zylka von der taz nimmt die Preisverleihung zum Anlass, sich auf die Suche nach "Europas Vielfalt" zu begeben.

Marion Cotillard in "Anette"

Aus seinem Projekt, einen Film über Frauenstimmen zu machen, wurde zwar nichts, doch immerhin eine Spur davon findet sich in seinem Musical "Annette", sagt der französische Filmemacher Leos Carax im ZeitOnline-Gespräch: Gleich zu Beginn hört man nämlich die älteste Aufzeichnung einer Stimme, die 1860 das Schlaflied "Au Clair de La Lune". "Mich hat fasziniert, dass Édouard-Léon Scott de Martinville, der die Stimme aufgenommen hat, sie nie hören konnte: Er hat den Phonautographen erfunden, mit dem man Töne aufzeichnen, aber nicht wiedergeben konnte. Das ist doch sehr bewegend. In meinem vorigen Film habe ich die allerersten Filmbilder verwendet, von Étienne-Jules Marey. Er hat die Technik der Chronofotografie erfunden. Aber im Gegensatz zu Martinville konnte Marey sehen, was er erschaffen hat. Die Aufnahme der allerersten Stimme konnte hingegen erst jetzt hörbar gemacht werden", auch wenn "wir nicht wissen, mit welcher Geschwindigkeit wir die Aufnahme, das Phonautogramm, abzuspielen haben. Und wir wissen nicht, ob die Frau das Lied tatsächlich für ein Kind gesungen hat." In Cannes sorgte "Annette" für viel Aufsehen - unsere Resümees finden Sie hier und dort.

Weitere Artikel: In der SZ ist Nicolas Freund besorgt, dass für die Streamingdienste nur der Erfolg relevant ist und nicht die Kunst. Im Interview mit der NZZ spricht Oliver Polak über seinen neuen Film "Eldorado KaDeWe", und den Film, den er über seine Tante in New York, eine Holocaustüberlebende, drehen will. Die taz-Kritikerinnen und -Kritiker geben ihre Jahresbestenlisten bekannt.

Besprochen werden Pedro Almodóvars "Madres paralelas" (NZZ), das Reboot von "Sex and the City" (taz, NZZ) und das Sisi-Remake von RTL+ (ZeitOnline).
Archiv: Film

Kunst

Mit Blick auf umstrittetene Kunstmäzene wie den Waffenhändler Emil Bührle, Pharma-Familie Sackler oder Industriellensohn Friedrich Christian Flick konstatiert Philipp Meier in der NZZ, dass sich die Öffentlichkeit nicht mehr an der Reinwaschung unehrenhafter Vermögen beteiligen möchte: "Der sprichwörtliche geschenkte Gaul wird nicht mehr ungeprüft akzeptiert." Denn es gehe ja auch anders, wie Meier weiß: "Ernst Beyeler machte sein Vermögen mit Kunst selber."

Besprochen werden die Ausstellung "John Cage Museumcircle" im Zollamt des Frankfurter Museums für Moderne (FR) und die Schau "Church for Sale" mit Kunst aus der Sammlung Haubrok im Hamburger Bahnhof (Tsp).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Cage, John, Hamburger Bahnhof

Bühne

Foto: Jochen Quast / Oper Meiningen

Großer Auftrieb am Staatstheater Meiningen: Der achtzigjährige Maler Markus Lüpertz gibt dort mit Puccinis "La Bohème" sein Debüt als Opernregisseur. "Oper wie gemalt", sah FAZ-Kritiker Achim Heidenreich: "Eine sehr kurzweilige Art Lange Museumsnacht!" In der SZ konnte Egbert Tholl vor lauter Bildern die Oper nicht sehen, aber einen Moment der Größe bekam er doch: "Mimì. Zwar schaut Deniz Yetim in ihrem Kostüm ein bisschen aus wie ein Funkenmariechen. Aber in ihr erfüllt sich die Regieidee von Markus Lüpertz. Denn auch wenn sie sich streng an die Vorgaben hält, sie kann mit diesen spielen. Das Bild lebt! Sie verleiht ihrer Figur die höchste Not und eine immer größer werdende Inbrunst. Sie stirbt im Stehen, einfach so, für sich, und das kann einem in seiner Befreiung von aller falscher Theatralität, von aller Künstlichkeit schon umhauen." In der FR erklärt Judith von Sternburg trocken: "Ein gemalter Fisch macht nicht satt."

Christine Dössel schreibt in der SZ zum Tod des Theaterkritikers und Frankfurter Intendanten Günther Rühle. In der Welt erinnert Jan Küveler an die bitterste Episode aus Rühles Intendantenzeit, die Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" 1985: "Die jüdische Gemeinde der Stadt, allen voran Ignaz Bubis, sahen sich antisemitisch verunglimpft, durch eine Nebenfigur der Handlung, einen als widerwärtig gezeichneten Immobilienspekulanten. Die Premiere am 1. Oktober 1985 wurde durch eine Besetzung - die wie eine ironische Wiederholung der besetzten Häuser des Frankfurter Westends wirkte - verhindert. Rühle setzte daraufhin eine Voraufführung für 150 Kritiker an, die der Verlag als Uraufführung wertete. Der Streit konnte nicht geschlichtet werden, die Proteste dauerten an, das Stück wurde nicht mehr gespielt, angeblich, weil die Sicherheit des Publikums nicht zu gewährleisten war. Was bleibt davon heute? Nicht zuletzt ein Staunen, dass es damals 150 deutsche Theaterkritiker gab - und man sie alle an einem Abend in Frankfurt versammeln konnte. Tempi passati."

Weiteres: In der taz bedankt sich Katharina Granzin bei Barrie Kosky für die Wieberbelebung der Berliner Operettentradition, die jetzt auch dem ungarisch-jüdischen Komponisten Paul Abraham gilt: "Zu Beginn der dreißiger Jahre war er ein umschwärmter, unfassbar produktiver und kreativer Komponist gewesen, der in Tantiemen geradezu schwamm."

Besprochen werden "Berlin Kleistpark", der zweite Teil von Hakan Savas Micans Berliner Stadt-Triologie am Gorki-Theater ("Sesede Terziyan kann toll singen", möchte Nachtkritikerin Stephanie Drees unbedingt festhalten, Tsp), Tschechows "Möwe" als Desktop-Theater vom Kollektiv punktlive (Nachtkritik), Laura Linnenbaums Doppelpremiere mit Max Porters "Trauer ist das Ding mit Federn" und Marlen Haushofers "Die Wand" am Düsseldorfer Schauspielhaus (Nachtkritik) und der "Nussknacker" im Stream mit dem Londoner Royal Ballet (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Philipp Haibach (Freitag), Wolf Lepenies (Welt) und Jens Jessen (Zeit) schreiben über Gustave Flaubert, dessen Geburtstag sich am Wochenende zum 200sten mal jährte (mehr dazu hier). Für den Standard spricht Ronald Pohl mit der Flaubert-Übersetzerin Elisabeth Edl. Michael Krüger schreibt in der SZ zum Tod des Verlegers Andreas Landshoff.

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Das verlorene Paradies" (taz), zwei jetzt auf Deutsch vorliegende Bücher des 1992 gestorbenen Schriftstellers Hervé Guibert (Jungle World), Peter Stamms "Das Archiv der Gefühle" (Standard) und Louise Pennys und Hillary Clintons Politthriller "State of Terror" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über Ben Jonsons "Sein Selbstbildnis":

"Nicht blind, nein taub ist Liebe offenbar:
Wie wärs sonst möglich, wie,
daß sie..."
Archiv: Literatur

Musik

Michael Nesmith von den Monkees ist tot. Waren die Monkees noch gestartet als Versuch der amerikanischen Musikbranche, dem Erfolg der Beatles etwas entgegen zu setzen, emanzipierte Nesmith sich rasch künstlerisch, schreibt Karl Bruckmaier in der FAZ: "Der erdrutschartige Erfolg der Monkees gestattete es Nesmith, das althergebrachte System in Frage zu stellen, in dem Songwriter die Lieder lieferten, Studiomusiker diese einspielten und vier glattrasierte Trottel dazu vor der Kamera mimen sollten. ... Nesmith setzte sich durch: Die Monkees wurden zu einer fast authentisch zu nennenden Beat-Combo, die drogeninspirierte und vor keinem Experiment zurückschreckende Musik aufnahm, inklusive Moog-Synthesizer und anzüglicher Textstellen." Was dem Erfolgskurs zwar Schrammen verpasste, aber am Ende war Nesmith sogar an der Gründung von MTV beteiligt, erfahren wir.

Auch Detlef Diederichsen lässt in der taz das Leben des Tausendsassas Nesmith Revue passieren, der offenbar wirklich überall im Business mitmischte und womöglich sogar Mark Zuckerbergs "Metaverse" inspiriert hat. Vielleicht war er auch deshalb überall zugange, weil "seine leicht psychedelisch-verschwommenen Country-Rock-Alben der frühen 1970er zunächst weitgehend ignoriert wurden. Dabei eröffneten sie in ihrer Experimentierfreude dem Genre weite, neue Territorien: Auf Alben wie 'Magnetic South' und 'Loose Salute' trafen die sehnsüchtig-melancholischen Songs Nesmith' auf Funky Drummer, eine durch die Fuzzbox gejagte Pedal-Steel-Gitarre und allerlei Latin-Anleihen."



Die NZZ hat Wolfgang Stährs Würdigung von Camille Saint-Saëns, der vor 100 Jahren gestorben ist, online nachgereicht - Saint-Saëns, dessen Musik heute zum größten Teil eher in Archiven liegt, statt aufgeführt zu werden, war "am Ende moderner als so mancher Avantgardist. Ein Vorfahre, ja, aber ein Vorfahre der Zukunft." Dlf Kultur widmet ihm ein Musikfeuilleton von Bettina Brand, Anja-Rosa Thöming hört sich für die FAZ durch einige Neuveröffentlichungen und legt uns insbesondere diese ans Herz:



Weiteres: In einer Notiz für die Zeit muss sich Christine Lemke-Matwey sehr darüber wundern, dass der rechtsradikale französische Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour in einem Videospot sich musikalisch ausgerechnet von Beethovens Siebter ummanteln lässt, wo die doch seinerzeit immerhin im Kontext eines Siegs über Napoleon uraufgeführt wurde. Für die SZ plaudert Joachim Hentschel mit Doors-Drummer John Densmore. Verdutzt nimmt Michael Pilz in der Welt zur Kenntnis, dass Achim Reichels "Aloha Heja He" aus den 90ern in China wohl wegen TikTok an der Spitze der Shazam-Charts steht.

Besprochen werden ein Schostakowitsch-Abend mit Igor Levit (FR, mehr dazu bereits hier), das neue Album von Joan as a Police Woman (FR), ein Coveralbum von Zucchero (Freitag), ein neues Album von Neil Young (Standard) und das zweite gemeinsame Album von Alison Krauss und Robert Plant (FAZ).
Archiv: Musik