9punkt - Die Debattenrundschau

Kehre aus dem Stand

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2015. In Politico und Open Democracy wird über die Rolle der mitteleuropäischen Länder in der Flüchtlingskrise gestritten. Politico.eu fragt: Ist Jeremy Corbyn ein Euroskeptiker? Die Berliner Zeitung berichtet begeistert von einem Feministinnen-Gipfeltreffen in Berlin. In der taz erzählt Brewster Kahle archive.org, wie er nun auch das Wohnungssystem hackt. Slate nimmt den "First-Person Industrial Complex" von Internetmedien wie Buzzfeed und Vice aufs Korn.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2015 finden Sie hier

Europa

Melik Kaylan bringt in politico.eu doch irgendwie Verständnis auf für Länder, die ihre Grenzen schließen, wie Ungarn - das wie andere osteuropäische Länder gerade seine Souveränität gewonnen hatte "und sich nun in einem anderen supranationalen System wiederfindet, das ihm seine eigenen Regeln von Diversität und Multikulturalismus auferlegt. Sie dachten, sie hätten gerade ihre Identität wiedergefunden, ihren Sinn für das "Ethnos", das Gefühl, ein zusammengehöriges Volk zu sein. Statt dessen werden sie von allen Seiten heruntergemacht, darunter von einem seiner ehemaligen Peiniger, Deutschland."

Eine Gegenstimme aus Mitteleuropa! Eigentlich gibt es keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der osteuropäischen Demokratien nach der Wende, meint der slowakische Politologe Michal Simecka in Open Democracy: "Es ist schon bedauerlich, ja "skandalös", wie es der französische Außenminister Laurent Fabius ausdrückte, dass die Visegrad-Länder (also Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei) ihre kollektive Stimme ausgerechnet zu Gehör brachten, um europäischen Werten und dem Ethos der Europäischen Union entgegenzutreten. Sieht man sich die Geschichte der Region an, dann sind die mitteleuropäischen Länder eher Teil des Problems als der Lösung."

Es ist noch keineswegs ausgemacht, dass der neue Labour-Chef Jeremy Corbyn ein begeisterter Europa-Anhänger und Gegner des Brexit ist, schreibt Jake Wallis Simons in politico.eu: "Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass der britische Euroskeptizismus zunächst eine Domäne der Linken war, bis er zur Rechten der Tory-Fraktion wanderte. 1975 stimmte Corbyn gegen einen Eintritt in die Europäische Gemeinschaft, wie sie damals hieß. Erst mit Tony Blair wurde die proeuropäische Haltung zu einem Grundstein einer Mitte-Links-Politik."

Alexander Menden möchte in der SZ private Großherzigkeit der Briten von der rigiden Flüchtlingspolitik unterscheiden: "Liberty Hughes, eine 28-jährige Studentin, hat eine Facebook-Kampagne für das Lager in Calais gestartet. Viele Menschen wollten "nicht einfach nur einen Knopf drücken und Geld schicken, sondern selbst nach Frankreich fahren und die Menschen dort einfach mal umarmen", sagt sie."

Wolf Lepenies meditiert in der Welt über französische Reaktionen auf die deutsche Flüchtlingsbegeisterung und über Angela Merkels Rolle in dem Spiel: ""L"incroyable, Madame Merkel!" titelte Le Point. Unglaublich - das klingt, als ob Angela Merkel in der Flüchtlingskrise überraschend gehandelt hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Sie ist sich treu geblieben. Der zögernde, fast einschläfernde Politikstil der Kanzlerin hatte immer etwas Lauerndes an sich, und wenn die Umstände es verlangten, kam es zur Kehre aus dem Stand."
Archiv: Europa

Geschichte

Andreas Fanizadeh unterhält sich in der taz mit dem schottischen Kunsthistoriker Neil Macgregor über deutsche Geschichte, deren Rätselcharakter für ihn im Begriffspaar Weimar-Buchenwald zu fokussieren ist: "Im Eingangstor findet sich die in ihrer Typografie an das Bauhaus angelehnte Inschrift "Jedem das Seine". Wie war das möglich? Ich glaube, bisher hat darauf niemand eine befriedigende Antwort. Die drei Aspekte - Aufklärung, Moderne, Faschismus - gehören für mich zur gleichen Geschichte, auch wenn sie völlig inkompatibel erscheinen. Aber, ich würde behaupten, dass es ähnliche Rätsel, nur in kleinerem Maßstab für die anderen europäischen Nationen gibt."
Archiv: Geschichte

Internet

Im taz-Interview mit Lalon Sander erzählt Brewster Kahle, warum er neben dem Internet-Archiv archive.org jetzt auch ein soziales Wohnprojekt betreibt: "Der größte Teil der Ausgaben des Internet­archivs fließt in Löhne und wir haben festgestellt, dass davon ein großer Anteil dafür verwendet wird, Kredite für Wohnungen abzubezahlen. Wir dachten uns, dass wir nicht mit so viel Mühe Geld sammeln, um die Zinsen von Banken zu bezahlen, und haben deshalb eine Kreditgenossenschaft für unsere Angestellten gegründet. All diese Dinge habe ich vom Internet gelernt. Jetzt hacken wir das Wohnungssystem!"

Das Internet muss ein Menschenrecht werden, fordert in der SZ (aber nicht online) Ben Wagner, Direktor des Centre for Internet und Human Rights an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder.
Archiv: Internet

Medien

Laura Bennett nimmt in Slate den "First-Person Industrial Complex" aufs Korn, die Gattung persönlicher Texte in erster Person, die sich durch Medien wie Vice und Buzzfeed überall im Netz verbreitet hat: "Persönliche Essays sind für Redakteure der leichteste Weg, sich eine kleine Ecke im News-Geschäft abzustecken und sich eine kleine Exklusivität zu sichern, ohne groß für Journalismus zu bezahlen. Persönliche Essays sind auch der leichteste Weg in einem saturierten Internet Aufmerksamkeit zu erregen. Für Autoren, die arrivieren wollen, sind persönliche Texte der sicherste Weg, gelesen zu werden."

Der Tagesspiegel berichtet ausführlich über die Stasi-Vorwürfe gegen den Berliner Landeschef des Journalistenverbands, Bernd Lammel: "Dokumenten zufolge soll Lammel seit 1984 Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gewesen sein und den Decknamen "IM Michael" getragen haben, berichtet die RBB-Abendschau. Eingesetzt wurde er demnach in der Hauptabteilung II, also der Spionageabwehr. Lammel sei ein so genannter Reisekader gewesen und durfte somit in den Westen reisen."

Außerdem: Die Presse berichtet mit Agenturen über die Razzia in dem liberalen türkischen Magazin Nokta, das Erdogan als Hitler karikierte.
Archiv: Medien

Überwachung

(Via turi2) Netzpolitik wird die eigenen Ermittlungsakten nicht veröffentlichen, meldet der Tagesspiegel: "Unsere Anwälte haben uns abgeraten", sagte Blogger Markus Beckedahl dem Tagesspiegel. Die Gefahr sei zu groß, wieder ins Visier der Ermittlungsbehörden zu geraten. Nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens hat der Generalbundesanwalt in Karlsruhe die Akten an die Anwälte der beiden ehemals beschuldigten Blogger gegeben. Darin sind auch die als "Verschlusssache" deklarierten Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundesjustizministeriums zu der Frage, ob bei netzpolitik.org Staatsgeheimnisse veröffentlicht wurden."
Archiv: Überwachung

Gesellschaft

Komplexe Analysen und temperamentvolle Attacken erlebte Sabine Rohlf in der Berliner Zeitung bei einer feministischen Debatte zwischen Laurie Penny, Mona Eltahawy und Josephine Decker auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin: "Das Publikum im krachvollen großen Saal des Festspiel-Hauses reagierte entzückt. Als Eltahawy rief, die Sittenwächter aller Religionen sollten ihre Vagina nicht behelligen ("Stay off my vagina!") wurde gejohlt. Als Penny die Gefühlsarbeit für "fucked up guys" eine Zumutung nannte oder konstatierte, dass die viel beschworene "work life balance" für Frauen eine "work work balance" sei, wurde begeistert gepfiffen."

Für Jan Küveler war das eher Feminismus zum Abgewöhnen, bekennt er in der Welt: "Wenn so ein unterkomplexer, gehässiger Quatsch die gegenwärtige Lage des Feminismus abbildete, wäre es jedenfalls ein Trauerspiel. Pennys queerer Aktionismus und Eltahawys Frustration über die Unterdrückung der Frau in der islamischen Welt sind kaum identisch mit einem modernen westlichen Feminismus... Das ist ein Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Feminismus. Da gehe ich lieber in die Kirche, da wird wenigstens Nächstenliebe gepredigt." Außerdem: Im Tagesspiegel porträtiert Angie Pohlers die amerikanische Feministin Rebecca Solnit.

Laura Weißmüller berichtet in der SZ vom Kampf um das edel sanierte Berliner Bruno-Taut-Haus, das mit seinen neuen kreativen Bewohnern und Besitzern vom übrigen Kreuzberg heftig angefeindet wird: "Wer sich im Foyer trifft, spricht über die aktuelle Venedig-Biennale und nicht über die Sonderangebote bei Kaiser"s oder das Skatturnier im Berliner Wappen, einer Kneipe an der nächsten Straßenecke, wo das große Bier noch 2,40 Euro kostet und sich seit 20 Jahren der Staatszirkus der DDR jeden Monat zum Stammtisch trifft."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Susanne Lenz interviewt die syrische Autorin Samar Yazbek (die sich gestern schon im Standard äußerte, unser Resümee) für die Berliner Zeitung: "Das syrische Volk wollte einen demokratischen Staat. Einen Rechtsstaat. Es wollte Würde. Es hätte gut sein können, dass Syrien sich durch die friedliche Revolution zu einem zivilen Staat entwickelt. Doch es war im Interesse aller, diesen Konflikt in einen religiösen Konflikt zu verwandeln, der dazu führt, dass Assad an der Macht bleibt."

(Via Vice.com) Souzan Basmajis Kurzfilm "Welcome to Aleppo" zeigt in einigen 360-Grad-Aufnahmen den Ursprung der "Flüchtlingsströme", die syrische Stadt Aleppo, laut Basmaji "eine der gefährlichsten Kriegszonen der Welt".



A propos "gefährlichstes Kriegsgebiet der Welt". Die New York Times bringt einen auch grafisch beeindruckend aufbereiteten Artikel über die Statistiken zu den Zahlen der Kriegsopfer in Syrien.

Götz Aly findet es in der Berliner Zeitung ganz richtig, dass Russland in Syrien zur Unterstützung der Regierung Assad interveniert: "Erstens ist es unverantwortlich, einen Staat ins Chaos zu stürzen und dessen Zivilisten zu Objekten rivalisierender Machtgruppen, Plünderer und Massenmörder zu machen. Die Beispiele Somalia, Kongo, Irak und Libyen sollten jeden Zweifler eines Besseren belehrt haben. Zweitens müssen die Großstädte Damaskus und Aleppo vor der Übernahme durch die Milizen des IS und der Al-Nusra-Front geschützt werden. Das versteht sich aus Gründen akut erforderlicher Nothilfe von selbst."

Klaus-Dieter Frankenberger sieht es in der FAZ etwas anders: "Moskau steht fest an der Seite des Assad-Regimes, das... Fassbomben über Wohnquartieren abwirft... Es war, zur Erinnerung, dessen blutige Niederschlagung zaghafter Reformverlangen, die zur Radikalisierung der Opposition und zum Krieg führte. Irgendwie erinnert Moskaus Syrien-Politik an den Anfang des sowjetischen Vorgehens in Afghanistan. Wohin das führte, wissen wir."
Archiv: Politik