9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Graswurzelarbeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2018. Im Guardian warnt Timothy Garton Ash die Politiker der EU vor einer Demütigung Großbritanniens im Brexit-Prozess. Watson.ch erinnert nach dem Suizid der Femen-Mitbegründerin Oksana Schatschko daran, welch extremen Gewaltdrohungen die Aktivistinnen der Gruppe in Osteuropa ausgesetzt waren. In politico.eu und der SZ verteidigen angesehene Rabbiner das muslimische Kopftuch. Und auch die Debatte um Mesut Özil geht weiter: "Willkommen bei der Bringschuld! ", ruft Düzen Tekkal dem Fußballer in der Welt zu.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2018 finden Sie hier

Europa

Timothy Garton Ash warnt die Politiker der EU im Guardian vor einer Demütigung Großbritanniens im Brexit-Prozess, die er glatt mit den Auswirkungen des Versailler Vertrags auf das Deutschland der Weimarer Zeit vergleicht: "Wenn Weimar-Britannien mit all seinen negativen Folgen für das übrige Europa vermieden werden soll, müssen die Staats- und Regierungschefs der EU diese strategische Diskussion bald führen. Länder wie Irland (das einen existenziellen Anteil an den Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU hat), Deutschland und die Niederlande (wichtige und oft gleichgesinnte Wirtschaftspartner des Vereinigten Königreichs) und Polen (dessen Sicherheit davon abhängt, dass Länder wie Großbritannien sich weiterhin dafür einsetzen) sollten alle auf eine solche Debatte drängen."

Die Meldung vom Suizid der Femen-Mitbegründerin Oksana Schatschko verbreitete sich gestern. Simone Meier nimmt ihren Tod bei watson.ch zum Anlass, nochmal die Geschichte von Femen zu erzählen und daran zu erinnern, welchen extremen Gewaltdrohungen die Frauen der Gruppe in der Ukraine und Osteuropa ausgesetzt waren. Der Filmemacher Alain Margot habe das in seinem Film "Je suis Femen" gut veranschaulicht: "Der Film beginnt mit einem Femen-Protest in Kiew - gegen das Schicksal einer andern Oksana. Sie ist erst 18, wurde von drei Männern bewusstlos geschlagen, vergewaltigt, in ein Tuch gewickelt und angezündet. Während die Femen-Frauen mit nackten Brüsten die Kastration der Vergewaltiger fordern, liegt sie auf der Intensivstation. Arme und Beine mussten bereits amputiert werden. Wenig später stirbt sie. Zwei der Täter sind schon wieder frei, sie sind die Söhne ehemaliger Beamten."
Archiv: Europa

Internet

Gestern hat der Bundesgerichtshof zwar in einem Urteil bestätigt, dass die Abschaffung der "Störerhaftung" rechtens ist, so dass Anbieter von freiem WLAN nicht mehr fürchten müssen, wegen Urheberrechtsverletzungen selbst haftbar gemacht zu werden. Aber es bleiben bürokratische Hemmnisse, weil der deutsche Gesetzgeber den Verwerterindustrien zuviele Zugeständnisse gemacht hat, kommentiert Lisa Hegemann in Zeit online: "Natürlich ist der Schutz des Urheberrechts grundsätzlich notwendig und wünschenswert. Allerdings vermeidet man Verstöße dagegen nicht, indem man Sperren verhängt und freies WLAN mit einem Passwort schwieriger zugänglich macht. Wer irgendwo etwas hoch- oder runterladen will, der wird einen Weg finden, ob über ein öffentliches Netz oder ein privates. Zumal sich die Frage stellt, ob die Debatte um illegale Uploads und Downloads nicht ohnehin an der heutigen Realität der meisten Internetnutzerinnen und -nutzer vorbeigeht." Ähnlich kommentiert Simon Rebiger bei Netzpolitik.
Archiv: Internet

Gesellschaft

Rassismus, Dazugehörigkeit, Integration - in der Özil-Debatte wird nur mit den ganz großen Begriffen argumentiert. Aber wer außer Sektenanhängern ist schon total integriert? Geht's also nicht eine Nummer kleiner, fragt Jürgen Kaube in der FAZ. "Wenn Migranten oder deren Kinder schlecht integriert sind, weil sie die Nationalhymne nicht singen, waren es dann die Einheimischen ebenfalls, als sie es vor 2006 kaum taten? Wenn jemand als gut integriert gilt, der es zum Multimillionär gebracht hat, weswegen ihm das Land egal sein kann, aus dem er kommt - inwiefern ist er dann in dieses Land integriert und nicht einfach nur in die Marktwirtschaft? Vielleicht stehen für die entsprechenden Normabweichungen ja darum auch passendere Worte zur Verfügung: Unhöflichkeit, ungebührliches Betragen, Desinteresse, Kaltschnäuzigkeit."

Genervt von der "kollektiven Aneignung der Opfermentalität" vieler Migranten ärgert sich in der Welt die als Tochter kurdischer Jesiden in Hannover geborene Publizistin und Frauenrechtlerin Düzen Tekkal  über die fehlende Selbstreflexion ihrer Landsleute: "Wir haben ja bis heute kein Selbstverständnis davon entwickelt, wer wir sind und wie wir unser Zusammenleben organisieren wollen. Willkommen bei der Bringschuld! Bei diesem Wort reagieren einige meiner Landsleute, vor allem die sogenannten Fürsprecher in Migrationsfragen, geradezu allergisch. Doch wir sind an der Situation nicht unschuldig, haben wir vielen Migranten doch beigebracht, dass der Staat alles regelt. Das Wort Kennedys: 'Frag, was du für dein Land tun kannst', bleibt ein Reizthema."
 
Der Tagesspiegel hat zehn Künstler, Politiker und Unternehmer mit Migrationshintergrund zu ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus und Ausgrenzung befragt. Die Filmemacherin Aysun Bademsoy meint: "In Deutschland existiert ein struktureller, institutioneller Rassismus. Ganz offenbar beim DFB, das ist schrecklich, aber auch anderswo. Bei den Recherchen zu meinem NSU-Dokumentarfilm ist es mir immer wieder begegnet, wie schnell sogenannte Migranten kriminalisiert werden.Die Dunkelhaarigen werden als erste verhaftet. Hier muss die Gesellschaft sich sehr viel mehr sensibilisieren, im Alltag, auf Ämtern, in der polizeilichen Ausbildung, in den Schulen."
 
Özil ist ein "türkischer Rassist", schimpft indes die Anwältin und Publizistin Seyran Ates: "Wenn man ein Land schätzt, muss man sich selbst um Integrationsleistung kümmern. Ich brauchte keinen Integrationskurs, ich habe den Kontakt zu Deutschen gesucht und mich um meine Integration gekümmert. Und all die Menschen, die sich für Deutschland als zweite Heimat entscheiden, haben mit der Integration kein Problem. In Deutschland gibt es nicht mehr Alltagsrassismus als anderswo."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Drei jüdische Wochenzeitschriften in Großbritannien protestieren in einer gemeinsamen Seite 1 gegen Antisemitismus in der Labour-Partei und Jeremy Corbyn, berichtet Frederik Schindler in der taz. Grund ist, dass die Labour-Partei eine international anerkannte Definition des Antisemitismus nicht anerkennt und etwa die Gleichsetzung Israels mit den Nazis nicht von ohne Weiteres als antisemitisch ansieht (unser Resümee). "Die Aktion der drei jüdischen Zeitungen ist durchaus einmalig in der Medienlandschaft. Marcus Dysch, Jewish-Chronicle-Mitherausgeber, bezeichnete sie auf Twitter als 'absolut beispiellos'. Die drei Blätter sind eigentlich Konkurrenten im umkämpften Zeitungsmarkt. Nach Frankreich hat Großbritannien mit bis zu 300.000 Mitgliedern die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Europa. Offenbar ist die Sorge und Wut über die Vorgänge in der Arbeitspartei so groß, dass man sich zu diesem geschlossenen Auftritt genötigt sah."

Im SZ-Interview mit Ulrike Nimz spricht die Politologin und Journalistin Andrea Röpke, die vor allem in der rechtsextremen Szene recherchiert, über die Zunahme auch körperlicher Angriffe auf Journalisten. Sie sagt außerdem: "Wir müssen uns aber im Klaren sein, dass ein Teil der Menschen nicht mehr überzeugt werden will. Die rechte Szene hat ihre Basis im Internet. Als die Flüchtlinge kamen, entstanden Hunderte regionaler Anti-Asyl-Seiten in den Sozialen Netzwerken. Die Administratoren waren rechte Akteure, Politprofis auch aus der NPD. Nach außen aber sah es so aus, als hätten hunderte Privatleute dieselbe Idee gehabt. Man hat Communitys Gleichgesinnter geschaffen, Gegenmedien aufgebaut, die sich nicht mit demokratischen Grundwerten aufhalten. Die AfD profitiert von dieser Graswurzelarbeit. Bei Facebook ist sie die mit Abstand stärkste Partei."
Archiv: Medien

Kulturmarkt

Die Verlage starren auf die sinkenden Verkaufszahlen wie das Kaninchen auf die Schlange. Zeit zu handeln und neue Formate zu entwickeln, meint Rüdiger Wischenbart im Wiener Standard: "Neue Kundengruppen wurden kaum angepeilt. Wo blieben die tollen Angebote aus Verlagen seit 2015, die den Spracherwerb von Migranten unterstützen? Oder: Wo finden Zeitgenossen abseits des deutsch-muttersprachlichen Mainstreams, abseits der gebildeten, urbanen Mittelschicht, von den Ex-Pat-Berufstätigen in der Donau-City bis zu Zuwanderergruppen und gesellschaftlichen Minderheiten ein attraktives Bücherangebot, dort wo ihr Alltag jeweils stattfindet? Gut betreute Buchhandlungen wie die von Petra Hartlieb zeigen, wie das geht."
Archiv: Kulturmarkt

Kulturpolitik

Für den Tagesspiegel fasst Nicola Kuhn die bisherige Debatte um die Restitution von Kolonialkunst nochmal zusammen und kommt unter anderem auf die 550 Artefakte umfassende Sammlung von Benin-Objekten des Berliner Ethnologischen Museums zu sprechen, für die es bis heute keine offiziellen Restitutionsanfragen gibt: "Das mag an der komplizierten Gemengelage vor Ort liegen, denn wem wären sie zurückzugeben? Nigerias Regierung, dem Bundesstaat Edo, wo sich das Königtum befindet, der Republik Benin, die nur den Namen des Königreichs trägt, oder den Nachfahren des damals beraubten Königs, die heute in Paris leben? Die in einer Dialoggruppe vereinigten Sammlungen mit Benin-Stücken denken über die Idee einer permanenten Ausstellung nach, aus der sich Rückgaben ergeben könnten, so auch Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Doch das schöne Haupt der Königinmutter aus dem 16. Jahrhundert, das gerade im Bode-Museum zu sehen ist, wird gewiss ab Herbst 2019 im Humboldt-Forum ausgestellt."
Archiv: Kulturpolitik

Religion

In Dänemark hat die Regierung unter Beteiligung der Rechtspopulisten ein Gesetz erlassen, laut dem Kinder aus "Ghetto-Communities" mindestens 25 Stunden der Woche getrennt von ihren Eltern etwa in Kindergärtern verbringen sollen, um "dänische Werte" zu lernen. In politico.eu fühlt sich Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, an Mönche erinnert, die einst jüdische Kinder raubten, um ihre Seelen zu retten. Ihn stören aber noch weitere religionspolitische Maßnahmen in Europa: "Dänemark ist nicht das einzige Land, das seine Minderheitenbevölkerung und Religionsfreiheit auf diese Weise ins Visier nimmt. Österreich und Belgien haben beispielsweise vorgeschlagen, die koschere Schlachtung einzuschränken, und mehrere Länder - darunter Frankreich und Norwegen - haben religiöse Kopfbedeckungen in Schulen oder bei Beamtinnen verboten. Bayern und Italien haben Gesetze erlassen, die die Aufhängung von Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden vorschreiben."

"Verträgt die säkulare Gesellschaft des Jahres 2018 die Religionsfreiheit nicht mehr?", fragt in der SZ der stellvertretende Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses, Maram Stern mit Blick auf Debatten über das Schächten, die Beschneidung oder das Kopftuch: "Es formiert sich eine unheilige Allianz zwischen rechten und linken Kräften, zwischen solchen, die nur Judentum und Islam ablehnen und jenen säkularen Kräften, die vorgeben, mit Religion nichts am Hut zu haben - aber mit heiligem Eifer Stimmung machen gegen religiöse Traditionen, weil sie sie als fremd, rückständig und nicht zu 'unserem' Kulturkreis gehörig ansehen. In diesem Zusammenhang wäre auch die ständig wiederkehrende Diskussion über das muslimische Kopftuch zu nennen."
Archiv: Religion