Efeu - Die Kulturrundschau

Dreh-, Hampel- und Schaukelbewegungen

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05.07.2014. In Klagenfurt ist die Stimmung bestens. Nur ein Siegertext ist noch nicht gefunden. Wir verlinken auf Berichte, Videos und Tweets. In der Welt lotet Karl Ove Knausgård die Pathologie des Ruhms aus. Beim Berliner Festival "Foreign Affairs" beeindruckte die Berliner Zeitung vor allem Marta Górnickas Chorinstallation "Magnificat". Linkiesta feiert Wislawa Szymborska. Die taz erkundet die türkische Kunstszene. Und wir bringen den wahrscheinlichen Sommerhit 2014.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.07.2014 finden Sie hier

Literatur

Karl Ove Knausgård denkt in einem schönen Essay in der Literarischen Welt über seinen Wunsch nach Ruhm nach und streift dabei auch pathologische Formen der Ruhmsucht, etwa bei Anders Breivik: "Ideologien sind lediglich eine Form, ein Rahmen, der mit Gefühlen gefüllt werden muss, um Kraft zu gewinnen und sich in Bewegung setzen zu können. Eine offensichtliche Voraussetzung für die Untaten auf Utøya, eine Art Katalysator, der sie ermöglichte, waren die vielen Schulmassaker, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, vor allem in den USA, aber auch in Finnland und Deutschland. Sie waren von keinerlei Ideologie geprägt, sämtliche Täter waren jung, und die meisten von ihnen in irgendeiner Form isoliert, einsam oder ausgestoßen."

Außerdem: Für die taz besucht Catarina von Wedemeyer den Autor Marcel Cohen in Paris. Der Tagesspiegel dokumentiert Yoko Tawadas Dankesrede zum Internationalen Literaturpreis. Im Tagesspiegel gratuliert Jörg Magenau Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag. In der Welt gibt"s sogar ein Interview mit Schlink. Ebenfalls in der Welt ein Essay von Geoff Dyer über einen Schlaganfall, der sein Sehvermögen einschränkt. In der NZZ schreibt Thomas Stauder über die italienische Literatur im Ersten Weltkrieg. Und Daniela Tan erinnert in der NZZ an eines der Meisterwerke der japanischen Literatur, Natsume Sosekis Roman "Kokoro", der vor hundert Jahren erschien. Im Tagesspiegel ärgert sich Lars von Törne darüber, dass der insbesondere im deutschen Sprachraum als Qualitätsmerkmal lancierte Kampfbegriff "Graphic Novel" dem Comic zwar kulturelle Weihen verliehen hat, die Form insgesamt aber herabsetzt. Die deutsche Literatur zieht es auf die Insel, stellt Lothar Müller in einem kleinen Überblicksartikel in der SZ fest. Mit seinem Roman "The Circle" (erscheint auf Deutsch im August) bringt Dave Eggers die neuen, von flachen Hierarchien und der Vermengung von Arbeits- und Privatleben gekennzeichneten Arbeitsbedingungen in Startups treffend auf den Punkt, meint Dietmar Dath in der FAZ.

Bespochen werden unter anderem Lisa Kreißlers "Blitzbirke" (taz), Philipp Meyers "Der erste Sohn" (FAZ) und  Andreas von Flotows "Tage zwischen gestern und heute" (SZ), Hans Falladas später Roman "Der Alpdruck" (Welt) und eine neue Mozart-Biografie (Welt).

Na, und dann die #tddl in Klagenfurt!

Wolfgang Tischer bringt in seinem Literaturcafé einen täglichen Videobericht vom Bachmann-Wettbewerb. Hier die neueste Folge, in der er mit der Literaturbloggerin Doris Brockmann Zwischenbilanz zieht.



Bisher hat der Bachmann-Wettbewerb den Welt-Autor Marc Reichwein allerdings noch nicht aus der sommerlichen Lethargie gerissen: "Zur Halbzeit des Vorlesemarathons muss man sagen, dass einen noch kein Text aus dem Liegestuhl gehauen hat." In der taz fasst Fatma Aydemir die ersten Beiträge und Jury-Reaktionen zusammen. Christoph Schröder wünscht sich in der Zeit unterdessen mehr Streit in der Jury und merkt sich als mögliche Preisträgerin schon mal Anne-Kathrin Heier vor. Roman Bucheli konstatiert in der NZZ, dass ein eindeutiger Siegertext noch fehle. Und Schriftsteller Peter Wawerzinek berichtet im Tagesspiegel unter anderem vom Klagenfurter Büfett.

Wenn Kritiker trinken #tddl pic.twitter.com/XggW6LFRNG
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Bühne

Ulrich Seidler berichtet in der Berliner Zeitung vom fortlaufenden Berliner Bühnenkunstfestival "Foreign Affairs". Insbesondere die körperlich anspruchsvolle Chorinstallation "Magnificat" von Marta Górnicka, die zwei Dutzend Frauen sarkastisch Gott, Polen und die Pflichten der Frau preisen lässt, hat ihn beeindruckt: "Der Ablauf ist mit militärischer Genauigkeit bis in den letzten Schmatzer durchchoreografiert. Es wird gebrüllt, geflüstert, gekaut, geseufzt, mehrstimmig gesungen, es gibt Ausbrüche und Abbrecher, dazu variierende Aufstellungen, Dreh-, Hampel- und Schaukelbewegungen. In dieser formalen Strenge, in diesem Ermächtigungseifer und in diesem Bemühen um Disziplin − dem immer wieder Momente des Entsetzens innewohnen − fällt die Individualität der Frauen besonders auf."

In Italien bietet ein von Corrado d"Elia besorgter Theaterabend am Mailänder Teatro Libero über den Theatermann Giorgio Strehler ein wenig Trost angesichts der desolaten Kulturpolitik im Land, meint Peter Iden in der FR: Der Abend war keine "sentimentale Geste (...), sondern poetischer Aufruf dazu, bei aller Bedeutung von Wirtschaft, Industrie, Handel nicht zu vergessen, dass es Werte gibt, die über die materiellen Erfolge eines Landes hinausreichen. Es war also Theater im richtigen Moment."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel ist Udo Badelt in die israelische Wüste bei Masada gereist, wo das Opernfestival unter extremen Bedingungen "La Traviata" aufführt. Jetzt online: Kerstin Holms Streifzug durch drei Schauspielschulen (FAZ).

Besprochen werden eine New Yorker Aufführung von Penelope Skinners Beziehungskpmödie "The Village Bike" mit Greta Gerwig in der Hauptrolle ("englischer Humor nach Hausmacherart", meint Patrick Bahners in der FAZ) sowie Theresia Walsers und Karl-Heinz Otts in Konstanz aufgeführtes Stück "Konstanz am Meer" (FR).
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Musik

Andrian Kreye begibt sich in der SZ auf die Suche nach dem nächsten großen Sommerhit nach Pharrell Williams" "Happy" aus dem letzten Jahr: Seine Kandidaten sind "Busy Earning" von Jungle (das Video ist sehenswert!), "The Worst" von Jhené Aiko und "Love Never Felt so Good" aus dem Nachlass von Michael Jackson.



Weitere Artikel: Julian Weber stellt in der taz den amerikanischen Acid-House-Musiker SFV Acid vor. Michael Zirnstein spricht in der SZ mit Hans Söllner. Anna Prohaska ist auch eine große CD-Künstlerin, schreibt Manuel Brug in der Welt über die junge Berliner Sopranistin, die gerade eine Platte mit Soldatenliedern aufgenommen hat (aber da sie nichts online stellt, können wir leider nicht verlinken). Im Standard unterhält sich Flaminia Bussotti mit Riccardo Muti über ein Konzert zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg, das er morgen in der italienischen Gedenkstätte "Sacrario di Redipuglia", der zweitgrößten nach Verdun geben wird - mit 365 Musikern wir der das Requiem von Verdi aufführen.

Besprochen werden das neue Album "Ultraviolence" von Lana Del Rey (Jungle World) und eine 4er-CD-Box mit Aufnahmen von Charles Mingus (Zeit).
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Kunst

Annegret Erhard stellt in einem ausführlichen Hintergrundartikel in der taz die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs im Land florierende türkische Kunstsammler-Szene vor, der sie eine wichtige widerständige Rolle im Kampf gegen Erdogans kulturellen Kahlschlag zuspricht: Mehmet Aksoys "30 Meter hohes "Denkmal der Menschlichkeit", das zur Versöhnung zwischen Armeniern und Türken mahnt, ließ Erdogan 2011 einreißen; er fand es monströs. Das Entsetzen war groß. Aksoys auf Elgiz-Firmengrund aufgestellte Figuren sind unantastbar (...) Unter diesen Bedingungen ist zu begrüßen, dass der Kunstbetrieb, zumindest was die aktuellen Strömungen betrifft, in den Händen (und Köpfen) säkular und laizistisch ausgerichteter, dabei wohlhabender und weltläufig agierender Bürger ist, die in der Regel eine hervorragende internationale Ausbildung genossen haben."

Außerdem: Kia Vahland ist in der SZ durchaus skeptisch, ob es sich bei dem aktuell von Christie"s versteigerten, Vermeer zugesprochenen Bild der heiligen Praxedis tatsächlich um ein Werk des Niederländers handelt: "Eine vergleichbare Pigmentbeschaffenheit sagt nichts darüber aus, wer den Pinsel schwang". Martin Meyer hat sich für die NZZ die große Futurismus-Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum angesehen. (Das Bild zeigt Fedele Azaris "Volo liberato" aus der Ausstellung im Guggenheim.)



Besprochen werden eine Ausstellung zum Konstanzer Konzil in Konstanz (FR), die Paparazzi-Ausstellung in der Frankfurter Schirn (SZ) und die 20. Rohkunstbau-Ausstellung im Schloss Roskow (Tagesspiegel).

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Film

Fritz Göttler und David Steinitz sprechen mit Walter Hill, dem das Filmfest München eine Retrospektive gewidmet hat. Für die FAZ lässt sich Morten Freidel am Rande des Filmfests München SMS-Texte von Klaus Lemke diktieren: Denn "Lemke ist (...) ein großer Inszenator des eigenen Rebellentums."
 
Besprochen wird Carlo Goldonis "Trilogie der Sommerfrische" (SZ).
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Literatur

Diese fantastische Collage ist von niemand anderem als Wislawa Szymborska. Sie ist hier in angemessener Größe zu sehen. Silvia Ricciardi widmet ihr in Linkiesta einen liebevollen Geburtstagsartikel, auf den wir um so lieber hinweisen, als es sich um einen ganz und gar krummen Geburtstag (nämlich den 91.) handelt. Und übrigens lesen sich ihre Gedichte in Italienisch perfekt. Zum Beispiel das über die Zwiebel:

"La cipolla è un"altra cosa.
Interiora non ne ha.
Completamente cipolla
fino alla cipollità.
Cipolluta di fuori,
cipollosa fino al cuore,
potrebbe guardarsi dentro
senza provare timore."

Mehr zu Szymborska auf der Website der Wisława Szymborska Foundation. In der "Frankfurter Anthologie" der FAZ denkt heute Joachim Sartorius über sein eigenes Gedicht "Diana" nach.

"Was hat sie ihm erlaubt zu sehen,
bevor er verwandelt wurde? Den Fuß,
den weißen Knöchel, den Rücken
und die Brust? (...)"
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