9punkt - Die Debattenrundschau

Ein bisschen ein Potpourri

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2017. Zeit online erzählt, wie sich Frauen in der Türkei gegen den konservativen Rollback wehren. Im Tagesspiegel verteidigt Michael Eissenhauer von den Staatlichen Museen zu Berlin den Herzog-und-de-Meuron-Entwurf für das Museum des 20. Jahrhunderts. Der Guardian erzählt, was die Verfolgung Homosexueller in vielen Ländern mit dem Kolonialismus zu tun hat. In der taz fragt sich die türkische Abgeordnete Tugba Hezer Öztürk, was man in einem Parlament besprechen soll, in dem man das Wort "Armenier-Genozid" nicht aussprechen darf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2017 finden Sie hier

Urheberrecht

Die Verlage werden nun von der VG Wort Nachforderungen für Beiträge erhalten, die an sich an Autoren hätten gehen müssen, berichtet der Buchreport (siehe die im Perlentaucher publizierten Artikel Martin Vogels, der diese Rückzahlungen erstritt). Insgesamt werden Forderungen von 30 Millionen Euro erhoben. Einige Autoren haben freiwillig auf die ihnen zustehenden Gelder verzichtet, so dass den Verlagen fünf Millionen Euro erspart bleiben: "Die Verzichtserklärungen, mit denen die Urheber auf ihre Nachausschüttungen verzichten, wurden den jeweiligen Verlagen zugeordnet und mit deren Rückforderungssummen für die Jahre 2012 bis 2015 verrechnet. Sie müssen jetzt das zu Unrecht erhaltene Geld innerhalb von 30 Tagen an die VG Wort zurückzahlen. Die Forderungen reichen von 0 bis 3,2 Millionen Euro."

Laura Hertreiter erzählt in der SZ die Geschichte des Fotografen David J. Slater, der einst den Schopfmakaken Naruto dazu brachte, ein Selfie von sich aufzunehmen, das seitdem weltberühmt ist. Slater scheiterte vor Gericht, als er ein Urheberrecht auf das Bild verlangte. "Jeder dürfe das Foto frei veröffentlichen. 'Verheerend war das', sagt der Fotograf heute. Und dann kamen die Tierschützer. Peta, nach eigenen Angaben mit mehr als fünf Millionen Unterstützern die weltgrößte Tierrechtsorganisation, zog 2015 im Namen des Affen gegen Slater vor Gericht. Der Name des Tieres, Naruto, ist seither ein Kampfbegriff... Die steile These lautet: Weil Naruto den Auslöser gedrückt hat, soll er die Rechte am Bild haben. Peta als gesetzlicher Vertreter will den Erlös laut eigenen Angaben zum Schutz des Affen, seiner Artgenossen und Heimat verwenden."
Archiv: Urheberrecht

Europa

Die HDP-Politikerin Tugba Hezer Öztürk, der kürzlich per Votum im Parlament das Mandat entzogen wurde, erklärt im Gespräch mit Samil Sarikaya in der taz, wie es im türkischen Parlament inzwischen zugeht. Da sind zum Beispiel neue Sprachregelungen: "Es ist nun verboten, das Wort 'Kurdistan' auszusprechen. Jeder Abgeordnete, der das tut, muss eine Geldstrafe zahlen. Sie dürfen auch nicht vom 'Dersim-Massaker', vom 'Roboski-Massaker' oder vom 'Armenier-Genozid' sprechen. Auch 'kurdische Provinzen' darf man nicht mehr sagen. Stellen Sie sich vor, unsere Wähler*innen haben uns ins Parlament geschickt, um Probleme zu lösen, die sich seit hundert Jahren in der Türkei angehäuft haben - aber uns wird verboten, sie offen anzusprechen."

"Als Frau lebt es sich gefährlich in der Türkei. Die Gewalt nimmt zu", schreibt Cigdem Toprak auf Zeit online und notiert, dass neben säkularen Frauen jetzt auch Kopftuchträgerinnen gegen einen religiösen Konservatismus protestieren, für den das Kopftuch gerade steht: "Die Frau auf ihre Funktion als Mutter und Ehefrau zu reduzieren, sie patriarchalischen Normen zu unterwerfen und nicht als selbstbestimmtes Individuum zu betrachten, führt zu der Vorstellung, dass sie nicht über sich selbst entscheiden darf, dass ihr Körper der Familie und der Gesellschaft gehört. Ihr Verhalten bis hin zu ihrer Kleidung wird kollektiv kontrolliert und bei Fehlverhalten gegen moralische Sitten und Normen auch mit Gewalt sanktioniert."
Archiv: Europa

Internet

Westliche Medien oder Google sind von China aus längst nicht mehr zu nutzen. Einziger Weg dahin waren sogenannte VPN-Tunnel, die China nun auch barrikadiert - Apple hilft dem Regime dabei, indem es alle VPN-Apps aus seinem Appstore löscht (unser Resümee). Felix Lee erklärt in der taz die Hintergründe: "Das ist nicht das erste Mal, dass sich der Tech-Gigant der chinesischen Zensur beugt. Erst Anfang des Jahres war von einem Tag auf den anderen die Nachrichten-App der New York Times aus dem chinesischen App-Store verschwunden. Die Apple-Konzernleitung gab kurze Zeit später zu, dass dies auf ausdrücklichem Wunsch der Führung in Peking erfolgte." So wird es für China weiter kein Problem sein zu behaupten, dass niemand in China Liu Xiaobo und Liu Xia kenne. In einem zweiten Artikel erklärt Sebastian Erb, wie VPN-Tunnel funktionieren.
Archiv: Internet

Medien

Die höchst verdienstvolle Medienkolumne Altpapier (die in den Perlentaucher-Rundschauen so selten zitiert wird, weil sie genau zeitgleich um 9 Uhr morgens erscheint) wird eingestellt. Am 18. August wird sie auf der Website evangelisch.de, die offenbar frommer werden soll, zum letzten Mal erscheinen, heißt es im gestrigen Altpapier. Nun suchen die Macherinnen neue Partner, wo sie andocken können, berichtet unter anderem Meedia: "Das Altpapier erscheint seit dem Jahr 2000. Damals startete es als Format der deutschen Ausgabe der Netzeitung.  Das Blog gibt täglich einen einordnenden Überblick über die deutsche Medien-Berichterstattung, oft auch kommentierend und mit ironischem Ton. Standen zu Beginn noch die Medienseiten der Tageszeitungen im Mittelpunkt (daher der Name Altpapier), befasst sich das Bog mittlerweile schon lange auch mit den diversen Online-Seiten zu Medienthemen."
Archiv: Medien
Stichwörter: Altpapier

Geschichte

Im Guardian annonciert Kavita Puri ihre dreiteilige BBC-Serie "Partition Voices", die an die gewaltsame Teilung Indiens erinnert: "It is hard to explain how convulsive partition was for British south Asian families - and how it still shapes them. Over 10 million people from the Indian subcontinent left their homes when they found themselves on the wrong side of the partition border: Muslims moving to Pakistan, Sikhs and Hindus to India. Lands that had been lived on for centuries were left forever. The human cost of dividing British India was staggering: up to a million were killed in the sectarian violence and tens of thousands of women were raped and abducted with the aim of dishonouring the 'other' country. It happened far away but is a very British story."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel verteidigt Michael Eissenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, das viel kritisierte Museum des 20. Jahrhunderts von Herzog und de Meuron, das neben der Neuen Nationalgalerie gebaut werden soll: "Dies ist eine große Chance, die sich auch auf das Innen-Außen-Gefüge auswirken wird. Durch zwei sich auf unterschiedlichen Stockwerken kreuzende Boulevards ist das Haus in vier Quadranten unterteilt. Mit dem Quadranten im Nordwesten und der zur Piazzetta hin gelegenen Gastronomie ist bereits eine schöne architektonische Figur entstanden. Gesten wie diese auch noch zur St.-Matthäus-Kirche und zur Potsdamer Straße hin auszuprägen, ist unser Anliegen. Die Neue Nationalgalerie - Museum des 20. Jahrhunderts wird - den Außenraum an einigen Stellen gänzlich neu definieren." Das klingt, als sei noch einiges zu tun.

Der berühmte Museumsmann Max Hollein ist bekanntlich von Frankfurt nach San Francisco gegangen. Wenn man im Gespräch, das Rose-Maria Gropp mit ihm für die FAZ führte, genau hinhört, dann sind die beiden Häuser, denen er präsidert, die Gemäldegalerie Legion of Honor und das de Young Museum offenbar eher provinzielle Veranstaltungen: "Das de Young Museum sitzt mitten im Golden Gate Park, es war einer der Pavillons bei der 'Panpacific Exhibition' 1904. Die Sammlung ist eklektisch. Wir haben Stammeskunst und die Rockefeller-Sammlung amerikanischer Malerei des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Schenkung. Es gibt mexikanische und zeitgenössische Kunst, auch eine herausragende Kostüme- und Textiliensammlung - ein bisschen ein Potpourri."
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

Es gibt in Deutschland mehr Pendler denn je, konstatiert Gerhard Matzig nach Lektüre einer Studie des Bundesumweltministeriums: "Der Pendler ist eine seltsame Hybridform, ein Mischwesen. Fast immobil lebt er in Deutschland, laut Studie, mehrheitlich und bis ans Lebensende dort, wo er geboren wurde, also vor allem im klein- oder mittelstädtischen Raum. Gleichzeitig ist er so mobil wie nie, täglich unterwegs zu den Arbeitsplätzen in die größeren Städte. Mobile Immobilität: Das ist unsere Zeit.

In Britannien feiert man gerade die Abschaffung der Strafgesetze gegen Homosexualität vor 50 Jahren. Im Guardian erinnert Edward Akintola Hubbard daran, dass diese von Briten geschaffenen Gesetze in ihren Ex-Kolonien leider oft noch Geltung haben. Sie zählen jetzt gewissermaßen zur eigenen kulturellen Identität, die es gegen den Westen zu verteidigen gilt. Hubbard erzählt als Beispiel von einem jamaikanischen Dancehall-Hit, der zu Gewalt gegen Homosexuelle aufrief. In Europa und Nordamerika protestierte daraufhin die LGBT-Gemeinschaft: "Recriminations quickly came from the dancehall industry and several prominent Jamaican intellectuals, who counter-charged that the international campaign against homophobic dancehall music amounted to censorship, and that Jamaica's values were under attack from Anglo-American cultural imperialism. Suddenly, British colonial laws became indigenous 'Jamaican values'. Coming from abroad, the criticism of anti-gay violence in Jamaica served to encourage a nationalist tendency to defend against these charges. Today, the buggery laws are invoked as a nativist imperative, a necessary bulwark against western progressive values and one of the few means of protecting the imagined moral purity of Jamaicans."

Das tunesische Parlament hat in der vergangenen Woche ein Gesetz verabschiedet, das Frauen vor Gewalt schützen soll und auch Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe  stellt, berichtet Dunja Ramadan auf SZ online. Sie hofft auf Nachahmung: "Tunesien gilt damit als Vorreiter für Frauenrechte in der arabischen Welt - mit möglicher Signalwirkung. So dauerte es nicht lange, bis auch die jordanische Frauenbewegung einen Erfolg vermeldete. Am Sonntag schloss das Parlament in Amman eine Gesetzeslücke: Bei sogenannten Ehrenmorden konnten die Täter bislang mit einem geringeren Strafmaß rechnen.  ... Demnächst wollen die Abgeordneten in Amman auch die 'Wiedergutmachungsehe' abschaffen, ganz nach dem Vorbild Tunesiens."

Außerdem: Dem Buch "Die globale Wirtschaftselite -  Eine Legende" des Soziologen Michael Hartmann entnimmt Thomas Thiel im Aufmacher des FAZ-Feuilletons die Einsicht, dass die globale Wirtschaftselite gar nicht so globalisiert ist, wie gern behauptet wird.
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Wolfgang Kraushaar fragt sich in einem Essay für die SZ, warum der Radikalismusbegriff im Lauf der Zeit durch den eher geschichtslosen Begriff des Extremismus ersetzt wurde: "Nur der Radikalismusbegriff - so die Hypothese - gestattet es, eine differenzierte Analyse der sozialen, politischen und weltanschaulich-ideologischen Aspekte vornehmen zu können. Weil er im Unterschied zum statischen Extremismusbegriff eine dynamische Signatur besitzt, ist er auch dazu in der Lage, die Genese einer politischen Position begreifbar zu machen. Nicht ohne Grund spricht kein Mensch von 'Extremisierung', wenn er die Entwicklung zu einer 'extremen Position' beschreiben will, sondern selbstredend von einer 'Radikalisierung'."
Archiv: Ideen

Wissenschaft

Und noch ein Hinweis auf drei Artikel aus dem amerikanischen Campus-Leben: Elle berichtet in einer ausführlichen, abwägenden Reportage über eine toughe Professorin mit einem reichlich losen Mundwerk, das ihr zum Verhängnis wurde, obwohl sie ihre Studenten auf ein Leben als Lehrer vorbereiten sollte. Und The Chronicle of Higher Education berichtet nicht weniger nuancenreich von einem nicht weniger großmäuligen Philosophieprofessor an der Texas A&M, der nur knapp seiner Entlassung entging, nachdem er mehrfach öffentlich erklärt hatte, Waffengewalt sei möglicherweise notwendig, um sich gegen Rassismus zu schützen. Und in Current Affairs erklärt Nathan J. Robinson Judith Butler und den Poststrukturalisten, dass eine "klare" Sprache nicht dasselbe ist wie eine "einfache" Sprache.
Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: Butler, Judith, Rassismus, Texas