Efeu - Die Kulturrundschau

Die sonst so gerechtigkeitssensible Kunstwelt

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14.12.2021. Die taz bewundert in der Tate Modern, wie Lubaina Himid in ihren Bildern Strategien für eine gerechtere Gesellschaft entwirft. Museen brauchen die Handlungskompetenz für die Werke, die sie zeigen, fordert die NZZ, das müsse auch auch für private Sammlungen gelten. Die SZ greift die amerikanische Debatte um W.G. Sebald auf, der nach Carole Angiers Biografie schweren Angriffen ausgesetzt sei. Und ZeitOnline lernt von Jasss, sich wieder euphorisch in der Menschenmenge zu verlieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Lubaina Himid: The Operating Table, 2019. Tate Modern

Die 1954 geborene Lubaina Himid war 2017 die erste schwarze Frau und zugleich die älteste Künstlerin, die je den Turner Prize bekam, erinnert Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz und freut sich über Himids große Londoner Schau in der Tate Modern: "Deutlich ist aber jedem und jeder, dass Himid in ihren Bildern und Installationen die gesellschaftliche Stellung schwarzer Menschen in einer Welt verhandelt, in der sie benachteiligt sind. Sie versucht mit den Protagonisten ihrer Bilder und deren Betrachter*innen gemeinsam dagegen Strategien und Pläne zu entwerfen. In 'The Operating Table' (2019) sieht man drei Frauen an einem Tisch darüber diskutieren, wie eine Stadt geplant werden soll, es geht dabei nicht immer einvernehmlich zu, wie in 'Five' (1991) an den Mienen der Frau und des Mannes zu sehen ist; sie debattieren über Politik, teils sicher verfestigt in ihren Ansichten, aber immerhin bereit, die Meinung der anderen zu hören."

In der anhaltenden Diskussion um die Sammlung Bührle überlagern sich die Konfliktlinien, wie Philipp Meier in der NZZ vor Augen führt. Denn in Frage steht nicht nur Raubkunst, sondern auch Fluchtgut, also Werke, die Verfolgte verkaufen mussten, um sich ihre Flucht aus Deutschland oder Europa zu finanzieren: "Bisher hat sich die Stiftung Bührle zwar vorbildlich um die Raubkunst-Fälle gekümmert, nicht aber um die Fluchtgut-Fälle. Als private Einrichtung ist das ihr gutes Recht. Und dies ist der Punkt: Das Kunsthaus hat heute nicht die Kompetenz inne, zu handeln, da die Sammlung Bührle nicht Teil der hauseigenen Bestände ist, sondern es sich hier um eine Leihgabe handelt. Es muss aber im Interesse des Kunsthauses liegen, Ordnung und Transparenz zu garantieren, was die unter seinem Dach versammelte Kunst betrifft. Das Kunsthaus sollte nun endlich seine Bedingungen formulieren und durchsetzen."

Auch Saudi-Arabien möchte jetzt mit der Diriyah-Biennale im Kunstzirkus mitmischen beziehungsweise sich als kreativer Hub in Szene setzen. In der taz kann Ingo Arend das nur mit Kopfschütteln quittieren: "Verstörend, dass von der sonst so gerechtigkeitssensiblen Kunstwelt bislang kein kritisches Wort kam. Wie rechtfertigen der Bildhauer Wolfgang Laib, der Filmemacher Lawrence Lek und der Installationskünstler Timur Si-Qin, die als Künstler aus Deutschland gelistet sind, ihre Teilnahme?"

Besprochen werden die Wolfgang-Tillmans-Schau "Schall ist flüssig" im Wiener Mumok, die den deutschen Fotografen endlich mal in Österreich präsentiert (wie sich Stephan Hilpold im Standard freut), die Ausstellung "Out of the Box" des amerikanischen Künstlers Gordon Matta-Clark im Salzburger Museum der Moderne (FAZ), eine Schau der britischen Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye im K20 in Düsseldorf (Tsp).
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Literatur

Anlässlich der Veröffentlichung von Carole Angiers Biografie über W.G. Sebald tobt im englischsprachigen Raum nun eine Debatte um den deutschen Schriftsteller: Nicht nur hat er es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau genau genommen, daneben hat er dem Vorbild einer seiner Figuren eine jüdische Biografie angedichtet, die dieser gar nicht hatte. Entsprechend entsetzt sind Max Norman im New Yorker und Ben Lerner in der New York Review of Books. Von notorischer Unzuverlässigkeit und Übergriffigkeit spricht auch Felix Stephan in der SZ, doch Sebalds "Romane und Erzählungen thematisieren diese Unzuverlässigkeit ununterbrochen, sein ganzes Schreiben kreist um diesen Gegenstand. Auch Lerner schreibt, Sebald ernst zu nehmen bedeute, seine Bücher verstörend zu finden. In diesem Sinne ging Carole Angiers Versuch, Sebalds notorische Unzuverlässigkeit als Symptom einer romantischen Sensibilität auszugeben, nach hinten los. Es sollte eigentlich eine finale Kanonisierung werden, stattdessen steht Sebald jetzt relativ lädiert da. So kritisch und so prominent wie in den letzten zwei Wochen ist seine Poetik bislang noch nie unter die Lupe genommen worden."

Weitere Artikel: Konstantin Arnold berichtet im Freitag von seiner Zeit am Lago Maggiore, wo er sich auf die Spuren Ernest Hemingways begab. In Frankreich stößt die Entscheidung der ohnehin schon vergreisten Académie française, nun den ebenfalls nicht mehr völlig jungen Mario Vargas Llosa zu rekrutieren, auf Gegenwind und Spott, berichtet Roman Bucheli in der NZZ.

Besprochen werden unter anderem der neue Lyrikband "Winterrezepte aus dem Kollektiv" der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück (SZ), Helmut Böttigers "Die Jahre der wahren Empfindung" über die Literatur der Siebzigerjahre (taz), der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger (NZZ), Ai Weiweis Memoiren "1000 Jahre Freund und Leid" (Standard), Asmaa al-Atawnas Debütroman "Keine Luft zum Atmen" (Tsp) und Christiane Schlötzers "Istanbul - ein Tag und eine Nacht" (FAZ).
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Bühne

Thomas Perles "Karpatenflecken". Foto: Arno Declair / Deutsches Theater

Einige eindrückliche historische Impressionen erlebt taz-Kritikerin Barbara Behrendt in Thomas Perles autobiografischem Stück "karpatenflecken" am Deutschen Theater, das Lebensgeschichten von Rumäniendeutschen erzählt: "Er ist selbst als Rumäniendeutscher in Oberwischau geboren, in den Waldkarpaten im Norden Rumäniens. Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Gebiet von Österreichern zur Salzgewinnung besiedelt, daher die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe.In den Waldkarpaten ist auch sein Stück angelegt, als Familiengeschichte über drei Frauengenerationen: die Großmutter noch im Königreich Rumänien geboren, die Tochter in der Volks-, die Enkelin in der Sozialistischen Republik. Über sie erfährt man wenig, sie stehen eher als prototypische Vertreterinnen ihrer Generation. Schön aber, dass Thomas Perle in mehreren Sprachen schreibt, die den Inhalt reflektieren: Die Großmutter spricht Wischaudeutsch - es klingt wie eine Mischung aus Österreichisch und Jiddisch. Die Tante, die einen Ungarn geheiratet hat, spricht dagegen Ungarisch. Und die Enkelin hat fürs Publikum beides ins Deutsche zu übersetzen."

Weiteres: In der NZZ porträtiert Julia Spinola den ungarischen Komponisten Peter Eötvös, dessen Oper "Sleepless" gerade in Berlin uraufgeführt wurde, als genuinen Musikdramatiker. Besprochen werden die Performance "Am Leben bleiben" des Jungen Schauspiels Frankfurt (FR), Markus Lüpertz' Puccini-Inszenierung "La Bohème" in Meiningen (Tsp) und das Isherwood-Musical "Cabaret" im Londoner Playhouse Theatre (das Gina Thomas in der FAZ stürmisch bejubelt).
Archiv: Bühne

Film

Die Golden Globes stecken in der Krise, schreibt Tobias Kniebe in der SZ. Besprochen werden Maryam Touzanis "Adam" (FAZ), ein ARD-Dokumentarfilm über den Anschlag am Berliner Breitscheidplatz (FAZ), Peter Jacksons Beatles-Doku "Get Back" (Freitag), Srdan Golubovićs "Vater" (Tagesspiegel), Nora Fingscheidts "The Unforgivable" (taz), das RTL-Remake von "Sisi" (Welt), die Fortsetzung von "Sex and the City" (Welt), der neue Spider-Man-Film (Tsp) und der vom ZDF online gestellte Bismarck-Film "Kaiserspiel" (Welt).
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Musik

Das Stück "A World of Service" der Technoproduzentin Jasss ist das "Lied zur Stunde", schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline: "Es ruht auf den treibenden Rhythmen des Techno. Es ist beseelt von der Euphorie, die einen beim Tanzen in dunklen, überfüllten Räumen ergreift, beim Sich-Verlieren in einer Menge von Menschen, die der Beat zu einem flüchtigen Kollektiv sammelt, einander erregend nah und auch beruhigend fremd. Man spürt die Euphorie in diesem Lied, aber sie ist in ihm zugleich auf eine Ahnung gedimmt, auf den Nachhall einer verlorenen Zeit. ... Irgendwann setzt ein Jubel aus verzerrten Synthie-Sounds ein", doch "sie bleiben im schleppenden Rhythmus der Musik gefangen, so wirkt ihre Verzerrtheit nicht mehr euphorisch, sondern erkrankt. Es ist, als ob man eine Party durch eine Gefängniswand hört oder durch die Wände in einem Spital."



Außerdem: Jonas Engelmann plaudert für die Jungle World mit der Hannoveraner Ur-Punkerin Annette Grotkasten, deren Band Bärchen und die Milchbubis ("Jung kaputt spart Altersheime") jetzt in einer Diskografie archivarisch erschlossen wird.

Besprochen werden Cecilia Bartolis neue CD "Unreleased" (Standard), das neue Album des Deutschrappers Ipp Halver, dem es laut ZeitOnline-Kritiker gelingt, "den Spießer zum Schweben zu bringen", ein Wiener Schostakowitsch-Abend unter Valery Gergiev (Standard) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter ein neues Album der Pianistin Renee Rosnes, laut SZ-Jazzkolumnist Andrian Kreye eine "Triathletin am Klavier", die ihre Mitmusiker "extrem virtuos und mit einem Hochgeschwindigkeitsintellekt" fordere. Wir hören rein:

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