Efeu - Die Kulturrundschau

Gleichheit an den Füßen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2021. Die SZ erliegt der reinen Kinomagie mit dem Cannes-Eröffnungsfilm "Annette" von Leos Carax. Der Guardian feiert die prickelnde Nostalgie in den Bildwelten der Paula Rego. Die NZZ lernt von der Accademia di Architetture in Mendrisio, dass Zukunft den Mut zum Widerstand erfordert. Einen Triumph der Frauen erlebt die SZ beim Festival von Aix mit Kaija Saariahos Oper "Innocence" über einen Amoklauf in der Schule. Und Zeitonline ist gebannt vom Schlagzeug auf Laura Mvulas Comeback-Album "Pink Noise".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.07.2021 finden Sie hier

Kunst

Paula Rego: Der Tanz, 1988. Bild: Tate Modern

Sensationell findet Jonathan Jones im Guardian die große Retrospektive zu Paula Rego in der Tate Modern, auch wenn ihm die penetranten Wandfarben der Tate in den Augen brennen. Die Kunst der in Portugal geborenen Rego sei einerseits tief geprägt von der iberischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts, von Diktatur und Katholizismus, schreibt Jones, andererseits vom britischen "Fleisch-und-Kartoffel-Realismus", wie er an ihrem Bild "Der Tanz" von 1988 beschreibt: "In diesem Gemälde geht es um die Vergangenheit, um Nostalgie, die Erinnerung neu formt, auch wenn sie sie bewahrt: Tänzer sind an einem Strand im Mondlicht zusammengekommen, in altmodischer Kleidung, unter einem Schloss, das der Szene einen unheimlichen Ton hinzufügt, als ob ihr Moment des ruhigen Glücks eine Gnadenfrist ist, bevor etwas Brutales geschieht. 'Der Tanz' gehört zu einer Gruppe von kühnen Meisterwerken der achtziger Jahre, denen diese prickelnde Nostalgie gemein ist. Sie sind außerhalb der Zeit angesiedelt, an einem Ort, an dem ein extremer Konservatismus, ja sogar Faschismus, seltsame Korruptionen und Perversionen hervorbringt."

Weiteres: Michele Fossi porträtiert in der Berliner Zeitung den in Berlin lebenden israelischen Künstler Navot Miller, der seine orthodox-jüdische mit einer säkular-schwulen Identität verbindet.

Besprochen werden Camille Henrots Ausstellung "Mother Tongue" in der Kestner Gesellschaft in Hannover, deren Bilder ihre Geburt nicht als süßes Glücksereignis zeigen, sondern als eines von Schmerz, Angst und Überlebenskampf (SZ) und die Schau "Zwischen System und Intuition" zu Konkreten Künstlerinnen im Kunstmuseum Stuttgart (FAZ).
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Film

Wieder Staunen und Rätseln im Kino: "Annette" von Leos Carax

Mit "Annette" von Leos Carax hat das Filmfestival in Cannes gestern den Betrieb aufgenommen. Mit Marion Cotillard und Adam Driver ist das Musical prominent besetzt und in SZ-Kritiker Tobias Kniebe hat es einen ersten Fan: "Richtig bizarr wird es, als die beiden ein Mädchen namens Annette bekommen, es herzen und küssen und über alles lieben, obwohl Annette eine Holzpuppe ist. Sie hat rote Haare, abstehende Ohren und ein technisches Innenleben, dass ihr ruckartige Bewegung erlaubt. ... Ein Gruselbaby par excellence, aus dessen Holzmund dann auch noch engelsgleicher Gesang ertönt." Da streckt der Kritiker die Waffen und verabschiedet sich vom Konzept der Logik: "Die meisten Fragen bleiben unbeantwortet. Aber irgendwie ist das auch wieder schön, und vor allem ist es typisch für Cannes. Gleich mit dem ersten Film wird man als Zuschauer aus der Bahn geworfen, hinauskatapultiert aus allen gängigen Kategorien und Wertungen, und ist dann wieder bereit für ein Staunen und Gruseln und Rätseln, das im dunklen Kinosaal am allerbesten funktioniert."

Weitere Artikel: Rose McGowan spricht im Guardian über ihren neuen Podcast "The Brave Truth". Der Guardian spricht mit Quentin Dupieux, dem Meister des Absurden im europäischen Gegenwartskino. Im Standard gratuliert Karl Fluch Sylvester Stallone zum 75. Geburtstag. Die Kinos freuen sich über den Umständen entsprechend hohe Besucherzahlen, meldet David Steinitz in der SZ. Nachrufe auf den Regisseur Richard Donner schreiben Christiane Peitz (Tagesspiegel) und Edo Reents (FAZ).

Und was macht eigentlich Oliver Stone? Der befindet sich in diesem Moment in Kasachstan, wo die von ihm mitproduzierte, achtstündige Lobeshymne auf den seit dreißig Jahren das Land beherrschende Autokraten Nursultan Nazarbayev Premiere feiert.


Besprochen werden "Das Mädchen und die Spinne" von den Zürcher-Brüdern (Filmdienst, Kinozeit, critic.de, Filmbulletin, SZ), François Ozons "Sommer 85" (SZ), Ziska Riemanns in der ARD-Mediathek gezeigter Debütfilm "Electric Girl" (FR), die von der New York Times produzierte Doku "Day of Rage" über den Sturm aufs Kapitol (Spiegel) und der neue Marvelfilm "Black Widow" mit Scarlett Johansson (taz, SZ).
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Bühne

Kaija Saariahos "Innocence". Foto: Jean-Louis Fernandez / Festival d'Aix-en-Provence

Den "Triumph der Frauen in der Klassik" erlebte SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck beim Festival in Aix-en-Provence, wo Simon Stone die sehr heutige Oper "Innocence" der finnischen Komponistin Kaija Saariaho uraufführte, die darin seiner ergriffenen Darstellung zufolge ein düsteres Themas "leicht, genial und klangsinnlich" verarbeitet: "Das Thema: ein Amoklauf in einer Schule, zehn Schüler und eine Lehrerin sind tot. Saariaho und die grandiose Librettistin Sofi Oksanen sind viel zu intelligent, um den Plot chronologisch zu erzählen. Sie zeigen eine Hochzeit, bei der nach und nach das zurückliegende Drama enthüllt wird: Der Bräutigam ist der Bruder des Attentäters, die Braut ist ahnungslos, die Kellnerin die Mutter einer der toten Schülerinnen. Die Toten singen hier genauso wie die Lebenden, in kurzen und schnell wechselnden Szenen kriegt jede und jeder ein Solo, der Chor grundiert aus dem Off, die Spannung steigt. Saariaho meidet alles Pathos, jede Gewalttätigkeit und alle Schockeffekte. Ihre Musik ist leicht und trauerverhangen, es sind Traumklangfetzen aus dem Reich des Todes."

Besprochen werden Tschechows "Kirschgarten" mit Isabelle Huppert zum Auftakt des Theaterfestivals in Avignon (FAZ), Kleists "Michael Kohlhaas" an der Bliner Schaubühne in der "Schulfunkvariante" von Simon McBurney und Annabel Arden (SZ), "Alexis Sorbas" als Zwei-Personen-Stück vom Comoedia-Muni-Ensemble in Frankfurt (FR).
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Architektur

In der NZZ feiert Gabriele Detterer die vor 25 Jahren gegründete Accademia di Architettura in Mendrisio, die auf ein humanistisches Profil und einen "mediterranen Kulturbegriff" setze und ab nächstem Jahr vonm Südtiroler Architekten Walter Angonese geleitet werde: "Laut Angonese wird die Zukunft der Architektur weiterhin von Komplexität und Herausforderungen bestimmt sein. Zukunft zu projizieren, verlange deshalb Mut zum Widerstand. Zeichnet sich hier ein neu akzentuiertes Berufsbild von Architekten als Widerstandskämpfern ab? Angonese bezieht sich konkret auf den von ihm erlebten Kampf um eine öffentliche Bibliothek im Südtiroler Weindorf Kaltern, an deren Bau die Einwohnerschaft nicht geglaubt hat. In Mendrisio freilich hat die Akademie-Bibliothek einen sehr hohen Stellenwert. Sie enthält eine der reichsten Schweizer Sammlungen zur Architekturgeschichte. Im Jubiläumsjahr zog die Bibliothek permanent in den Palazzo Turconi und zeigt dort ihre Schätze, was meint: Quellen phantastischer Widerstandskraft der Architektur."
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Design

Marion Löhndorf hat für die NZZ die Sneakers-Ausstellung des Design Museum London besucht und dort unter anderem erfahren, "dass in der Hip-Hop-Szene die Schuhe weißer als weiß und 'boxfresh' sein müssen, während die Skater ihre Treter gern so abgenutzt wie möglich haben. Oder welche Vielfalt es beim Binden und der Pflege der Schnürsenkel gibt. ... Die Ausstellung fragt aber nicht, wer außerhalb bestimmter urbaner Stämme und ultracooler Kids diese Schuhe sonst noch trägt." Dabei "boomt das Geschäft auch, weil die Sneakers, die ein schnelles Fortkommen versprechen, inzwischen fast von allen Gesellschaftsklassen und Altersstufen getragen werden. Man gibt sich bescheiden, fühlt sich jung, dynamisch und zeigt sich quasi solidarisch: Männer und Frauen, Ghettokinder und Konzernvorstände reihen sich ein und tragen das Ideal einer Gleichheit an den Füßen - oder wenigstens den Anschein."
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Stichwörter: Mode, Sneakers, Sneaker, Ska, Skater

Literatur

In der Dante-Reihe der FAZ durchleuchtet Karen Krüger die "Commedia" nach Spuren des Kulinarischen.

Besprochen werden unter anderem Gisela Steineckerts "Langsame Entfernung" (taz), Arnon Grünbergs "Besetzte Gebiete" (Tagesspiegel), Joe Kessler Avantgarde-Comic "Prisma" (Tagesspiegel), Alison Sampsons und Rio Youers' Comic "Sleeping Beauties" (FR), das Comicdebüt "Die Vögel - fliegen hoch!" des Tocotronic-Schlagzeugers Arne Zank (Jungle World), Fatima Daas' "Die jüngste Tochter" (SZ) und Francis Neniks "E. oder Die Insel" (FAZ).
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Musik

Dann und wann reicht schon ein einziger Ton und mit einem Mal ist alles anders, denkt sich ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt beim Comeback-Album "Pink Noise" von Laura Mvula. In dessen ersten Stück "Safe Passage" sticht für Gerhardt der Klang des Schlagzeuges heraus, "der diesen Effekt erzielen soll. Künstlich und verhallt klingt er, wie das Gegenteil von allem, was man mit echten Tierfellen und ehrlichem Schlagzeugerschweiß verbinden könnte. Das Tor, das dieser Sound aufstößt, führt zurück in die Achtzigerjahre, zu Janet Jacksons damals futuristischem Computer-R-'n'-B und den Disco-Erkältungen von Grace Jones, aber auch zu New Romantics wie Spandau Ballet und natürlich zu Prince. Eine weitgreifende künstlerische Neuerfindung steht hinter diesem Stil." Wir hören rein:



Außerdem: Der Gegenwartspop sehnt sich wieder nach den Sternen, fällt Issy Sampson im Guardian auf. Bei den großen Sommerfestivals werden auch nach der Pandemie in erster Linie Männer auf der Bühne stehen, fürchtet Konstantin Nowotny im Freitag. Jan Paersch berichtet in der taz von der Monheim Triennale. Oliver Meiler schreibt in der SZ einen Nachruf auf die italienische Sängerin Raffaella Carrà.

Besprochen werden Chilly Gonzales' Auftritt beim Rheingau Festival (FR), Georgia Anne Muldrows Album "VWETO III" (FR), Barbara Hannigans Auftritt bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Mieke Miamis "Montecarlo Magic", das laut SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert "eindeutig erst in zweiter Instanz für Menschen gedacht" ist. Wir hören rein:

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