Efeu - Die Kulturrundschau

Gut besprochen, vorgestellt und bejubelt

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14.02.2023. Nach der Hundekot-Attacke auf eine FAZ-Kritikerin ist Hannovers Ballettchef Marco Goecke erst einmal suspendiert. Die SZ fragt, woher die Verachtung der Kunst für die Kritik rührt: Liegt es an der Schwäche des Gegners? Der Standard vermutet eher das schlechte Gewissen des reichen Vetters. Die taz bedauert das Ende eines Choreografen, dessen Arbeit immer gut und manchmal sensationell war. NZZ und FAZ schwärmen außerdem von der unglaublichen Klangsinnlichkeit der Pianistin Martha Argerich, die Luzern mit einem ihrer seltenen Konzerte beglückte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.02.2023 finden Sie hier

Bühne

Der Eklat von Hannover schlägt seine Wellen. Die Oper Hannover hat Ballettchef Marco Goecke nach der Hundekot-Attacke auf die FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster erst einmal suspendiert. "Dass jemand, der Menschen mit Scheiße beschmiert, um sich zu rächen, von einer Staatsoper weiter geduldet werden kann, war kaum vorstellbar", hält Benno Schirrmeister in der taz fest, der dies allerdings auch bedauert, weil er Goeckes Arbeiten - im Gegensatz zu Hüster - "immer gut, oft sensationell" fand: "Offenkundig, dass Hüster Goeckes Ideen und Stil abgelehnt hat. Immer wieder. Wer ihre Kritiken von Goeckes Arbeiten liest, wird verstehen, dass sie als persönliche Angriffe interpretiert werden können: Was der Wert einer Kritik ist, die mechanisch eine Ablehnung wiederholt, darüber hätte man vor dem Attentat diskutieren können. Und sich fragen, ob in den Verrissen ein echter Vernichtungswille mitschwingt. So hat Goecke ihn verwirklicht: Der Mann hat sich selbst zerstört."

In der SZ fragt Christine Dössel, woher die spürbar gewachsene Verachtung für die Kritik in der Kunstszene rühre, die auch von Regisseurinnen wie Karin Beier geäußert wurde. Liegt es an der schwindenen Relevanz des Feuilletons? "Das geschwächte Renommee ist das eine - auf einen schwachen Gegner blickt man herab und haut man leichter drauf -, die zunehmende Selbstdarstellung der Bühnen im Internet und in den digitalen Medien das andere. Die Dramaturgen stellen ihre Stückinformationen, Einführungsvorträge und Selbstwahrnehmungen online und kommunizieren direkt mit ihren Zuschauern - wer braucht noch Kritiker? Das auf Achtsamkeit und Diversität hohen Wert legende Gegenwartstheater tendiert ohnehin immer mehr Richtung Befindlichkeitspflege und empfindet Kritik als per se übergriffig. Also die negative. Denn gut besprochen, vorgestellt und bejubelt werden wollen sie ja doch alle."

In der NZZ bilanziert Paul Jandl das gereizte Verhältnis zwischen Kunst und Kritik von Goethe ("Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent") bis Käthe Dorsch ("Ich finde es an der Zeit, dass Sie etwas auf Ihr ungewaschenes Maul bekommen."). Im Tagesspiegel zeigt sich Rüdiger Schaper im Nachhinein erleichtert, dass er selbst vor zwanzig Jahren von einem wütenden Schauspieler nur mit Weißwein übergossen wurde: "Die Sitten werden härter."

Für Standard-Kritiker Ronald Pohl war der Kritiker stets der arme Vetter am reich gedeckten Tisch der Künste: "Eine lächerliche, durchaus von Aggressionsbereitschaft kündende Tat wie der Hannoveraner Kotangriff belegt das allseits schlechte Gewissen. Die Bühnen, an die gehätschelte Vorliebe für die eigenen Tics und Schrullen gewöhnt, sehen sich massiv mit Publikumsschwund konfrontiert." In der Welt sieht Jan Küveler einen systemischen Gegensatz mit Versehrten auf beiden Seiten: "Im Gegensatz zur mehrheitlich privatwirtschaftlich strukturierten Kritik, die in Zeiten umfassender Messbarkeit auch ihren ökonomischen Wert beweisen soll, lassen es sich Regisseure, Schauspieler und Intendanten in üppig subventionierten Blasen gut gehen. Dabei übertünchen sie den durchaus auch von ihnen selbst wahrgenommenen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust durch gegenseitige Lobhudelei und zunehmende Arroganz gegenüber den spärlicher werdenden Vertretern der zunehmend desinteressierten Öffentlichkeit." Weitere Artikel in Berliner Zeitung, ZeitOnline und Nachtkritik.

Besprochen werden Schillers "Wilhelm Tell" in Düsseldorf (SZ), Brechts "Guter Mensch von Sezuan", mit dem das Nationaltheater Mannheim seine neue Spielstätte in einem alten Kino der US-Army eröffnet (FAZ), Thomas Arzts Stück "Wunsch und Widerstand" in Bregenz (Standard) und der Tanzabend  "Kosmos - schwerelos" in Mannheim (FR).
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Kunst

Nhu Xuan Hua: Schwäne auf dem Genfer See. Aus der Serie Tropism, Consequences of a displaced Memory, 2016-2021. Bild: Fotografie Forum Frankfurt

Gern begibt sich taz-Kritikerin Katharina J. Cichosch in den symbolisch aufgeladenen Kosmos der französisch-vietnamesischen Künstlerin Nhu Xuan Hua, der das Frankfurter Fotografie Forum eine Schau ihrer Mode- und Kunstfotografie widmet: "Damit steht Nhu Xuan Hua stellvertretend für eine Generation, der die gestrengen Grenzen künstlerischen Ernsts herzlich egal sind. Ihre Bilder zieren Kampagnen für Luxushäuser ebenso wie für Editorials: Auf ein Geschwisterpaar lässt sie Krawatten wie Konfetti über bronzefarbenen Grund regnen, eine andere Protagonistin wässert die Geranien oder cremt sich das Gesicht, die Bluse mit dem ikonischen Gucci-Doppel-G verrät den Auftraggeber. Zu den messerscharf Abgelichteten gesellen sich gespenstisch verschwommene Figuren: Es sind die gesichts- und nahezu körperlosen Figuren aus Huas 'Tropism'-Serie, die auf gefundenen Bildern aus dem Familienfundus basieren... Von den Personen, die Hua digital bearbeitet, bleiben nurmehr Silhouetten, die ihre Umgebung durchschimmern lassen. Als ob sie zwischen den Dimensionen von Zeit und Raum hin- und herswitchen, ohne sich je ganz zu materialisieren. Tragisches Manko oder vielmehr Superpower?"

Besprochen werden Fotografien des Abenteurers Gregor Sailer von der Polaren Seidenstraße in der Alfred-Erhardt-Stiftung in Berlin (FR)
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Stichwörter: Nhu Xuan Hua, Krawatte

Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (Zeit), Ljudmila Ulitzkajas "Die Erinnerung nicht vergessen" (Welt), Matt Fractions Noir-Krimi-Comic "November" (Tsp), Thomas Oláhs "Doppler" (Standard), Hans Joachim Schädlichs "Das Tier, das man Mensch nennt" (FR), Margo Jeffersons Autobiografie "Constructing a Nervous System" (taz), Julia Schochs "Das Liebespaar des Jahrhunderts" (SZ) und Giorgio Manganellis "Irrläufe" (FAZ).
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Film

Steven Soderberghs "Magic Mike: The Last Dance": Männerkörper zum Anfassen

Der dritte Teil von Steven Soderberghs Stripper-Filmreihe "Magic Mike" lässt NZZ-Kritiker Daniel Haas, der in der Kinovorführung wohl von den ausgelassen feiernden Frauen im Raum wohl auch ein wenig von der Seite angequatscht wurde, über die fetischisierte Darstellung des männlichen Körpers nachdenken: "Eine auf der Höhe der Zeit verfahrende Zurschaustellung des Männerkörpers steht noch aus", findet er. "Sie müsste immer auch eine Bloßstellung sein, eine Verletzung, eine Offenlegung. Was müsste offengelegt werden? Dass Blickverhältnisse Machtverhältnisse sind. Dass Machtverhältnisse nicht in Stein gemeißelt sind, was gut so ist. Und dass die Inspektion, verstanden als Dominanzgeste, nicht an das Geschlecht gebunden bleibt. 'Hey, da ist ein Mann!' Selten habe ich mich mehr gesehen gefühlt. Und weniger Herr der Lage."

Außerdem: Angaben des PEN-Zentrums zufolge ist der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen worden, meldet Susan Vahabzadeh in der SZ. Für die Welt spricht Hanns-Georg Rodek mit M. Night Shyamalan, der diese Woche seinen neuen Horrorfilm "Knock at the Cabin" in die Kinos bringt.
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Musik

Dem neuen Luzerner Klavierfestival "Le Piano symphonique" ist im Nu ein Coup gelungen und konnte Martha Argerich, die mit Auftritten geizende Grande Dame des Klaviers für zwei Konzerte gewinnen. Sie trat gemeinsam mit dem Cellisten Mischa Maisky und dem Bariton Thomas Hampson auf und beim Schumann-Teil des Abends "gelang das Zusammenwirken mit der Pianistin sehr harmonisch", schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. "Dennoch drängte sich immer stärker der paradoxe Eindruck auf, dass es die Singstimme hier eigentlich gar nicht gebraucht hätte: weil nämlich Argerich alle Schumann-typische Poesie bereits mit unglaublicher Klangsinnlichkeit im Klavierpart verdichtet hatte." Mit Maisky hingegen "entstand eine echte Symbiose" und dies "ausgerechnet in der in dieser Hinsicht besonders heiklen Cellosonate von Frédéric Chopin. Auch hier bleibt jeder als eigenständige Künstlerpersönlichkeit spürbar, doch die Bälle und Geistesblitze fliegen nur so hin und her, alles greift wie schwerelos und vollkommen organisch ineinander."

FAZ-Kritiker Max Nyffeler geht insbesondere beim Schumann-Konzert auf die Knie. "Ihr mitreißendes, vitales Spiel ist heute durch Nachdenklichkeit angereichert, sie hört tief in die Klänge hinein. Beispielhaft war der Beginn der Durchführung im ersten Satz, die sie wie eine aus der Ferne hereinklingende Fantasie gestaltete - ein Blick in die Gefühlswelt des verliebten Schumanns, im Charakter ebenso treffsicher erfasst wie der anschließende pianistische Höhenflug. Der Übergang des langsamen zweiten zum schnellen dritten Satz: ein intimes, weltabgewandtes Zwiegespräch von Klavier und Orchester, gefolgt von einem brillanten Finale. Abgeklärt war das alles überhaupt nicht, sondern vielmehr auf unnachahmliche Weise gereift; Poesie und Kraft, Verinnerlichung und Virtuosität ergänzten sich aufs Schönste, ganz im Sinne Schumanns."

Der R&B-Star Kelela meldet sich nach einer Phase der Introspektion mit dem zweiten Album "Raven" zurück und haut Pitchfork-Kritiker Eric Torres damit völlig um: Die Sängerin tritt hier "in ein aufs Neue energiegeladenes, stärkendes Licht. Nachdem sie auf 'Take Me Apart' brüchige Beziehungen auseinandergenommen hat, konzentriert sie sich nun durch Detonationen aufgeheizter Dance Music und Ambient-Täler hindurch auf queeres, schwarzes Frausein. Eine neue Ruhe ummantelt ihren verschachtelten Sound und bildet so einen Rückzugsort von den Problemen des Alltags, während sie eben diese Probleme in größter Klarheit aufdröselt. 'Raven' zu hören lässt einen sprachlos zurück angesichts der Spannbreite, in der sich Kelelas Musik entwickelt. Zugleich entstehen dabei zahlreiche Blickwinkel, aus denen sich neue, schwindelerregende Perspektiven auf R&B offenbaren."



Außerdem: Ralf-Thomas Lindner resümiert in der NMZ das "Visions"-Festival für Neue Musik in der Elbphilharmonie. Karl Fluch freut sich im Standard darüber, dass die Initiative Netz/Schallter auf Spotify Raritäten zugänglich macht.In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Funk-Saxofonisten Maceo Parker zum 80. Geburtstag. Jakob Biazza (SZ) und Adrian Schräder (NZZ) schreiben Nachrufe auf den Rapper Trugoy von De La Soul.

Besprochen werden Rihannas Auftritt beim Super Bowl (Tsp, SZ), Paramores neues Album "This Is Why" (ZeitOnline), und ein Konzert von Julia Fischer in Frankfurt (FR).
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