Efeu - Die Kulturrundschau

So lernt man Respekt vor harter Maloche

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25.04.2024. Im Tagesspiegel erzählt Ronya Othmann, wie schwierig es war, über das Massaker des IS an den Jesiden zu schreiben. Die Berliner Zeitung schaut im Barberini in die sphinxhaft leeren Mandelaugen von Amedeo Modiglianis selbstbewussten Evas. Die Filmkritiker wundern sich, dass in Luca Guadagninos "Challengers" erstaunlich wenig auf dem Tennisplatz gebumst wird. Und die SZ blickt mit Alexander Zeldin an der Schaubühne in die Schmutzecken der Klassengesellschaft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 finden Sie hier

Literatur

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Gerrit Bartels spricht für den Tagesspiegel mit Ronya Othmann über deren aktuelles Buch, den Roman "Vierundsiebzig", der von den Massakern des IS an den Jesiden handelt. Dafür war die Schriftstellerin mit jesidischen Wurzeln mehrfach in die Region gereist. Klar war ihr: "Aus einem Genozid kann man keine runde Erzählung machen. Es gibt nur Trümmer. Man hat die Dokumente der Überlebenden, der Zeugen. Und dann die Bilder, die vom IS kamen. ... Die Verbrechen haben etwas Jenseitiges, das über alles Zivilisatorische hinausgeht: aufgespießte Köpfe auf Zäunen in Rakka, gekreuzigte Menschen, die Sklavenmärkte mit den jesidischen Frauen oder die Verbrennung des jordanischen Piloten. ... Weil sie so jenseitig sind, haben diese Verbrechen allein etwas Fiktives, obwohl man weiß, dass das nicht stimmt. Ich musste damit arbeiten. Ich konnte das nicht fiktional erzählen. ... Es ist ja ein Bericht, es ist ein Protokoll, ein Essay, eine Reiseerzählung. Ich bin immer wieder gescheitert. Es geht auch um die Sprache, den Rhythmus, Satzanfänge, ästhetische Fragen auch in so einem Buch. All das will montiert und arrangiert werden, das meine ich mit Fiktion, deswegen steht da Roman drauf."

Weitere Artikel: Thomas Hummitzsch spricht für die taz mit dem Theatermacher Evan Tepest über dessen Debütroman "Schreib den Namen Deiner Mutter". Besprochen werden unter anderem Tessa Hadleys "Das Jahr der Veränderungen" (online nachgereicht von der FAZ), die große CD-Edition "Jahrhundertstimmen" mit zahlreichen literarischen Aufnahmen aus O-Ton-Archiven (Intellectures), Vittorio Alfieris "Sonette" (FR), Aleksandar Hemons "Die Welt und alles, was sie enthält" (NZZ) und der von Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler herausgegebene Band "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit. Literatur des Libertinismus in Deutschland" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Amedeo Modigliani: Liegender Frauenakt mit verschlungenen Händen, 1917. Copyright: Pinacoteca Agnelli, Turin

Der nun im Potsdamer Barberini Museum eröffneten Schau "Moderne Blicke" verdankt Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) ganz neue Perspektiven auf Amedeo Modigliani. Denn die Ausstellung weitet den Blick nicht nur über dessen Pariser Schaffen hinaus, sondern macht ihr zudem deutlich, dass es dem Künstler keineswegs nur um den Exzess, sondern um die "Schönheit des Körpers" und "selbstbewusste Weiblichkeit" ging, freut sich Ruthe: "Manche dieser liegenden oder sitzenden Evas mit den Sphinx-haft leeren Augen an den Barberini-Wänden scheinen sich unserem Blick zu entziehen. Der warme Ton der nackten kurvigen Körper wird durch den dunklen Hintergrund und das Rot und Weiß von Decke und Kissen fast plastisch hervorgehoben. Die ovalen Gesichter, die kindlich kleinen Münder, die Mandelaugen, die verschränkten Arme kontrastieren die modellierten Körper. Das ist nie lasziv, aber sinnlich. Es reichte dazu, Modiglianis Malerei zu skandalisieren."

Laure Winants: From a Tongue We Are Losing. Foto: Time Capsule #12

Nun findet auch noch eine Klima-Biennale statt, veranstaltet vom Kunsthaus Wien - Museum Hundertwasser. Ganz überzeugt ist Boris Pofalla in der Welt nicht, die Künstler glauben offenbar, die Welt retten zu müssen, dabei gerät das Werk oft zur bloßen Bebilderung einer These, seufzt er: "Die Kunst hier ist oft eine, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnis beruft, diese aber in etablierte Formen der contemporary art gießt und mit etwas besorgter Poesie überzieht. Im Foto Arsenal Vienna stellt Laure Winants Fotografien aus, die auf Papier entstanden sind, aber ohne Kamera, als Fotogramme. Winants war Teil einer viermonatigen wissenschaftlichen Arktis-Expedition und benutzte Proben aus dem gar nicht so ewigen Eis, um sie mit den Chemikalien im Fotopapier reagieren zu lassen. Auf ihren Bildern sieht man Kristallstrukturen, Farbverläufe wie an einem Morgenhimmel und, als Making-Of in einer Vitrine, die Künstlerin beim Entnehmen der Proben. Was genau aber verraten uns diese Werke über die Arktis? Ohne den Kontext zu kennen, würde man keine Verbindung zum Klimawandel herstellen."

Boris Lurie, A Jew is dead, 1964 © Boris Lurie Art Foundation

Der amerikanische Künstler und Holocaust-Überlebende Boris Lurie blieb stets ein Außenseiter und passt daher ideal nach Venedig, steht die Biennale doch unter dem Motto "Fremde überall", meint Bernhard Schulz, der sich für Monopol Luries so "verstörendes" wie wichtiges Werk vor Ort in der Scuola Grande San Giovanni Evangelista angesehen hat. Schulz blickt direkt in die Traumata Luries: "Er hat Material aus den Konzentrationslagern und Fotos von Leichenbergen zum Zeitpunkt der Befreiung durch alliierte Truppen bearbeitet und mit anderen Bildschnipseln zusammengefügt, sodass es einen buchstäblich empört: nämlich mit Pin-up Girls und Pornos, und dazu Titel wie 'Railroad Collage' oder 'From a Happening, 1945, by Adolf Hitler' gewählt. Darf man das? Lurie durfte. Er musste. Und dieser Schock bleibt."

Weitere Artikel: Gustav Klimts unvollendet gebliebenes Spätwerk "Bildnis Fräulein Lieser", das lange als verschollen galt, ist im Wiener Auktionshaus im Kinsky für 30 Millionen Euro - und damit zum unteren Schätzwert versteigert worden, meldet der Standard. Dabei war kurz zuvor noch ein neuer möglicher Erbberechtigter aufgetaucht, der bisher übersehen wurde, ergänzt Johanna Adorjan in der SZ. In der Berliner Zeitung schreibt Ingeborg Ruthe den Nachruf auf den im Alter von 55 Jahren verstorbenen Berliner Galeristen Daniel Marzona. In der FAZ berichtet Georg Imdahl von einem Urheberrechtsstreit zwischen der Stadt Paderborn und dem Künstler Wilfried Hagebölling. Im Tagesspiegel gibt Nicola Kuhn einen Überblick auf kommende Ausstellungen und Symposien zu 150 Jahren Impressionismus.

Besprochen werden die Ausstellung "Faszination Rom. Maarten van Heemskercks Zeichnungen" im Berliner Kupferstichkabinett (Zeit), die Ausstellung "Hannah Hallermann: Information" in der Berliner Galerie Hoto Art (taz) und die Ausstellung "Circles of Light" der amerikanischen Land-Art-Künstlerin Nancy Holt im Berliner Gropius Bau (FAZ).
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Film

Sexy, aber die Hose bleibt an: "Challengers" von Luca Guadagnino

Tennis und Sex, obendrein eine Ménage à trois: Der italienische Autorenfilmer Luca Guadagnino bringt mit "Challengers" im Kino zusammen, was dort bislang eher selten zusammengedacht wurde. Als Marketing-Schlager spielt dann noch Zendaya, derzeit der angesagteste Filmstar der GenZ, die Hauptrolle. Der Regisseur "suhlt sich in der Schönheit von makellosen Hardcourtplätzen und Tennisoutfits, dem Sound von Topspinvorhänden und Kickaufschlägen", schreibt Daniel Gerhardt auf Zeit Online. "Es wäre nicht das erste Mal, dass der Regisseur Sex und Sinnlichkeit dort erkennt, wo andere Leute sich gelangweilt oder auch angeekelt abwenden." Auch SZ-Kritiker Joachim Hentschel ist nicht so richtig angetan: Der Film "hat über weite Strecken die Struktur einer ausstattungsedlen Soap Opera. Was an sich kein Problem wäre, wenn die Darstellerinnen und Darsteller es schaffen würden, diesen Dialogen etwas mehr Leben, Virtuosität und emotionale Mehrschichtigkeit zu schenken", mal ganz "abgesehen davon, dass hier - für einen so explizit als sexy vermarkteten Film - schon erstaunlich wenig gebumst wird".

Sinnlich und mekrwürdig: "Eureka" von Lisandro Alonso

Der argentinische Auteur Lisandro Alonso schließt mit "Eureka" an seinen Film "Jauja" von vor zehn Jahren an: Erneut stapft Viggo Mortensen auf der Suche seiner Tochter durch ein historisches Setting, diesmal durch den frühen amerikanischen Westen - wobei der Film kaum vermittelt Zeiten und Räume aufbricht: "Eine History of Violence zieht sich durch die Vereinigten Staaten", schreibt Tilman Schumacher im Perlentaucher, "sie bestimmt das ausgehende 19. Jahrhundert ebenso wie die Gegenwart." Es "ist ein düsterer, nie aber schwerfälliger Travelogue durch diverse Zeit-Räume des amerikanischen Kontinents. Keine 'Geschichtsstunde', eher ein Mahnmal, ohne klar erkennbare Funktion. Wer bereit ist, sich ihm anzunähern, wird mit viel Sinnlichkeit belohnt - und auch mit der einen oder anderen Merkwürdigkeit." Für die SZ bespricht Philipp Stadelmaier den Film: "Alonsos Kino kennt nur den Raum", der sich ausdehne und alle räumlichen und zeitlichen Grenzen überwinde. "Diese Form der Entgrenzung ist stimulierend, wirkt aber oft unorganisch und konzeptuell", findet Stadelmaier. Dennoch biete der Film "ein in seiner Weite faszinierendes Panorama".

Außerdem: Joachim Hentschel spricht für die SZ mit Lars Eidinger über dessen Rolle in Matthias Glasners (in der taz besprochenem) Ensemblefilm "Sterben" (mehr dazu bereits hier). Jakob Thaller wirft für den Standard einen Blick aufs Programm des Red Lotus Asian Film Festivals in Wien. In seiner Filmdienst-Serie über Heist Movies denkt Leo Geisler über Jean-Pierre Melvilles "Bob le Flambeur" nach.

Besprochen werden Stéphane Brizés Liebesfilm "Zwischen uns das Leben" (FR), die David M. Leitchs Actionkomödie "The Fall Guy" mit Ryan Gosling (FR), die ARD-Dokuserie "Willy - Verrat am Kanzler" (FAZ) und die im SRF gezeigte Science-Fiction-Serie "Mindblow" (NZZ). Außerdem informiert das Filmteam der SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht. Und hier alle Kritiken des Filmdiensts zur aktuellen Kinowoche.
Archiv: Film

Bühne

 Szene aus "The Confessions", Probe. Foto: © Gianmarco Bresadola  

Aktuell zeigt das Festival Internationaler Neuer Dramatik an der Berliner Schaubühne, FIND, eine Werkschau des 38-jährigen britischen Autors und Regisseurs Alexander Zeldin. In der SZ ist Peter Laudenbach einfach hingerissen: Keine Effekte, kein Kalkül, sondern eine "Schule der Empathie" bekommt er zu sehen, ganz gleich, ob Zeldin in "The Confessions" die Lebensgeschichte samt Vergewaltigung seiner Mutter erzählt oder in der "Trilogie der Ungleichheit" Menschen am "unteren Ende der Klassengesellschaft" porträtiert: "Für 'Beyond Caring', dem ersten Stück der Trilogie, das die Putzkolonne eines Schlachtbetriebs bei der Nachtschicht zeigt, hat Zeldin mit Gewerkschaftern und Arbeitern gesprochen, und natürlich war er auch selbst in Schlachtbetrieben. Um die Schmutzecken einer harten Klassengesellschaft möglichst genau und ohne ideologische Besserwisser-Parolen auszuleuchten, will Zeldin erst mal die Leute und ihr Leben kennenlernen, von denen er erzählt. (...) So lernt man Respekt vor harter Maloche und verlässt zumindest für einen Arbeitstag die gerne wohlfeil beklagte Bubble des eigenen Milieus."

Weiteres: In der FAZ resümiert Lotte Thaler das kulturpolitische Debakel am Staatstheater Kassel um den Intendanten Florian Lutz, dessen Vertrag trotz massiver Beschwerden des Orchesters verlängert wurde und der sogar versuchte, Einfluss auf die Presse zu nehmen. Im VAN-Gespräch blickt der scheidende Direktor der Lyric Opera in Chicago Anthony Freud auf den amerikanischen Kulturbetrieb. Ebenfalls im VAN-Magazin erzählt Katja Petrowskaja von der Arbeit an ihrem ersten Opernlibretto frei nach Dostojewskis "Doppelgänger". Besprochen wird das Stück "Im Osten was Neues" des polnischen Regisseurs Łukasz Ławicki am Oldenburger Staatsschauspiel (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Diedrich Diederichsen klatscht in der taz aufgeregt in die Hände: Das den interessanteren Milieus der NDW entstammende Duo Die Partei hat mit "Celaviemachinery" nach nur 43 Jahren sein zweites Album veröffentlicht. "Gleiten, Flutschen und Ineinandergreifen werden dem Tanzen vorgezogen. In eine Klanglichkeit gekleidet, die tatsächlich, gerade weil sie an eine Vergangenheit erinnert, die sie für ihre Zukunft hielt, von keiner Epoche eindeutig vereinnahmt werden kann. Manches wirkt so süßlich, dass man sich unwillkürlich einen Schlager ausdenkt, den Nino de Angelo dazu hätte singen können, anderes klingt so elegant, als wollte hier jemand den französischen Spielzeug-Synthie-Pop eines Jacno neu erfinden, und dann wogt es so spacig, dass das kosmische-kuriere-verrückte germanophile Ausland heftig getriggert werden dürfte. Und immer wieder denkt man an die spezifische bundesdeutsche, provinziell existenzialistische Tristesse, wie sie eigentlich immer nur einsame 'Tatort'-Kommissare befällt, wenn ihre inneren Widersprüche und der ungelöste Fall sich vor der Kulisse einer nassen Mittelstadtnacht miteinander verheddern."



Außerdem: Merle Krafeld blickt für die VAN auf die Ergebnisse der Studie "Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt an der Hochschule für Musik und Theater München". Oliver Camenzind erzählt in der NZZ von seinem Besuch in Michael Senns Musikinstrumenten-Werkstatt.

Besprochen werden die Disco-Compilation "Sam Records: The Sound of New York City 1975-1983" (Standard), ein Berliner Konzert des ensemble unitedberlin mit Werken von Samir Odeh-Tamimi und Jakob Ullmann (VAN), ein Konzert von Khanate in Berlin (taz), ein Liederabend mit Samuel Hasselhorn (FR) und das neue Album der Pet Shop Boys, das Welt-Kritiker Oliver Polak "wieder als Teenager in den Achtzigern aufgebretzelt, frisch geduscht, haarspraygetuned in weiten Diesel-Jeans und Thrasher-Hoodie am Rand der Fahrbahn des Autoscooters stehen lässt".

Hier ihre Hommage an Nurejew:

Archiv: Musik
Stichwörter: Die Partei, Ndw

Architektur

Der Düsseldorfer Architekt Andreas Knapp macht aus alten Autowerkstätten Wohnhäuser, aus Kirchen Kolumbarien und aus Weltkriegsbunkern Kunstorte, staunt Klaus Englert (FAZ), der sich den umgewandelten Bunker in Düsseldorf Bilk angeschaut hat. Knapp "gründete für den Bilker Bunker eine gemeinnützige GmbH und entwickelte für die Kunst- und Veranstaltungsnutzung ein tragfähiges wirtschaftliches Konzept. Dazu gehörte, dass auf dem Bunkerdach fünf hochpreisige Apartment-Kuben mit verzinkten Stahlfassaden und großzügigen Terrassen entstehen konnten, um damit die Finanzierung des Gesamtprojekts sicherzustellen. (…) Der Bilker Bunker wirkt auch nach Umnutzung und Aufstockung noch wie aus Zeit und Raum gefallen. Doch seit der Eröffnung im vergangenen Spätsommer sorgt das straßenseitig geöffnete Entree für mehr Licht und Luft: Das Foyer weitet sich und lässt den Blick über die Empore schweifen. Dabei zeigen die belassenen Spuren aus früherer Nutzung und die außen liegende Technik, dass diese Sanierung keineswegs der Maxime der Verschönerung gefolgt ist."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Knapp, Andreas