Efeu - Die Kulturrundschau

Technologie schlägt Diskurs

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09.05.2023. Die FAZ begrüßt, dass Simbabwes Oberstes Gericht die Verurteilung der Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga kassiert hat. taz und Nachtkritik erleben die Verbindung von Monteverdi und Joan Didion beim "Ja, Mai"-Festival in München. Der Guardian blickt hingerissen in das offenherzige Gesicht des Franz von Assisi. Die WAZ rechnet vor, wie ein Theater auf 100 Prozent Auslastung kommt. ZeitOnline wippt zu den Klängen von Grimes' KI-Avataren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.05.2023 finden Sie hier

Literatur

Eine erfreuliche Entwicklung im Fall Tsitsi Dangarembga kann Jordi Razum in der FAZ melden: Die in Simbabwe über die Friedenspreisträgerin verhängte, auf fünf Jahren zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe (weil sie es gewagt hatte, mit einem Schild für ein demokratisches Simbabwe zu werben) wurde nun in der zweiten Instanz überraschend kassiert. "Mit rechtsstaatlichen Prinzipien hatte das zweijährige Verfahren wenig gemein. Das erkannte an diesem Montag auch der Vorsitzende Richter im von Dangarembga und Barnes angestrengten Berufungsprozess vor dem Obersten Gerichtshof von Simbabwe. Nach einer nur fünfzehnminütigen Anhörung hob Richter Happious Zhou das vorherige Urteil auf. Tsitsi Dangarembga und Julie Barnes sind frei. ... Man sollte sich indes keinen Illusionen hingeben: In Simbabwe herrscht seit Jahrzehnten ein kleptokratisches Regime, das die eigentlich liberale Verfassung mit Füßen tritt und jegliche demokratische Partizipation im Keim erstickt. Daran wird dieses Urteil wenig ändern."

Außerdem: Jürg Altwegg schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den französischen Schriftsteller Philippe Sollers. Besprochen werden unter anderem Pauline Harmanges Essay "ich muss darüber sprechen" (taz), Robert Seethalers "Café ohne Namen" (Standard), Deepti Kapoors "Zeit der Schuld" (FR), Mick Peets und Erik Varekamps Comic "Die Akte Kennedy" (Tsp), Anthony McCartens "Going Zero" (FR), Nick Hornbys "Dickens und Prince" (Welt), Hugo Hamiltons "Echos der Vergangenheit" (Tsp), Jérôme Leroys "Die letzten Tage der Raubtiere" (Tsp), David Schalkos "Was der Tag bringt" (SZ) und Honorée Fanonne Jeffers' "Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois" (FAZ).
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Bühne

Christopher Rüpings "Il Ritorno / Das Jahr des magischen Denkens". Foto: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Opernintendant Serge Dorny möchte mit seinem Münchner "Ja, Mai"-Festival Barock und Gegenwart zusammenbringen. Auch Regisseur Christoper Rüping schlägt in seinem "Begegnungstheater" gern Brücken, weiß taz-kritikerin Sabine Leucht und deswegen gefällt ihr auch, wie er Monteverdis Barockoper "Il Ritorno d'Ulisse in Patria" und Joan Didions Trauerbuch "Das Jahr des magisches Denkens" über den Tod ihres Mannes zusammenführt: "So tritt denn gleich Damian Rebgetz mit den ersten Sätzen des Buches an die Rampe: 'Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.' Das Scharnier, das analytische Prosa und Opernmagie sowie zeitgenössische und barocke Erzählweisen verbinden soll, ist eingesetzt! Das macht Sinn, weil es hier wie dort ums Loslassen respektive Festhalten geht. Denn auch Penelope in Monteverdis Oper vermisst ihren Mann."

Nachtkritiker Martin Jost erkennt an diesem Abend eine starke These zur Arbeit: "Ein Text, ein Stück, ein Kunstwerk - hier eine der ersten Opern überhaupt - darf nicht in einer Form gerinnen. Wir müssen mit ihm streiten können, es muss in unser Leben greifen, es muss sich anschreien lassen und zurückbrüllen." In der SZ sieht Reinhard Brembeck "braves Rumstehtheater" und empfiehlt stattdessen die Schau des ebenfalls zum "Ja, Mai" eingeladenen Konzeptkünstlers und Buddhisten Rirkrit, der im Haus der Kunst eine tolle Bar mit Tischtennisplatten eingerichtet hat.

Selten wird thematisiert, wie es in den Theatern um die Auslastung steht. Lars von der Gönna legt in der WAZ einen gut recherchierten Artikel über das Schauspiel Dortmund vor, das in der Intendanz von Julia Wissert vor sich hinzudümpeln scheint. Und dennoch kommt die Erfolgsmeldung: 50 Prozent Auslastung. Wie das geht? "Die Zahl stimmt, sie stimmt, weil Statistik eben so geht und man ihr vertraut - solange man nicht ins Theater geht. Diese 50 Prozent gehen so: Ist das große Haus an einem Abend geschlossen, während oben im Studio mit gerade mal 95 Plätzen Büchners 'Woyzeck' läuft (Abi-Stoff) hat das Haus: 100 Prozent. Der Abend 'Ihr wollt tanzen' findet auf der Bühne statt. Platzzahl 30, ausverkauft: 100 Prozent. Im großen Haus schloss man für 'Gott des Gemetzels' den Rang (Begründung des Theaters: 'intimerer Rahmen'), nun tauchen dessen Plätze in der Statistik nicht mehr auf."

Axel Brüggemann berichtet in seinem Crescendo-Newsletter "Klassikwoche" ähnlich Deprimierendes. Die Stadt Berlin hatte Jugendlichen kostenlose Kulturtickets zur Verfügung gestellt. "Die Ergebnisse sind ernüchternd: Die Berliner Jugendkulturkarte (ein 50 Euro Gutschein) sorgte für 160.000 Kulturbesuche - die meisten davon in Museen. Allerdings verzeichneten die drei Berliner Opernhäuser lediglich 1.900 Guthaben-Einlösungen. Ähnlich war die Resonanz in Bremen, wo die Jugendlichen mit der Freikarte 60 Euro für ein weitaus breiteres Angebot (inklusive Schwimmbäder) zur Verfügung hatten. 407.000 Tickets wurden umgesetzt: Spitzenreiter waren Kinos und Schwimmbäder. Lediglich 2.200 Karten wurden für Theaterbesuche in Bremen und Bremerhaven eingesetzt."
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Film

Frédéric Jaeger von critic.de sah beim Machinima-Schwerpunkt der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen viele anregende Filmarbeiten, die zwar in Game-Engines entstanden sind, aber das GamePlay der ihnen zugrunde liegenden Spiele nicht nachvollziehen, sondern die Umgebung kreativ nutzen. Den Machern geht es dabei auch darum, "zu offenbaren, welche Gedankenwelten und Ideologien durch die Spiele hindurchwirken." Das Kollektiv Total Refusal etwa interessiert sich in "Hardly Working" für "die NPC, die non-playable characters, also Figuren, die man nicht spielen kann, sondern die im Hintergrund die virtuelle Welt bevölkern. Das Proletariat des Games. Begleitet von einem pseudo-philosophischen Off-Kommentar, werden die Absurditäten und Lässlichkeiten in der Konstruktion dieser Hintergrundfiguren in den Blick genommen: Wie ein Zimmermann Nägel einschlägt in einen Steg am Ufer, tagein, tagaus, ohne dass er jemals Fortschritte macht. Wie eine Frau einen Weg kehrt, der immer staubig bleibt … Im Kinosaal in Oberhausen hatte eine Frau im Publikum jedenfalls einen Lachanfall." Hier ein Ausschnitt:



Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller empfiehlt in der taz die Retrospektive Antonio Pietrangeli im Berliner Kino Arsenal. Auf NZZ-Kritiker Andreas Scheiner wirkt die Aufregung um Til Schweiger "medial etwas überdreht". Besprochen werden eine Kino-Wiederaufführung von Loriots Cartoons (NZZ) und Kristin Derflers RTL-Serie "Die zwei Seiten des Abgrunds" mit Anne Ratte-Polle (FAZ).
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Architektur

Als absolut spektakulär bejubelt nach der SZ (unser Resümee) jetzt auch FAZ-Kritiker Niklas Maak den von der Architektin Jeanne Gang errichteten Anbau des American Museum of Natural History, dessen in Spritzbeton gegossene Skulptur ihn an einen fantastischen Canyon oder den Schädel eines "Megairgendwiesaurus" erinnert: "In dieser Nahtlosigkeit des Betons unterscheidet sich Gangs Raum aus einem Guss von den neueren Bauten Frank Gehrys, bei denen die Baumaterialien gegen ihren Willen verbogen und zu spektakulären Formen zusammengezwungen werden. Gangs Bau wirkt sanfter, so als hätte man die Brücken und Balkone, die aus den Kabinetten führen, mit feuchtem Sand ummantelt: als hätte die Zeit und nicht schweres Baugerät die Formen entstehen lassen. So erzählt auch die Architektur, was die Sammlung vermitteln will, ein Gefühl für Evolution, Zeit, Tiefe. Die computergenerierte Bauskulptur wirkt durch den von Oberlichtern in Szene gesetzten, sandig-rauen, handbearbeiteten Spritzbeton umso plastischer".
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Kunst

Fra Angelico: Der heilige Franziskus vor dem Sultan, 1429. Lindenau-Museum

Noch nie ist ihr Franz von Assisi so nahe gekommen wie in der National Gallery in London, staunt Guardian-Kritikerin Laura Cumming. Und sie stellt fest: Franziskus ist ein Heiliger für alle Jahreszeiten, für die Renaissance-Künstler war er Pionier, für die Barockmaler ein Mystiker, für die Romantiker Inspiration und für die Gegenwart ein Rebell: "Seine Herzlichkeit ist überall spürbar: In seinem liebevollen Gesicht, das auf den neugeborenen Christus in der Krippe von Josefa de Óbidos herabblickt (der Name des in Spanien geborenen portugiesischen Malers aus dem 17. Jahrhundert ist mir neu). In der Umarmung, die er dem gekreuzigten Christus in einem kolossalen Murillo-Gemälde entgegenbringt, und in der bescheidenen Darstellung der Armen durch den mexikanischen Wandmaler José Clemente Orozco. In den Szenen der Begegnungen des Heiligen mit Päpsten und Sultanen ist sie ebenfalls zu sehen. Eines der größten Werke hier ist auch das kleinste: ein winziger Fra Angelico, auf dem der redselig offenherzige Franziskus, der sich in der Hoffnung, den Sultan al-Kamil zu bekehren, nach Ägypten begeben hat und dort eine wohlwollende Anhörung erfährt. Hat es jemals ein besseres Gemälde eines skeptischen, wenn auch gnädigen Publikums gegeben?"

Besprochen werden außerdem die Ausstellung zu Vittore Carpaccio in Venedigs Dogenpalast (FAZ), Mona Kuhns Fotografien in einem Bildband und im Kunsthaus Göttingen (FAZ), eine Ausstellung zu Caspar David Friedrich im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt (die FR-Kritiker Andreas Hartmann in höchsten Tönen preist), die Schau "All Systems Fail" der Starkünstlerin Sarah Morris in den Hamburger Deichtorhallen (die SZ-Kritiker Till Briegleb eher dem Glamourösen als dem Kritischen verbunden sieht).
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Musik

Jens Balzer staunt in der Zeit - online nachgereicht, aber leider verpaywallt - über die technologischen Möglichkeiten von K.I. zur Generierung von Musik: Die kann nun bekanntlich so klingen wie Musik namhafter Künstler, ohne dass die je ins Studio dafür gehen mussten. Die Plattenfirmen toben (wir resümierten), die für Technologie immer sehr offene Musikerin Grimes hingegen stellt ihre Stimme bereitwillig für Experimente zur Verfügung und wird nun überhäuft von den Aufritten ihrer K.I.-Avatare: "Vom vollständigen Great American Songbook mit ihrer Stimme bis zu einer Gothic-Opernfassung der Göttlichen Komödie mit ihr als singendem Engel der Erlösung ist alles dabei. Aber auch für die Fans von Drake eröffnen sich ganz neue Chancen: künftig mit Musik versorgt zu werden, die interessanter und avantgardistischer ist als das mittelmäßige Zeug, das der Mann in letzter Zeit selbst so eingespielt hat. Das ist doch toll! Noch toller ist die Tatsache, dass dies gerade in einer Debattenlage passiert, in der viele Menschen immer genauer darauf achten, dass Musik identitätspolitisch korrekt ist, also etwa 'schwarze Musik' nur noch von 'schwarzen Menschen' aufgenommen und interpretiert wird. Mit den Mitteln der künstlichen Intelligenz kann nun jede und jeder in die musikalische Gestalt eines oder einer jeden anderen schlüpfen. Und wenn die KI gut trainiert worden ist, merkt auch niemand etwas von dem Rollentausch. Technologie schlägt Diskurs." Hier hören wir Grimes und hören sie doch nicht:



Weitere Artikel: Frederik Hanssen spricht für den Tagesspiegel mit Andrea Zietzschmann über die Pläne für die kommende Saison der Berliner Philharmoniker. Sabrina Patsch porträtiert die Hamburger Metalband Lord of the Lost, die für Deutschland beim Eurovision Song Contest auftritt. Im Standard stimmt Marco Schreuder aufs Semi-Finale des Eurovision Song Contests ein. Nachrufe auf den Pianisten Menahem Pressler schreiben Christian Wildhagen (NZZ), Kirsten Liese (Tsp) und Helmut Mauró (SZ) - weitere Nachrufe bereits hier.

Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker mit Daniil Trifonov unter Jakub Hrůša (Standard), das Debütalbum des Eurovision-Gewinners Gijon's Tears (NZZ) und der Tourauftakt von Roger Waters in Hamburg (Welt, SZ),
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