9punkt - Die Debattenrundschau
Großes symbolisches Gewicht
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Auch Jan Feddersen hält in der taz der gestrigen seltsamen Diskussion über das Attentat entgegen: "Anders, als der ARD-Brennpunkt am Sonntagabend erörterte, ist nicht die Frage zu klären, ob es sich eher um einen islamistischen oder homophoben Anschlag mit aktuell 50 Ermordeten handelt. Das ist die falsche Gegenüberstellung, denn der Täter, ein junger Mann, dessen Eltern aus Afghanistan in die USA einwanderten, handelte im Sinne beider Motive." Ebenfalls in der taz sieht Martin Reichert das Attentat als Anschlag auf die offene Gesellschaft.
Jürgen Kaube stimmt in der FAZ zu: "Von einem persönlichen Hass des Mörders auf Homosexuelle zu sprechen unterschätzt darum das Problem. Hass auf Gruppen ist selten rein persönlich; er kommt jedenfalls nicht ohne Weltbilder aus."
Die Politiker haben nur geredet, um das Wesentliche zu beschweigen, erregt sich David Isaac Haziza in La Règle du Jeu: "Trump an erster Stelle, der weder auf die Gefahr der Waffen hinweist, noch auf die Besonderheit homophoben Hasses, den allzu viele seiner Anhänger mit ihren muslimischen Feinden teilen. Obama und Clinton an zweiter Stelle, die unfähig waren, das Übel zu benennen. Hätten sie in gleicher Weise geschwankt, wenn der Mörder John Smith hieße und dem Ku Klux Klan angehört hätte?"
Auf Zeit online erinnert Sebastian Moll daran, dass Verbrechen gegen Homosexuelle in Amerika generell immer mehr zunehmen: "So wurde im März ein homosexueller Mann in Los Angeles von seinem Vater ermordet. In Atlanta wurde ein homosexuelles Paar mit kochendem Wasser übergossen. In Iowa wurde ein transsexueller Jugendlicher ermordet. Und die Bundesstaaten Mississippi und North Carolina haben offen diskriminierende Gesetze erlassen. Laut Statistik des FBI sind ein Fünftel aller 'Hassverbrechen' gegen Homo- und Transsexuelle gerichtet. Experten glauben jedoch, dass die Zahl viel zu niedrig ist, weil diese Verbrechen nur selten angezeigt würden."Nicht zu vergessen der schwer bewaffnete Mann, der gestern auf dem Weg zur Gay Parade in Los Angeles verhaftet wurde. Bei Twitter trenden inzwischen Berichte der regionalen Presse, dass der Attentäter Omar Mateen den Purse-Club selbst häufig besuchte (hier im Orlando Sentinel) und dass er womöglich homosexuell gewesen sei (hier in der Palm Beach Post).
Bei der Copa America gab es eine Schweigeminute für Orlando - warum nicht bei der Europameisterschaft?, fragt Jean-Marie Pottier in Slate.fr: "Eine solche Schweigeminute hätte ein großes symbolisches Gewicht gehabt - zumindest wenn sie respektiert worden wäre, was allerdings bei weitem nicht immer der Fall ist, wenn man bedenkt, dass dieser Sport häufig wegen seiner Homophobie kritisiert wird. Die Uefa hat mehrfach ihr Engagement in dieser Frage beteuert."
Geschichte
Kulturpolitik
Auch Lorenz Maroldt geht im Tagesspiegel die "organisierte Unzuständigkeit" der Berliner Verwaltung, "die irgendwann und irgendwie immer in der kollektiven Verantwortungslosigkeit mündet", gewaltig auf die Nerven: "Wie das so läuft, zeigt das Beispiel der gefährdeten Wahl. Dass es Schwierigkeiten geben könnte, ist seit langem bekannt, vor allem als Folge der Probleme bei den überforderten Bürgerämtern. Die Senatskanzlei sagt, dafür ist der Innensenator zuständig. Der Innensenator sagt, dafür sind die Bezirke zuständig. Die Bezirke sagen, ihnen fehlen die Leute. Die SPD sagt, darum muss sich der CDU-Innensenator kümmern. Die CDU sagt, daran ist der SPD-Senat unter Wowereit und Sarrazin schuld. Tja, da kann man nichts machen."
Europa
Medien
Gesellschaft
Im Interview mit Zeit online fordert Strafrechts-Expertin Dagmar Freudenberg eine Verschärfung des Sexualstrafrechts: Ein Nein des Opfers müsse für eine Anklage des Täters ausreichen: "Stellen Sie sich vor, es bricht jemand bei Ihnen zu Hause ein, aber er wird nicht verurteilt, weil Sie sich nicht 'wehrhaft verteidigt' haben oder nachweisen, dass sie dazu gerade nicht in der Lage waren. Eigentum ist besser geschützt als die sexuelle Selbstbestimmung. Denn hier gilt: Wenn ich mein Einverständnis nicht gegeben habe, darf auch niemand meine Wohnung betreten, erst recht nicht, wenn er stehlen will."
Wissenschaft
Urheberrecht

Abbildung: Library of Congress/ Display at Your Oen risk.
Museen sind häufig sehr unklar in ihren Angaben, ob Nutzer und Medien Digitalisate an sich rechtefreier Werke benutzen dürfen oder nicht, schreibt David Pachali bei irights.info, der sich auf eine Untersuchung der britischen Forscherin Andrea Wallace bezieht. Selbst bei an sich liberalen Instituten kann es Schwierigkeiten geben: "In den Metadaten der Digitalisate fand Wallace Rechtevermerke, die mit den Nutzungsbedingungen nicht übereinstimmten. Häufig bleibe auch unklar, ob sich Rechtevermerke auf das Werk selbst oder die digitalen Abbilder beziehen. Oder die Informationen seien über diverse, sich teils widersprechende Dokumente verteilt." Wallace hat zu diesem Thema eine kleine Ausstellung in Glasgow und im Netz organisiert. Mehr zum Thema bei Hyperallergic.org.
In der NZZ fühlt sich Adrian Lobe von Alex Rebens Kunstprojekt "All Prior Art" veranlasst, sich mit computergenerierten Werken und mit den damit zusammenhängenden Fragen zu beschäftigen, ob künstliche Intelligenzen Innovationen schaffen können und wer das Urheberrecht an solchen von Algorithmen entwickelten Ideen hat. "Sollte sich unter der Flut von Erfindungen ... eine brauchbare Idee finden, ein Nugget, das für die Industrie dienstbar gemacht werden kann - wem gebührt dann das geistige Eigentum? Dem Algorithmus? Dem Programmierer? Oder anteilig den Patentinhabern, aus denen der Computer die Essenz extrahierte? Oder impliziert die Terminologie ('geistig') nicht sogar, dass hier ein Geist im Sinne menschlicher Intelligenz am Werk sein muss?"