9punkt - Die Debattenrundschau

Kleine Genüsse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2018. Nun klebt der Vogelschiss auf Alexander Gaulands Stirn. Und die Medien überlegen, ob sie mit dem Finger drauf zeigen oder lieber schweigen sollen. In der NZZ spricht der Historiker Lascha Bakradze über Georgier als Opfer und Täter des Stalinismus. Der Guardian porträtiert die Feministin Masih Alinedschad, die die Iranerinnen mit Wind im Haar zur Aktion "My Stealthy Freedom" inspirierte. Und die taz ist nicht ganz zufrieden mit Frank-Walter Steinmeiers Entschuldigung bei Schwulen und Lesben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2018 finden Sie hier

Europa

Nun klebt der Vogelschiss auf Alexander Gaulands Stirn. Die Äußerung des AfD-Vorsitzenden, mit der er bei seiner Jugendorganisation Punkte machen wollte, brachte die Medien in die unvermeidliche Klemme: Wer sich empört, trägt auch zur Verbreitung der Äußerung bei. Aber schweigen geht auch nicht. Der Tagesspiegel brachte eine wuchtige Seite 1 (hier größer). Thomas Schmid antwortet in der Welt ohne Namensnennung, ja, ohne Nennung des Anlasses: "Wer Deutschland nur wertschätzen kann, indem er die NS-Barbarei zu einer Petitesse erklärt, liebt dieses Deutschland nicht. Er hat seinen moralischen Kompass verloren oder weggeworfen, hat allen Anstand fahren gelassen."

Klaus Hillenbrand stellt den Satz in der taz in den Kontext anderer AfD-Provokationen: "Sie stellen den Mord an sechs Millionen Juden nicht infrage, sie bejubeln nicht Adolf Hitler. Sie relativieren. Da wird völkisches Denken für diskutabel erklärt. Deutsche Soldaten im Angriffskrieg werden zu tapferen Kämpfern."

Alf Frommer fordert nach Gaulands Satz bei kress.de, dass keine AfD-Politiker mehr in Sendungen der öffentlich-rechtlichen Anstalten eingeladen werden: "Denn wer wie Gauland in einer Talkshow sitzt, wird damit geadelt, dass er anerkannter Teil des öffentlichen Diskurses ist. Damit macht man sich in gewisser Weise zum Komplizen dieser Geschichtsrevisionisten. Denn es dürfte doch jetzt endgültig klar sein, dass die AfD weit außerhalb dieses Diskurses steht."

Auf die Provokationen der AfD nicht einzugehen, weil man fürchtet, ihnen sonst Geltung zu verschaffen, wäre naiv, meint Bernd Ulrich bei Zeit online: "Wenn die liberale, geschichtsbewusste politische Mitte sich vornimmt, nicht mehr um die Provokationen der AfD zu kreisen, während gleichzeitig die ganz Republik nichts anderes tut, als um die Themen dieser Partei zu rotieren, dann zeigt sich darin weniger Entschlossenheit als vielmehr Hilflosigkeit."
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Kulturpolitik

Hilmar Hoffmann ist im Alter von 92 gestorben, der Doyen aller Kulturpolitiker, der in einer glücklichen Zeit agieren konnte, als es immer mehr umzuverteilen gab. Claus-Jürgen Göpfert würdigt ihn in der FR: "Er hat der Nachwelt einen Auftrag hinterlassen, den er Zeit seines Lebens umzusetzen versuchte: 'Kultur für alle'. Kultur nicht länger als ein Privileg der Bessergestellten und Wohlhabenden in der bürgerlichen Gesellschaft, als Zeitvertreib für mächtige Müßiggänger." Außerdem nimmt Christian Thomas Abschied. Im Tagesspiegel schreibt Ulrich Amling, in der FAZ schreibt Jürgen Kaube.
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Stichwörter: Hoffmann, Hilmar

Geschichte

In der Berliner Zeitung macht sich Markus Decker Sorgen um die Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen. Dort musste ein Mitarbeiter, der 73-jährige, ehemalige politische Gefangenen Siegmar Faust wegen seiner AfD-nahen und den Holocaust relativierenden Äußerungen (mehr hier) gehen. Dass er ein Einzelfall ist, glaubt Decker nicht: "Dagegen sprechen nicht nur jene anderen Dissidenten, die ins manifest Rechtsextreme oder in eine hellbraune Grauzone abgedriftet sind. Dagegen spricht auch die Selbstgewissheit, mit der Faust in Hohenschönhausen auftrat. Und dagegen sprechen schließlich die publizistischen Aktivitäten des Fördervereins-Vorsitzenden Jörg Kürschner."

Außerdem: Der Historiker Lascha Bakradze forscht in Tbilissi zur Geschichte Georgiens zur Sowjetzeit. Eins der wichtigsten Lernergebnisse dabei: Georgier waren sowohl Opfer als auch Täter im sowjetischen Totalitarismus, erzählt er im Gespräch mit der NZZ. "Der Große Terror hat auch in Georgien viele Opfer gefordert. Andererseits waren Stalin und seine rechte Hand Lawrenti Beria Georgier."
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Ideen

"Überall auf der Welt sehnt man sich nach diesem Europa. Und wir sind dabei, es zu verspielen", sagt der Publizist Mathias Greffrath im Interview mit der FR und macht ein paar Vorschläge, wie die EU "die ganze Welt zu einem besseren Ort" machen könnte. Innerhalb der Union: Wohlstandstransfer. Als Mittel gegen die Migration: der Aufbauplan für Afrika, den George Soros kürzlich vorgestellt hatte. Und drittens: "der Aufbau einer europäischen Armee, die stärkste Preisgabe nationaler Souveränität, die man sich klassischerweise denken kann. Aber die Sorge um die Außengrenzen könnte sie attraktiv machen. Riskant ist das, weil man in die Nähe von neoimperialistischen Plänen wie denen des österreichischen Kanzlers Kurz gerät, der in Afrika intervenieren will, um Migration zu verhindern. Aber wenn Europa nicht im großen Spiel zwischen China, Russland und den USA an den Rand geraten will, wird es eine gemeinsame Militärmacht brauchen. Sonst wird es zum Themenpark der neuen Reichen. Ich glaube, eine Euro-Armee wäre überdies sogar populär."

Weitere Artikel: Hannelore Schlaffer sucht in der FAZ nach Gründen, warum Karl Marx' heute so beflissen gedacht wird und entlarvt die raffiniertesten Schachzüge des Kapitalismus, der Marx entschärft habe und die Proletarier mit "kleinen Genüssen ruhig gestellt habe. In der NZZ erklärt uns der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider das Konzept der premium mediocrity, das der indisch-amerikanische Journalist Venkatesh Rao entwickelt hat.
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Politik

Joanna Moorhead porträtiert für den Guardian die iranische Feministin Masih Alinedschad, die in ihrem Land mächtigen Ärger bekam, weil sie sich gegen das Kopftuch wehrte. Sie emigrierte nach Amerika, wo sie ein Buch über ihre Erfahrung schrieb. Mit einem einzigen Foto brachte sie aus ihrem Exil das gesamte Regime in Wallung: Es zeigte sie, wie sie glücklich durch eine Straße lief und den Wind in ihrem Haar genoss. Sie "postete es auf ihrer Facebook-Seite und schrieb dazu, dass dieser simple Akt in ihrem eigenen Land illegal wäre. Das Foto zog sofort Aufmerksamkeit auf sich und inspirierte andere, es ihr gleichzutun. Und viele Frauen, die Fotos von sich mit Wind in ihrem Haar posteten, waren im Iran, ließen ihre Kopftücher kühn über ihren Köpfen kreisen und riskierten Gefängnis und Strafen, um ihr Recht einzufordern, den Hidschab frei zu tragen oder abzulegen. Innerhalb von Tagen hatte die Facebook-Seite 100.000 Follower, und eine Kampagne war geboren: My Stealthy Freedom." Alles Trolle, werden die Mullahs sagen.
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Kulturmarkt

Rainer Hank begründet im Wirtschaftsteil der FAS, warum er die Abschaffung der Buchpreispindung befürwortet: "Schon empirisch finden sich keine Belege für die Schutzbehauptung der Buch-Lobbyisten: In Europa haben 14 von 32 Ländern eine Buchpreisbindung. Doch es lassen sich keine Indizien dafür finden, dass die Menschen in Ländern ohne Buchpreisbindung weniger gebildet wären, einen größeren Hang zum Populismus oder zu Verschwörungstheorien hätten oder intellektuell unterdurchschnittlich entwickelt wären. Umgekehrt hat die Buchpreisbindung weder Amazon verhindert noch den Rückgang der Lesefreude gestoppt."
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Internet

Nachdem zwölf Mitarbeiter aus Protest gekündigt haben, hat Google einen Vertrag mit dem Pentagon zur Verbesserung der "algorithmischen Kriegsführung" aufkündigt, berichtet Jannis Brühl auf süddeutsche.de: "Der Streit über 'Project Maven' findet vor dem Hintergrund der Furcht vor vollautomatischen 'Killerroboter' statt, die in wenigen Jahren entwickelt sein dürften. Die Vereinten Nationen erwägen, die Waffen prophylaktisch zu verbieten, so wie es die Staatengemeinschaft in den Neunzigern mit tückischen Laserwaffen getan hat, die Soldaten das Augenlicht rauben."
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Gesellschaft

Der Richter Thomas Fischer ist beliebt wegen seiner polemischen Kolumne, die er eine Zeitlang für Zeit online verfasste, bis die ihn inkompatibel fand. Dann schrieb er bei Spiegel online, wo er die Ärztin Kristina Hänel angriff und den Paragrafen 219a verteidigte (Hänel wehrte sich, unser Resümee). Nun schreibt er bei Meedia. In seinem neuesten Artikel nimmt er sich die Autorin Gaby Mayr vor, die darauf hingewiesen hatte, dass er Mitautor des maßgeblichen Strafrechtskommentars Tröndle/Fischer ist und dass der Kollege Herbert Tröndle ein fanatischer Lebensschützer gewesen sei (unser Resümee) - Fischer verwahrt sich dagegen, mit Tröndle gleichgesetzt zu werden: "Die buchstäblich erste Änderung, die 2001 in dem Kommentar durchgeführt wurde, waren radikale Kürzungen und Änderung der Kommentierungen zu §§ 218 ff. StGB und zum Sexualstrafrecht. Die Positionen Tröndles zu §§ 218 ff. sind von Fischer niemals vertreten, getragen oder übernommen worden. Sie wurden vielmehr nach Übernahme der Autorenschaft als 'Extremposition' kritisiert."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich bei Schwulen und Lesben wegen der Verbrechen der Nazis und des auch später noch geltenden Paragrafen 175 entschuldigt. Ok, findet Jan Feddersen in der taz, aber Steinmeier hätte ruhig konkreter werden können: "Was er .. hätte erwähnen müssen, wäre, dass der Paragraph 175 konkret Zehntausende an Opfern forderte, aber insgesamt als Strafandrohung gegen alle wirkte und wirken sollte: Alle lernten, dass Schwules ein minderer Dreck ist, nicht liebenswert und entwertet gehört." Eigentlich hätte Steinmeier auch erwähnen müssen, dass die Kirchen nach dem Krieg zu den eifrigsten Verteidigern des Paragrafen 175 gehörten, aber dazu sagt Feddersen: "Geschenkt. Wäre historisch triftig gewesen, aber ein Bundespräsident disst keine Religion, eine christliche sowieso nicht."

Außerdem: Auf der Unterzeichnerliste der "Gemeinsamen Erklärung", in der einige sich zur Mitte des Landes zählende Autoren gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung wettern, findet sich der Name eines gewissen Hagen Ernst, der in seinem Blog niederträchtige Verschwörungstheorien verbreitet, hat Marcel Beyer herausgefunden - und fragt in der FAS, warum die Mitunterzeichner sich nicht distanzieren.
Archiv: Gesellschaft