Efeu - Die Kulturrundschau

In dieser internen Personalsache

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13.02.2023. In Hannover sorgt Ballettchef Marco Goecke für einen riesigen Eklat: Er bewirft die Kritikerin Wiebke Hüster vor einer Premiere mit Hundekot. Die FAZ ist außer sich vor Wut, die Staatsoper versichert, ein Ort des respektvollen Miteinanders und Austauschs zu sein. Die taz sucht lieber Humor und Schönheit in der Architektur Aldo Rossis. Der Standard huldigt schreibenden Brüdern, die nicht voneinander loskamen. Die Filmkritik trauert um den spanischen Regisseur Carlos Saura. Die FAS erklärt den unwahrscheinlichen Erfolg des Festivals von Sanremo.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.02.2023 finden Sie hier

Bühne

Rieseneklat in Hannover. Wie die FAZ selbst berichtet, hat Ballettchef Marco Goecke die Tanzkritikerin Wiebke Hüster bei der Premiere des Balletts "Glaube, Liebe, Hoffnung" angegriffen und mit Hundedreck beworfen: "Offenbar provoziert durch ihre Rezension seines Den Haager Ballettabends 'In the Dutch Mountains', drohte er ihr zunächst ein 'Hausverbot' an und warf ihr vor, für Abonnementskündigungen in Hannover verantwortlich zu sein. Immer stärker außer Fassung geratend, wurde Goecke schließlich handgreiflich: Er zog eine Papiertüte mit Tierkot hervor und traktierte das Gesicht unserer Tanzkritikerin mit dem Inhalt. Danach konnte er durch das dicht besuchte Foyer ungehindert seiner Wege gehen." Die FAZ ist außer sich vor Wut: "Die bewusste Herabsetzung und Erniedrigung, die aus der vorbereiteten Exkrementen-Attacke hervorgeht, nehmen wir sehr ernst. Sie zeugt vom fatalen Selbstverständnis einer Persönlichkeit in hoch subventionierter Leitungsfunktion, die meint, über alle kritische Beurteilung erhaben zu sein und ihr gegenüber im Zweifelsfall auch Gewalt anwenden zu dürfen." Erinnerungen werden wach an die berühmte Spiralblock-Affäre, in der ein Schauspieler in Frankfurt dem Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier den Spiralblock entriss und hinterher Oberbürgermeisterin Petra Roth höchstselbst sich entschuldigen musste. Die FAZ erinnert auch daran, dass Karin Beier zuletzt erklärt hatte, Kritik klebe wie "Scheiße am Ärmel" (hier im DlfKultur).

Die Staatsoper Hannover hat sich bereits bei Hüster entschuldigt, versichert in ihrer Pressemitteilung aber auch, "ein offener Ort des respektvollen Miteinanders und Austausches" zu sein. Und: "Wir sind der Meinung, dass nun Ruhe und Sorgfalt geboten sind. Wir werden die arbeitsrechtlichen Schritte gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen, gemeinsam beraten und dann in dieser internen Personalsache agieren."

Hebbels "Nibelungen". Foto: Candy Welz / Nationaltheater Weimar


So einen Theaterabend hat Nachtkritiker Matthias Schmidt lange nicht erlebt wie Hasko Webers Inszenierung von Friedrich Hebbels Trauerspiel der "Nibelungen" am Nationaltheater Weimar. Hochkonzentriert und komplex: "Schritt für Schritt macht er diese Geschichte nachvollziehbar, nichts lenkt von ihr ab. Keine vordergründigen Aktualisierungen, keine Fremdtexte, keine Videoschnipsel, keine Kampf-Choreografien. Perfekte drei Stunden, die den Regisseur kaum spüren lassen, die weder in den eigenen Ideen schwelgen noch plakativ mit einer Botschaft wedeln. In denen das Ensemble souverän arbeitet. Auf den ersten Blick ist alles ganz der Stoff. Auf den zweiten, man muss es nur bemerken wollen, betont Hasko Weber sehr wohl genau die Momente daraus, die ins Heute weisen. Nichts wird ausgesprochen, aber alles gesagt. In einem Raum, der ausgestorben schien: zwischen den Zeilen. Ein Hochgenuss zu erleben, dass er noch lebt und nicht mit dem DDR-Theater untergegangen ist."

Weiteres: Am Schauspiel Leipzig hat es gekracht, nachdem Intendant Enrico Lübbe einer Schauspielerin den Vertrag nicht verlängert hatte, berichtet Christiane Lutz in der SZ. Es gab Belegschaftsversammlungen, Hausverbote und Kündigungen. In einem zweiten Text betont Peter Laudenbach das gute Recht einer Intendanz, nicht mehr mit KünstlerInnen zusammenarbeiten zu wollen, aber auch die Brutalität einer Praxis, die auf Jahresverträge setzt, um Festanstellungen zu verhindern.

Besprochen werden Roger Vontobels Inszenierung von Schillers "Wilhelm Tell" in Düsseldorf (die Nachtkritiker Sascha Westphal zufolge vor allem Tells Hybris herausarbeitet), Charlotte Sprengers Inszenierung von Bertolt Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" am Nationaltheater Mannheim (SZ), Benjamin Brittens Oper "Sommernachtstraum" im Stadttheater Gießen (FR) und Thomas Arzts Stück "Wunsch und Widerstand" über den Juristen und Holocaust-Überlebenden Max Riccabona am Vorarlberger Landestheater (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

Studie für den Block in der Schützenstraße/Berlin, 1993. Bild: Tchoban Foundation


Ganz hervorragend findet Sophie Jung in der taz die Ausstellung "Insulae", mit der die Berliner Tchoban Foundation die Arbeit des italienischen Architekten Aldo Rossi neu untersucht, der das Tabula-rasa-Denken der klassischen Avantgarde ebenso ablehnte wie die funktionale Moderne und deswegen vielleicht als postmoderner Theoretiker missverstanden wurde: "Aldo Rossi bleibt irgendwie rätselhaft und vielfältig deutbar. Doch man kann seiner gebauten, gezeichneten und theoretischen Architektur trotzdem viel abgewinnen. Insbesondere, dass er Kunst und Leben zusammenbringt, dass er dem Humorvollen und Spielerischen für die Allgemeinheit Platz macht, das Schöne und Widersprüchliche in den öffentlichen Raum bringt. Das 'Teatro del Mondo' oder vielmehr diese kleine Bühne zum Garten hinter der monumentalen Säule."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Rossi, Aldo

Kunst

Besprochen werden die Schau "Myth and Reality" zu den Ausgrabungen von Knossos im Ashmolean Museum in Oxford (FAZ) und die von Florian Illies kuratierte Schau mit Ölstudien "Mehr Licht" im Düsseldorfer Kunstpalast (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Christoph Winder gibt im Standard einen kursorischen Überblick mit schreibenden Brüdern der Literaturgeschichte. Mit den "vielleicht gloriosesten Klatsch- und Tratschbasen aller Zeiten", wie Winder die Brüder Goncourt nennt, befasst sich sein Standard-Kollege Bert Rebhandl anlässlich einiger neuer Bücher noch etwas genauer. "Brüder kommen nicht voneinander los, sie werden einander buchstäblich zum Schicksal", schreibt Rebhandl (und man denkt kurz nach, ob er damit wohl auch auf seinen Standard-Kollegen Manfred selben Nachnamens anspielt). "Auf die Goncourts traf das in hohem Maße zu, und auf eine radikale Weise dadurch, dass sie auch ihr Privatleben teilten. ... Wenn man älter wird, erweitert sich der Horizont des Sozialen, man lernt neue Leute kennen und orientiert sich, wenn man darauf neugierig ist, bald in einem wahren Kosmos an unverwechselbaren Typen. Die Goncourts lesen wir heute vor allem als die Chronisten eines solchen Kosmos. Sie schufen Blitzlichter, so der treffende Titel der wegweisenden Tagebuch-Anthologie von Anita Albus, die 1989 in der Anderen Bibliothek erschien und die der Galiani-Verlag gerade neu herausbringt."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Judith von Sternburg berichtet in der FR vom "Wortmeldungen"-Shortlist-Abend in Frankfurt (alle Beiträge des Abends stehen hier online). Maxim Biller erinnert sich in der Zeit an ein Abendessen mit unter anderem Claudius Seidl, bei dem womöglich auch Dirk Moses im Raum war.

Besprochen werden unter anderem Clemens J. Setz' "Monde vor der Landung" (online nachgereicht von der FAZ), Virginia Cowles' "Looking for Trouble" mit Reportagen und Porträts aus den Dreißigern (taz) und Emmanuelle Fournier-Lorentz' "Villa Royale" (NZZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Friederike Mayröckers "auf eine jüngst gestorbene Nachtigall":

"sie hat kein Lied mehr gehabt
sie war schon verstummt
aber in tiefer Traurigkeit ihre Augen Schnee Augen..."
Archiv: Literatur

Film

Die Filmkritik trauert um den spanischen Autorenfilmer Carlos Saura, der einen Tag vor seiner Ehrung für sein Lebenswerk durch die Goya Awards im Alter von 91 Jahren gestorben ist. Groß war Sauras Kino, weil es geprägt war von der "Suche nach dem, was man Spanischkeit nennen könnte", schreibt Georg Seeßlen auf ZeitOnline, "einer Verfasstheit von Eros, Familie und Gesellschaft, nach der Kontinuität von Schuld, Unterdrückung und Schweigen, nach der Ungleichzeitigkeit zwischen dem Archaischen, dem Bürgerlichen und der Moderne". Entstanden sind Sauras Filme unter den Eindrücken der Franco-Diktatur, doch es geht in ihnen "nicht um die äußere Grausamkeit des Regimes, sondern um die innere Grausamkeit seines familiären und erotischen Unterbaus. Hier wird man schon in der Kindheit schuldig, und die Unfähigkeit, mit dieser Schuld in einer Art umzugehen, wie sie die Moderne damals ringsum erlaubte, die Traumarbeit bei Federico Fellini und ihre Aufklärung bei Ingmar Bergman zum Beispiel, bewirkt, dass Sauras Menschen in einem Gefängnis der Bilder und Worte leben."

Saura floh sich schon als kleiner Junge "traumspielend in die Welt der Märchenwunder und Sagengestalten", schreibt Thomas Bauermeister in der Welt: "Das Onirische prägte sein Leben. ... Wie im Märchen brennen sich die Bilder von staubweißen Einöden, blitzenden Säbeln und Uniformknöpfen, vom Schweiß eines Pferdes und grundlos verschütteter Milch in unsere Netzhaut, erzählen von Seelenzuständen, bruchstückhaften Identitäten wie bei Borges, vom Ineinandergreifen der Zeiten, sich verdichtenden und wieder verfließenden Orten. Der zermürbende Kampf mit der Zensur ließ ihn seinen poetischen Stil der Uneigentlichkeit entdecken. Die filmische Allegorie als vitriolgetränkte politische Farce. Mit Sujets, die auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen, konnte er Spaniens verinnerlichte Symbole von Macht, Religion und Militär, patriarchaler Unterdrückung und Selbstrepression nach Herzenslust als scheinbar zeitlose Parabel vorführen. " Weitere Nachrufe schreiben Fritz Göttler (SZ), Daniel Kothenschulte (FR) und Andreas Kilb (FAZ).

Außerdem: Christiane Peitz weint im Tagesspiegel den Schlangen am Ticketcounter, die sonst immer das Bild der Berlinale prägten, eine kleine Träne nach: Das Festival verkauft in diesem Jahr sämtliche Tickets online. Julia Pühringer wirft für den Standard einen Blick auf Channing Tatums Filme. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner Kim Novak zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden M. Night Shyamalans "Knock at the Cabin" (FAZ, SZ), Alex Schaads "Aus meiner Haut" (Presse), die Miniserie "Das Geständnis der Frannie Langton" (FAZ) und die Serie "A Thin Line" (Tsp).
Archiv: Film

Musik

Karen Krüger wirft für die FAS einen Blick nach Italien und erzählt die Geschichte des Festivals von Sanremo, dem ganz Italien gebannt folgt und wo die italienischen Hits der Saison geboren werden. Dem Traditionsfestival ist geglückt, sich behutsam zu modernisieren und dennoch die Wurzeln nicht zu kappen, findet sie: "Das Wunder, das alt empfundene Format in die Gegenwart zu holen, gelang vor einigen Jahren. Seitdem singen auf der Bühne Mittzwanziger genauso wie Rocklegenden jenseits der siebzig, treffen tiefste Provinz auf die Aura jahrzehntelangen Erfolgs und neue Rap-Talente auf Musik-Oldies wie Al Bano oder eben Gianni Morandi. Jeder Abend hat ein Thema, seinen Skandal, ist ein Trend - die Struktur folgt der Logik der sozialen Medien."

Außerdem: Daniel Gerhardt resümiert auf ZeitOnline Rihannas Auftritt beim Super Bowl. Besprochen werden neue Musikveröffentlichungen, darunter Ben LaMar Gays Jazzalbum "Certain Reveries" (FAZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik