Efeu - Die Kulturrundschau

Nichts ist echt, alles ist richtig

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06.03.2023. Schauspielkunst der Extraklasse erleben Nachtkritik und NZZ  mit Wiebke Mollenhauer in der Zürcher Inszenierung von Sarah Kanes "Gier". In Bochum lassen sich SZ und FAZ von der singenden und tanzenden Sandra Hüller betören. Die FAS bewundert mit der Serie "Luden" Anmut und Kaputtheit der Hamburger Nutella-Bande. In der SZ betont Comic-Historiker Alexander Braun, dass sich Disney schon immer seine Geschichte geschönt hat. In der FAZ erzählt Rafał Blechacz, wie die Pandemie seine Chopin-Aufnahmen verdunkelte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2023 finden Sie hier

Bühne

Wiebke Mollenhauer in Sarah Kanes "Gier": Foto: Orpheas Emirzas/Schauspielhaus Zürich

Tosenden Applaus meldet Nachtkritikerin Valerie Heintges nach Christopher Rüpings Inszenierung von Sarah Kanes "Gier" am Schauspielhaus Zürich. Sie selbst ist ebenfalls bewegt und begeistert, vor allem von Hauptdarstellerin Wiebke Mollenhauer: "Man kann die Augen nicht abwenden von dieser Schauspielkunst der Extraklasse. Fast immer schaut Mollenhauer ruhig und mit unbewegtem Kopf in die Kamera. Wenn sie dann den Kopf dreht, erschrickt man fast. Wenn sie aus dem Bild herausschaut oder gar ihr Haar löst oder geschminkt wird, bekommt das - so gegensätzlich zum stillen Schauen - eine ungeheure Bedeutung, wirkt wie ein Beben, ein Ausbruch. Was dieses stumme Gesicht von den vier Stimmen zu hören bekommt, ist harter Tobak. Von sexuellem Missbrauch ist die Rede, an einem Kind, im Beisein des Vaters. Immer wieder geht es um Vergewaltigung, um Schmerzen, um Gewalt. Um Brutalitäten, die die Eltern einander zufügen, Traumata, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, bis keiner mehr weiß: Habe ich das erlebt, geträumt, gehört?" In der NZZ springt Ueli Bernays vor allem auf den musikalischen Umgang mit Sprache an: "Es erinnert an die freie Improvisation, wo sich einzelne Geräusche, Töne und rhythmische Aktionen erst allmählich zur Form verfestigen. Aber auch an die klassische Sonate, wo Themen erst einzeln vorgestellt werden, bevor sie sich in der Modulation gegenseitig affizieren."

Singend, tanzend und liegend: Sandra Hüller im "Würgeengel". Foto: Armin Smailovic / Bochumer Schauspielhaus

Johan Simons hat in Bochum Luis Buñuels "Würgeengel" von 1962 mit einer formidablen Sandra Hüller auf die Bühne gebracht. Allein schon ihretwegen konnte FAZ-Kritiker Hubert Spiegel die Melange aus Mystik und Moral bestens verkraften: "Ein Weltuntergangshauch weht durchs Bochumer Schauspielhaus. Er kommt aus dem sanften Süden, vom Surrealismus her, und weht in den strengen Norden, Richtung Protestantismus. Er beginnt bei Buñuel, Luis, und endet bei Bach, Johann Sebastian. Bochums Intendant Johan Simons inszeniert 'Der Würgeengel' als Abgesang auf unsere Epoche, die lange Ära der Ausweglosigkeit, von der es dereinst heißen könnte, sie habe nur fünf Minuten gedauert, die letzten Minuten vor zwölf. Aber diese fünf Minuten fühlen sich an wie eine Ewigkeit." In der SZ folgt Martin Krumbholz dem Schaupsiel gebannt: "Dem Regisseur und seinem Team ist ein aufregender, außergewöhnlicher Theaterabend gelungen, kurz und bewegend. Am Schluss singt der Chor beklemmend und erschütternd 'Liebster Jesu, wir sind hier', und Sandra Hüller intoniert 'My Future' von Billie Eilish."

Weiteres: Im Tagesspiegel kündigt Patrick Wildermann das am Mittwoch startende Festival "Radar Ost" im Deutschen Theater an, mit dessen Ukraine-Schwerpunkt es ans Eingemachte gehen dürfte: "Für viele der ukrainischen Theaterschaffenden bedeutet Kunst aktuell Kampf."

Außerdem besprochen werden: Sebastian Hartmanns Adaption der "Traumnovelle" von Arthur Schnitzler am Schauspielhaus Frankfurt (nachtkritik, FAZ, FR), "Intervention!" von Leander Haußmann und Sven Regener am Thalia-Theater in Hamburg (taz, SZ, Welt), Maria Milisavljević' Stück "Nicht ohne meinen Colt" in der Adaption von Lisa Pauline Wagner am Hauptmann-Theater Zitau (nachtkritik). Alma Deutschers Oper "Des Kaiser neue Walzer" am Salzburger Landestheater (Standard).
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Kunst

In der FAZ berichtet Niklas Maak, dass sich der ominöse Kulturunternehmer Walter Smerling jetzt nicht mehr von Wladimir Putin sponsorn lässt, sondern von Peter Thiels Datenkonzern Palantir. Im Tagesspiegel stellt Rolf Brockschmidt den libanesisch-deutschen Künstler Said Baalbaki vor. Besprochen wird David Hockneys Multimediaschow "Bigger & Closer" im Lightroom London (NZZ).
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Film

Schnoddrig und kaputt: Aaron Hilmer spielt den "schönen Klaus" (Amazon)

FAS-Kritiker Harald Staun traut seinen Augen nicht: Amazon macht mit "Luden - Könige der Reeperbahn" dem deutschen Fernsehen vor, wie man einen historischen Stoff - Aufstieg und Fall der "Nutella"-Bande, die in den Achtzigern die alten Zuhälter auf St. Pauli ablöste - mitreißend erzählt und aus dem teils altgedienten Cast das Beste rausholt: "Schon lange hat keine deutsche Serie mehr so viel richtig gemacht wie 'Luden'. Das beginnt damit, wenig falsch zu machen." Von Anfang an sparten sich Produzenten, Autoren und Regisseure "jede überflüssige Handreichung, jeden unnötigen Erklärdialog, jedes zu oft gesehene Bild. Wie ein Trailer werden die Motive der kommenden Folgen kurz angespielt. Und dann ist man schon mittendrin in der Geschichte, die zwar auf einer wahren Legende beruhen mag; die sich aber vor allem auf die Kraft der eigenen Fiktion konzentriert." Wichtig sind dabei "Stil und Ton, Tempo und Timing: die schnellen Schnitte, die flüchtigen Blicke, der Dreck. Die Unschärfen und Tiefen, die Anmut, Schnoddrigkeit, Kaputtheit. ... Nichts ist echt, alles ist richtig."

Außerdem: In der Berliner Zeitung spricht der Regisseur Edward Berger über seine Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues". In seiner Serienkolumne für die Zeit erinnert Matthias Kalle an "Der Doktor und das liebe Vieh".

Besprochen werden Steven Spielbergs "The Fabelmans" (FAS), Todd Fields "Tár" (Standard, unsere Kritik), Alice Diops "Saint Omer" (FAS), Martin Schilts Dokumentarfilm "Krähen" (NZZ), die Zombie-Serie "Last of Us" (taz) und die Ausstellung "Phantome der Nacht. 100 Jahre Nosferatu" in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin (FAZ).
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Literatur

In der SZ meldet sich der Comic-Historiker Alexander Braun in der Causa Entenhausen (unser Resümee) zu Wort: Der Disney-Konzern legte ja in den USA einen Bannfluch über bestimmte Comicgeschichten von Carl Barks und Don Rosa (insbesondere solche mit dem "Zombie Bombie") aus dem historischen Fundus und torpediert damit die editorische Arbeit der Lizenznehmer. Diese "aus den Augen, aus dem Sinn"-Politik hält Braun für fatal: "Verantwortung für 'Vielfalt und Inklusion' zu übernehmen klingt gut, tatsächlich geht es bei Disney aber wohl eher darum, den Back-Katalog für eine unproblematische globale Auswertung in Form zu schneiden: stromlinienförmig, geschmeidig, geräuschlos. Der zweifelhafte und in der Regel desinteressierte Umgang mit der eigenen Geschichte hat Tradition bei Disney." Als Beispiel nennt Braun den seit Jahrzehnten unter Verschluss gehaltenen Animationsfilm "Song of the South" aus den Vierzigern - eine Onkel-Tom-Geschichte, die allerdings auch James Baskett als erstem schwarzen Schauspieler einen Oscar einbrachte. Zur Geschichte von "Song of the South" ist im übrigen sehr diese hervorragend recherchierte Podcast-Serie zu empfehlen. Im Internet Archive gibt es das Digitalisat einer 35mm-Kopie des Films.

Weitere Artikel: Im Standard sprechen die Autorinnen Gertraud Klemm, Anna Maria Stadler und Mareike Fallwickl über den Status feministischer Literatur. Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Thomas Hummitzsch spricht in seinem Intellectures-Blog mit Irina Kilimnik über deren Roman "Sommer in Odessa". In der FAZ gratuliert Matthias Hannemann dem Schriftsteller Jan Kjærstad zum 80. Geburtstag. Das CrimeMag veröffentlicht für Dlf Kultur die besten Krimis des Monats - an der Spitze: Megan Abbotts "Aus der Balance".

Besprochen werden unter anderem Bret Easton Ellis' "The Shards" (Jungle World), Brendan Bensons "Low Key" (FR), Sabine und Emma Ludwigs Neuübersetzung von Roald Dahls "James und der Riesenpfirsich" (FAZ), Éric Vuillards "Ein ehrenhafter Abgang" (SZ) und neue Krimis, darunter Deepti Kapoors "Zeit der Schuld" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Albert Ostermaiers "bejahung":

"ich sage zu allem ja
ohne aber bejahe ich
dich sage nein zu allen..."
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Musik

Im Interview mit der FAZ spricht Rafał Blechacz über seine neue Chopin-Aufnahme, die unter den Eindrücken der Pandemie entstanden ist: In seinem Umfeld sind viele Menschen gestorben, hinzu kam die erzwungene Distanz zum Publikum. "Zugleich fühlte ich mich innerlich bestimmten Werken sehr nahe. Dazu gehören Chopins Polonaise-Fantaisie und seine zweite Klaviersonate. Mitte des Jahres 2021 dachte ich: Ich muss aus dieser Erfahrung etwas machen, sie künstlerisch nutzen, um in der Musik etwas sagen zu können, wozu ich in der Vergangenheit noch nicht in der Lage gewesen war." Chopins b-Moll-Sonate op. 35 "steckt voller Wut, scharfer Kontraste, extremer Dynamik. Das wusste ich vorher zwar auch schon, aber jetzt bin ich im Klavierspiel wie im Leben freier und mutiger geworden, das auch zu zeigen." Die ersten Sätze von Chopins Trauermarsch "erzählen vom inneren Kampf gegen eine lebensfeindliche Welt. Doch dann kommt die Kapitulation: Wir sind nicht Helden unseres eigenen Lebens. Es liegt nicht alles in unserer Hand. Wir sind nur Menschen und haben unsere Endlichkeit zu akzeptieren."

Weiteres: Kevin Goonewardena spricht in der taz mit dem Filmemacher Peter Wallgram und dem Musiker Frank Spilker über den Dokumentarfilm "Du musst gar nix", der von Spilkers Band Die Sterne handelt. Die NMZ spricht mit dem Komponisten und Gitarristen Leon Albert über dessen 24 kleine Präludien. In der FAZ schreibt Karl Bruckmaier einen Nachruf auf den Gitarristen David Lindley.

Besprochen werden das neue Album "La La Land" von Guided by Voices (Jungle World), ein Auftritt des Pianisten Jewgeni Kissin (Standard), ein von Nicholas Collon dirigiertes Elgar-Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien (Standard), Anna B Savages Album "InFlux" (taz) und ein Konzert der Pianistin Hélène Grimaud (Standard).
Archiv: Musik