9punkt - Die Debattenrundschau

In dieser Gespaltenheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2018. Die EU hat's nicht leicht: Nach Brexit, Polen, Ungarn kommt nun Ärger aus Italien, fürchtet politico.eu. Zornig antwortet die Frauenärztin Kristina Hänel auf einen Artikel des Richters und Kolumnisten Thomas Fischer, der ihr vorwirft, eine Kampagne losgetreten zu haben. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat Objekte indianischer Stämmer zurückgegeben - aber so einfach wird das mit der Restitution nicht immer sein, warnt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl in der FAZ. Und das Internet ist nicht schuld am Populismus, schreibt Perlentaucher Thierry Chervel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.05.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Zornig antwortet die Frauenärztin Kristina Hänel bei humanistisch.net auf einen Artikel des Richters und beliebten Kolumnisten Thomas Fischer, der nicht nur dezidiert am Informationsverbot über Abtreibungen festhalten will, sondern Haenel auch noch als diejenige attackierte, die eine Kampagne losgetreten habe (als sei nicht sie juristisch attackiert worden). Nebenbei stellt sich heraus, das Fischer Autor eines maßgeblichen Strafrechtskommentars ist, der zuvor von dem fanatischen Lebensschützer Herbert Tröndle betreut worden war (unser Resümee). Haenles Argument gegen Fischer: "Für Herrn Fischer ist es keine Tatsache, sondern angeblich Stimmungsmache, dass viele Ärzte keine Adressen weitergeben, ebenso wie Beratungsstellen dies teilweise auch nicht tun. Dass Frauen wieder vermehrt ins Ausland fahren, weil immer weniger Ärztinnen und Ärzte Abbrüche in ihrem Leistungsspektrum anbieten. Dass es für mich wie Hohn klingt, wenn behauptet wird, ich würde für Abbrüche in meiner Praxis werben, nur weil ich möchte, dass Frauen sich vor dem Eingriff über die Risiken, mögliche Komplikationen und Kontraindikationen informieren."

"Politclown" Dieter Kunzelmann ist tot, meldet Stefan Reinecke in der taz und verschweigt nicht, dass "Kunzelmann für eine der abgründigsten Taten der Szene verantwortlich ist - den Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Westberlin 1969, gezielt am Jahrestag des Nazipogroms, dem 9. November, inszeniert". In der FR schreibt Arno Widmann: "Solange er den Till Eulenspiegel gab und dem Establishment zeigte, wie es aussah, solange hatte er etwas zu sagen. Sobald er die Machtfrage stellte und glaubte, selbst etwas sagen zu müssen, schämte man sich, jemals über seine Scherze gelacht zu haben. Er ist gerade in dieser Gespaltenheit ein Stück bundesrepublikanischer Nachkriegsgeschichte. Er war ein bundesrepublikanischer Charakter: in seinem Witz und in seinem Antisemitismus." Weitere Nachrufe in SZ und Zeit.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat einen Shitstorm entfacht, als er das rüpelhafte Verhalten eines dunkelhäutigen Radfahrers ansprach. Sehr glücklich hat er sich dabei nicht ausgedrückt, aber ihm Rassismus vorzuwerfen, findet der Dramaturg Bernd Stegemann in der Zeit völlig überzogen und kontraproduktiv: "Der Islamismus mag importiert sein, der empörte Moralismus ist ein heimisches Gewächs... Eine seiner schlimmsten Folgen besteht darin, dass die Bereiche der Sprachlosigkeit immer schneller zu Räumen der Ohnmacht werden. Soll diese Ohnmacht nicht durch rechte Lösungen zu neuer, alter Stärke finden, dann braucht es viel mehr tragische Helden und vor allem Mitbürger, die ihnen im Shitstorm beistehen. Und es braucht Vorschläge, wie öffentlich über ein Fehlverhalten von Flüchtlingen diskutiert werden kann, ohne dass automatisch der Vorwurf des Rassismus ertönt."


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Europa

Nach dem Brexit, Polen und Ungarn drohen der EU nun Probleme aus Italien, der drittgrößten Volkswirtschaft der EU. Die Linkspopulisten von den Fünf Sternen und die Rechtspopulisten von der Lega Nord, die wohl die nächste Regierung des Landes bilden, sind sich in ihrer EU-Feindseligkeit einig. Es kursieren unannehmbare Forderungen an die EU, die in den Koalitionsvertrag geschrieben werden sollen - bis hin zu einem Schuldenerlass, schreiben Jacopo Barigazzi und Giulia Paravicini in politico.eu. Lega-Chef Matteo Salvini "sagte in einem Live-Video am Mittwoch, dass Italien nicht länger Befehle von der EU annehmen werde und rief aus, dass es ein gutes Zeichen sei, wenn die Märkte besorgt seien, denn das heiße, dass Politiker in ausländischen Hauptstädten den Wandel bemerkten."
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Politik

Israel und Palästina? Die Zweistaatenlösung ist tot, meint in der Zeit der israelische Philosoph Omri Boehm und plädiert statt dessen für eine "geografische Einheit, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer liegt, zwei Staaten beherbergen kann, die durch die Grenzen von 1967 geteilt, aber durch eine volle Bewegungsfreiheit vereinigt sind. Während jeder Staat seine eigenen Gesetze erlassen könnte, einschließlich seiner Einwanderungsgesetze, würden die Bürger beider Staaten das Recht genießen, auf dem gesamten Territorium zu reisen, zu arbeiten und zu leben. ... Gemeinsame Institutionen wie ein oberstes Berufungsgericht und eine gemeinsame Verfassung könnten sicherstellen, dass die Vereinbarung in beiden Staaten eingehalten wird, und für die Achtung grundlegender Menschen-, wirtschaftlicher und nationaler Rechte sorgen." Der Tagesspiegel dokumentiert einen Appell israelischer Prominenter, die die Gewalt am Gazastreifen anprangern.
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Kulturpolitik


Am Mittwoch übergab die Stiftung Preußischer Kulturbesitz dem Vertreter der indianischen Chugach Alaska Corporation, John Johnson, neun Objekte aus dem Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, die einst durch Grabplünderungen in den Besitz des Museums gekommen waren, melden Tagesspiegel und Berliner Zeitung. Nikolaus Bernau (Berliner Zeitung) hat sich deshalb den vom Deutschen Museumsbund herausgegebenen "Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten (hier)" noch einmal genauer angesehen und stellt Grundsatzfragen: "Was ist überhaupt Afrika? Mit wem muss verhandelt werden? Wessen Herrschaftsansprüche können bestätigt, welche müssen hinterfragt werden? Wer finanziert die nötigen neuen Museen?"

Bislang gab es allerdings kaum offizielle Anfragen nach Restitution von Raubgütern. Das wundert den Ethnologen Karl-Heinz Kohl in der FAZ nicht. Zu zerrissen sind häufig die Staaten, die aus den Kolonialreichen hervorgingen. Es gebe "auch in den unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonialstaaten immer noch an den Rand gedrängte und rechtlose ethnische Minderheiten. Das gilt nicht nur für Afrika. Häufig sind es solche Lokalkulturen, die in relativer Abgeschiedenheit ihren jeweils eigenen Kunststil entwickelten, von denen die Glanzstücke ethnologischer Museen stammen. Würden sie selbst Rückgabeforderungen vortragen und so auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen, wäre dies durchaus nicht im Sinne der derzeit Regierenden."
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Religion

Die bayerische Kreuz-Pflicht ist verfassungswidrig, erklärt der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm, der am Karlsruher Kruzifix-Urteil von 1995 beteiligt war, im SZ-Gespräch mit Andreas Zielcke: "Das Kreuz ist etwas anderes als die Gemälde mit religiöser Thematik, die heute in den staatlichen Museen hängen, oder die kirchliche Musik, die in Konzertsälen gespielt wird. Es ist auch etwas anderes als die vom Kirchenjahr geprägte Einteilung unserer Zeit nach Sonn- und Feiertagen. All das hat christliche Wurzeln, aber keinen spezifischen Glaubensbezug mehr und wirkt nur kulturell fort. Aber im Kreuz ist der Glaubensinhalt zusammengefasst und lässt sich nicht wegdenken, wenn der Staat es jedem, der seine Amtsräume betritt, vor Augen hält."
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Internet

Mark Zuckerberg wird sich auch vom EU-Parlament befragen lassen, meldet unter anderem Meedia: Laut Parlamentspräsiddent Antonio Tajani "werde der Facebook-Chef 'so früh wie möglich, hoffentlich schon nächste Woche' in Brüssel eintreffen. Anders als in den USA, wo Zuckerberg Mitte April einen zweitägigen Anhörungsmarathon vor dem US-Kongress über sich ergehen lassen musste, der weltweit übertragen wurde, soll der Auftritt vor dem EU-Parlament hinter verschlossenen Türen stattfinden."
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Medien

Das von den Zeitungen lobbyistisch durchgesetzte Leistungsschutzrecht für Presseverlage war dann wohl doch eher ein Flop, schreibt die Grünen-Politikerin Tabea Rößner auf ihrer Website und bezieht sich auf Zahlen der VG Media: "Demnach hat man im vergangenen Jahr durch das Leistungsschutzrecht lediglich Einnahmen in Höhe von 30.000 Euro erzielt - allerdings ganze 2.250.099,06 Euro für die Rechtsdurchsetzung ausgegeben. Auch hier droht Übel: Wenn der EuGH das Gesetz für unzulässig erklärt, könnten die Verlage am Ende fast 10 Millionen Euro Ausgaben für das Leistungsschutzrecht in den Sand gesetzt haben."

Das Bundesverfassungsgericht bewertet derzeit die Rechtmäßigkeit der pauschalen Rundfunkabgabe. Auf Zeit online berichtet Heinrich Wefing vom ersten Tag und stellt erstaunt fest, dass doch "überraschend grundsätzliche Fragen" gestellt wurden. Weniger erstaunlich findet er die Reaktionen der anwesenden Intendanten: "Sie ergingen sich vornehmlich in Selbstlob, mitunter hart am Rande des Erträglichen."

In der SZ findet Claudia Tieschky die Verhandlung überfällig, denn: "Ins Extrem gedacht, erlaubt die Zwangsabgabe die größtmögliche Brüskierung des Publikums: Theoretisch muss es diesen Rundfunk nicht einmal mehr kümmern, wenn ihn sein Publikum nicht mag, es kann ihn ja nicht abbestellen. Dabei leben TV, Radio und Web, auch wenn sie demokratisch wertvoll sind, eben nicht von Zwang. Sondern von der Gunst des Publikums."
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Ideen

Perlentaucher Thierry Chervel fragt in einem Essay woher der Populismus kommt und ob wirklich das immer wieder angeprangerte Internet daran schuld ist - zunächst einmal sei festzustellen: "In Deutschland leidet die Debatte über den Populismus allein schon daran, dass ihr Blick ausschließlich nach rechts geht. Ob man 'mit Rechten reden' solle, fragt eines der erfolgreichsten intellektuell-politischen Bücher, die 2017 in Deutschland erschienen sind. Da ist der Fehler schon passiert. Denn wer nur in eine Richtung blickt, übersieht die Feinde im eigenen Rücken. Die Demokratie ist von vielen Feinden umstellt. Sie kommen von links, von rechts und von oben - wenn man religiöse Fundamentalisten so verorten will." Der Beitrag entstammt einer Festschrift zum 70. Geburtstag Winfried Kretschmann.

Die Welt publiziert den Essay des Herausgeber des Bandes, Thomas Schmid, mit einer recht provokanten These: "Öffentlichkeit als allzeit verbindliches Gebot überfordert Menschen und Gesellschaften. Öffentlichkeit braucht ihr Gegenstück, das Nichtöffentliche, auch das Geheimnis."

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Stichwörter: Populismus, Öffentlichkeit