Efeu - Die Kulturrundschau

Zirpend-klonkiges Glück

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2014. In der SZ sucht Joachim Hentschel deutschen Pop mit Relevanz - und wird fündig. Die Berliner Zeitung verliebt sich in den Klang eines rostigen Ofenblechs. Le Monde begutachtet Hardcore-Sexszenen im Autorenfilm. Die NZZ besucht eine Ausstellung über Textil als Material und Metapher in Wolfsburg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2014 finden Sie hier

Musik

Hat deutscher Pop überhaupt noch Relevanz, fragt sich in der SZ Joachim Hentschel. Oder gibt's nur "Deoroller-Schlager von Andrea Berg und Helene Fischer, Nasenpiercing-Rock von Jennifer Rostock, Hänger-Hip-Hop von Psaiko Dino", Heino oder die Böhsen Onkelz? Ein Blick ins Netz belehrt ihn eines besseren. Dort findet er hervorragende Popmusik, die auch politisch was zu sagen hat. Zum Beispiel von dem Rapper Marteria, der gerade mit dem formidablen "Kids" einen Hit hat: "Die Texte des neuen Albums 'Zum Glück in die Zukunft II' hat er auf diversen Bildungs- und Aktionsreisen in Chile, Nepal, Palästina geschrieben ... Eine Deutschstunde, die der Rapper an der Uni von Kampala in Uganda hielt, wurde von einem Tränengasangriff der Polizei unterbrochen, der demonstrierenden Studenten galt. Zum Stück 'Bengalische Tiger', das er daraufhin als eine Art Fanal für die Straßenrebellion schrieb, bekam er Beschwerdepost von Fans, Polizisten, die sich diffamiert fühlten. Pop, der einen politischen, zeitläufigen Kern hat, erkennt man ja oft daran, dass er missverstanden werden kann. Dass er selten Tätowiersprüche liefert."

Jens Balzer im siebenten Krach-Himmel! Zürnte er gestern noch über unangebrachte Geigenklänge, frohlockt der Popkritiker der Berliner Zeitung heute über Dudelsackdrones von Cyclobe, die das seiner Ansicht nach bislang schönste Konzert des CTM Festivals boten. Kleiner Auszug aus seiner Auflistung des Glücks: "Man hörte Radiokurzwellengefiepe, das in konvulsivische Fumpgeräusche mündete; ein großer Gong wurde geschlagen und ein rostiges Ofenblech aus dem vorletzten Jahrhundert; dazu sah man über der Bühne ineinander verfließende Bilder von Einsiedlerhütten vor dunklen Wäldern, Freimaurerzeichen, ein wunderschönes Jungfrauenantlitz mit einer äußerst haarigen Riesenspinne davor; aus blutbunten Fleckenbildern blickte einen wissend lächelnd der Leibhaftige an." Youtube lässt am zirpend-klonkigen Glück teilhaben, unten der erste Teil der Aufnahme, der zweite hier.



Weiteres: Für die taz unterhält sich Thomas Winkler ausführlich mit dem Liedermacher Hannes Wader, der die politischen Lieder seiner Frühphase heute vor allem dem damaligen Zeitgeist geschuldet sieht. Besprochen werden das Solo-Album von Judith Holofernes (Welt), das neue Album von Britney Spears (FR) und das neue Album von Broken Bells (Tagesspiegel).
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Literatur

Überrascht nimmt Jan Küveler in der Welt zur Kenntnis, dass sich der Aufbau-Verlag von seinen Geschäftsführern Tom Erben und René Strien trennt: "Nach Jahren der Unsicherheit hatte man das mittelständische Haus inzwischen in ruhigeren Fahrwassern gewähnt." In der Literarischen Welt diskutieren Fritz Raddatz und Tilman Krause pro und contra über den Rang Alfred Anderschs, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag feiern würde. Richard Kämmerlings trifft sich - ebenfalls für die Welt - mit dem Schriftsteller Martin Kordić.

Weiteres: Florian Vetsch schreibt in der NZZ zum 100. Geburtstag von William S. Burroughs. Die Welt bringt eine Seite mit Auszügen aus Burroughs' Briefkorrespondenz. Bei Zeit online kann man eine Erzählung von Elizabeth Ellen lesen.

Besprochen werden unter anderem Jacques Tardis Comic "Elender Krieg" (Welt), Hilal Sezgins Buch "Artgerecht ist nur die Freiheit" (Welt) und und Geordie Greigs Buch "Frühstück mit Lucian Freud" (Welt), Mark Z. Danielewskis "Das Fünfzig-Jahr-Schwert" (taz) und der Briefwechsel von Alfred Andersch und Max Frisch (NZZ, Welt). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Film



Hardcore-Sexszenen
im Autorenfilm sind en vogue. Sie sind allerdings in Mode gekommen, weil sie nicht mehr Hardcore sind, sondern sich synthetisieren lassen, schreibt Thomas Sotinel in Le Monde einige Tage vor Lars von Triers Hardcore-'Nymph()maniac'-Premiere auf der Berlinale: "Die Aufhebung des Tabus scheint um so näher, je mehr die Technologie der scheinbaren Transgression zuhilfe kommt. Einerseits sind die Prothesen zu fast perfektem Realismus gelangt. In 'Blau ist eine warme Farbe' oder 'Nymph()maniac' erlauben sie es den Schauspielern den eigentlichen Moment zu vermeiden, obwohl der Zuschauer tatsächlich glaubt, der Überschreitung beigewohnt zu haben." Sotinel zitiert Charlotte Gainsbourg, die für die Berliner Premiere "ekelhafte Prothesen" verspricht, "mit Blut, hyper-gore. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man nur ndie Kurzversion des Films gesehen und den 'großen Moment' verpasst hat, der für die Kurzversion herausgeschnitten wurde."

Im Freitag zieht Matthias Dell nach dem Ophüls-Festival in Saarbrücken Bilanz. Den "nächsten heißen Scheiß" hat er zumindest unter den Preisträgern des Nachwuchsfilm-Festivals nicht recht ausmachen können, dafür gewann die Komödie "Poka" sein Herz, "die im - für hiesige Sehgewohnheiten - grobschlächtigen Humor russischer Komödien von Träumen und Enttäuschungen russlanddeutscher Einwanderung um 1990 herum handelt. ... Gäbe es hierzulande eine existierende Serienkultur, solch ein Stoff müsste der nächste heiße Scheiß sein. Eigentlich."

Weiteres: Warum Ennio Morricone den Soundtrack für Kubricks "Clockwork Orange" doch nicht geschrieben hat, erklärt der Meisterkomponist Tim Caspar Boehme und Sara Piaza im taz-Gespräch. Online von gestern nachgereicht: Iris Alanyalis Porträt des Schauspielers Idris Elba in der Welt. In der NZZ berichtet Marc Zitzmann über einen "Krieg der Knöpfe" in Frankreich: Es geht um zwei konkurrierende Biopics über Yves Saint Laurent. Für die taz besucht Rolf Lautenschläger die HFF Konrad Wolf in Potsdam. Besprochen werden "Le Weekend", die neue romantische Komödie von Roger Michell (Welt), der Thriller "Disconnect" (Welt) Und in der FAZ interviewt Hannes Hintermeier Gerhard Polt zu seinem neuen Film "Und Äktschn!"

Außerdem präsentiert Rochus Wolff in seinem Kinderfilmblog wöchentlich einen Kurzfilm zum Wochenende: Diesmal fiel seine Wahl auf Carlos De Carvalhos ästhetisch anspruchsvollen Animationsfilm "Juste de l'eau".

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Kunst

Ursula Seibold-Bultmann besucht für die NZZ Ausstellung "Kunst & Textil" im Kunstmuseum Wolfsburg. Sie sieht tolle Exponate, aber thematisch ist die Ausstellung etwas überfrachtet, notiert sie: "Eine Schau mit derart vielen thematischen Fäden kann auch dann gut als Diskussionsgrundlage dienen, wenn sich wie hier im Detail und im Gewebe der assoziativen Hängung allerhand Löcher auftun. Ein Beispiel: Die mit 'Spiderwomen' betitelte Feminismus-Zone ist unter Bezug auf den antiken Mythos der Weberin Arachne, die von der Göttin Athene in eine Spinne verwandelt wird, quantitativ stark übergewichtig mit Werken von Louise Bourgeois und Rosemarie Trockel bestückt. Da wird nicht genügend klar, wie frappant vor allem arabische und iranische Künstlerinnen heute Frauenthemen unter textilem Bezug behandeln." (Bild: Michelangelo Pistoletto, Venere degli stracci (Venus of the Rags), 1967. Foto: Courtesy Philadelphia Museum of Art)

Besprochen wird weiter das dritte Duesseldorf Photo Weekend (Welt).
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Bühne

Peter Hagmann bespricht in der NZZ die "Walküre" des Genfer "Rings". Diese fällt zwar, trotz vereinzeltem Lob, nicht überwältigend, aber sehr annehmbar aus: "Die Welt wird da nicht aus den Angeln gehoben, schon gar nicht die Rezeptionsgeschichte von Richard Wagners 'Ring des Nibelungen'. In ihrer Inszenierung (...) gehen der Regisseur Dieter Dorn und der Ausstatter Jürgen Rose von einer Position ante quem aus; sie versuchen, sich der Überlagerungen, die das in diesem Fall besonders dichte Nachleben dem Werk beigefügt hat, zu entledigen, gleichsam an den Ausgangspunkt der Geschichte zurückzukehren."

Von einem "entsetzlich langen Theaterabend" in Wien berichtet für die Welt Karin Cerny. Gegeben wurde Antú Romero Nunes' Adaption von Isabel Allendes "Geisterhaus". Die Kritikerin klagt bitterlich: "Die Regie verliert sich in abertausende Details, reißt vieles an, anstatt es wirklich zu ergründen. Die ersten beiden Stunden werden enervierend brav nacherzählt." Kai Krösche bezeugt unterdessen auf nachtkritik.de immerhin "brillantes Schauspiel".

Tilman Krause geht für die Welt mit Friedrich Barner von der Berliner Schaubühne Kuchen essen. Besprochen wird Meng Jinghuis vom chinesischen Nationaltheater in Hamburg und in Berlin aufgeführte Bühnenfassung von Yu Huas Roman "Leben!" (Welt).
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