Efeu - Die Kulturrundschau

Cinéma pauvre mit Formbewusstsein

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18.08.2014. Die SZ durchlebt bei der Ruhrtriennale eine große Kraftorgie von Heiner Goebbels. The Quietus freut sich über eine Kollaboration der Krautrocker Can und Faust. Die taz besucht das Rockfestival im ungarischen Sziget. Und alle gratulieren Lav Diaz für seinen Goldenen Leoparden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.08.2014 finden Sie hier

Bühne



Die Ruhrtriennale beginnt in diesem Jahr mit Louis Andriessens im Landschaftspark Duisburg-Nord aufgeführter Oper "De Materie" in der Inszenierung von Festivalkurator Heiner Goebbels. Die musikalische Untermalung leistet das Ensemble Modern mit einiger Wucht, erklärt Michael Stallknecht in der SZ: "In kollektiven Schlägen bestreiten sie weite Flächen mit der Wiederholung von einzelnen Akkorden oder Klangfloskeln. Die eingängige Textur (...) vermag auch Meditationsmomente von großer Zartheit zu schaffen. Häufiger aber setzt Andriessen auf die große Kraftorgie und lässt etwa die Schlagwerker den Bau eines Schiffes mit martialischen Schlägen demonstrieren. Entsprechend grobflächig zelebriert auch die Inszenierung von Heiner Goebbels die Reize der Technik."

Auf nachtkritik.de berichtet Friederike Felbeck von einem gelungenen Auftakt: Bei "De Materie" handelt es sich um "eine brillante, melodiös-schockierende Oper, die zeigt, welcher üppige Fundus an Musiktheater noch immer brach liegt". Deutlich weniger begeistert schreibt Eleonore Büning in der FAZ über die Darbietung: "Goebbels (...) kapituliert vor der Majestät dieses Raumes. ... Wozu das gut sein soll? Vielleicht wollte Goebbels nur mal zeigen, was man hier so alles Tolles kann." Eine weitere Besprechung bringt die Berliner Zeitung.

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel war Sandra Luzina bei Daniel Léveillés Performance "Solitudes Solo", mit der das Berliner Festival "Tanz im August" eröffnet wurde. In der taz berichtet Astrid Kaminski, in der Berliner Zeitung Michaela Schlagenwerth. Für die FAZ war Gina Thomas beim Samuel-Beckett-Festival im irischen Enniskillen, wo der Autor einst zur Schule ging. Für The Quietus war Ian Maleney vor Ort.

Besprochen werden "Romeo und Julia" mit Musik von Rosenstolz Open Air in Kiel (Welt) und Walter Kappachers in Salzburg aufgeführte Hommage "Der Abschied" an Georg Trakl ("O mei", jammert Egbert Tholl in der SZ über einen für seinen Geschmack viel zu braven Abend).
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Musik

In der taz ist Dirk Schneider ein wenig enttäuscht, dass sich die Musiker beim ungarischen Rockfestival in Sziget so wenig politisch äußern wollen, aber er sieht auch den Druck, der auf ihnen lastet. "Zwölf Jahre gab es eine eigene Roma-Bühne beim Sziget, bis letztes Jahr. Da hatte man sogar endlich einen Sponsoren für die Bühne gefunden: Ein türkischer Raki-Hersteller warb mit seinem Namen, nachdem elf Jahre lang niemand mit dem Begriff "Roma" in Zusammenhang gebracht werden wollte. Zusammen mit dem queeren "Magic Mirror"-Zelt war die Roma-Bühne dem Fidesz-Bürgermeister István Tarlós, der in Budapest seit 2010 regiert, aber ein Dorn im Auge. Die Stadt hatte dem Festival sogar Geld angeboten, wenn man dafür die Roma-Bühne abschaffe, aber das Sziget, das sich komplett privat finanziert, hat das entrüstet abgelehnt."

Durchaus ansprechend findet Joe Banks von The Quietus das Album "Flut", eine improvisierte Kollaboration zwischen den Krautrock-Pionieren Hans Joachim Irmler (von Faust) und Jaki Liebezeit (von Can): "None of these pieces are perfect, but it"s the sense of the unknown, the apparent misstep leading to a new path, that makes them so compelling. "Musical bars are like prison bars," says Liebezeit. "Flut" is a fine example of what can happen when music is allowed to go free." Hier gibt es eine Hörprobe.

Weitere Artikel: Peter Hagmann berichtet in der NZZ über das Eröffnungskonzert des Lucerne Festivals - nach dem Tod Abbados erstmals mit dem Dirigenten Andris Nelsons. Die NZZ druckt einen Essay von Catherine Tice, Mitherausgeberin der New York Review of Books, über das Geigenspiel, das sie nach 14 Jahren aufgab. Frédéric Schwilden berichtet in der Welt vom Schlagerolymp in Lübars. In der Berliner Zeitung gibt Aleksandar Zivanovic aktuelle Musiktipps, darunter das neue Album "Carnival of Souls" von Pere Ubu. Daraus eine Kostprobe:



Besprochen werden eine Kollektion mit Liedern aus dem spanischen Bürgerkrieg (Jungle World), das neue Album "Pe"ahl" von den Raveonettes (taz), Fatima al Qadiris Album "Asiatisch" (von der Zeit jetzt online gestellt) und das gefeierte Debütalbum von FKA Twigs (SZ).
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Literatur

Giuseppe Catozzellas jetzt in deutscher Übersetzung vorliegender Roman "Sag nicht, dass du Angst hast" und Reinhard Kleists derzeit in der FAZ als Fortsetzung erscheinender Comic "Der Traum von Olympia" befassen sich beide mit dem Leben der somalischen Sportlerin Samia Yusuf Omar, die 2012 beim Versuch ums Leben kam, ihr Land mangels Papiere illegal zu verlassen, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen, erzählt Andreas Platthaus in der FAZ. Von der Zeit nachträglich online gestellt: Die Schriftstellerin Nora Bossong besucht Stundenhotels und Fritz Raddatz erinnert an den schwulen, afro-amerikanischen Schriftsteller James Baldwin, der in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden NoViolet Bulawayos Debüt "Wir brauchen neue Namen" (Tagesspiegel), Alissa Ganijewas "Die russische Mauer" (Tagesspiegel), Karl Kraus" "Heine und die Folgen" (SZ), Pierre Bourdieus Vorlesungen "Über den Staat" (Zeit) und Jim Nisbets Krimi "Der Krake auf meinem Kopf" (FAZ).
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Kunst

Für den Tagesspiegel haben sich Nicole Büsing und Heiko Klaas nach Münster begeben, wo der der Künstler Tobias Rehberger triste Stromkästen mit nicht viel schöneren Rohrwülsten verziert.

Besprochen werden Harun Farockis und Antje Ehrmanns bei der Ruhrtriennale eingerichtete Videoinstallation "Eine Einstellung zur Arbeit" (Berliner Zeitung), eine Ausstellung über die Geschichte der Tätowierung im Musée Quai Branly in Paris (FAZ) und eine Ausstellung über Hans Bayer alias Thaddäus Troll in der Topographie des Terrors in Berlin (Tagesspiegel).
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Film




Der beim Filmfestival in Locarno vergebene Goldene Leopard für Lav Diaz" fast sechsstündigen Film "From What is Before" löst bei den Filmkritikern viel Freude aus, so etwa auch bei Dominik Kamalzadeh von der taz. Er schreibt: "Diaz [rekonstruiert] Erinnerungen an die eigene Kindheit in einem Dorf in Mindanao. Mit viel Beobachtungssinn lässt er eine Kultur auferstehen, die unter der Gewaltherrschaft von General Marcos (und davor schon durch die Kolonialmächte) marginalisiert, fast ausgelöscht wurde. Diaz" Epos ist das Gegenteil von Ausstattungskino, Cinéma pauvre mit Formbewusstsein, ein bitterer Film in regennassen Bildern, dem auch etwas Gespenstisches eignet in der Art, wie die Angst der Menschen noch vor den eigentlichen Taten greifbar wird." Wenn Sie Lav Diaz noch gar nicht kennen sollten: Bereits vor sechs Jahren brachte Cargo ein ausführliches Videogespräch mit dem philippinischen Regisseur.

Außerdem aus Locarno: Bei Fritz Göttler von der SZ gesellt sich zur Freude über Lav Diaz" Erfolg noch die über die Auszeichnung von Pedro Costa als bester Regisseur für seinen Film "Cavalo Dinheiro" hinzu: "Zwei umstürzlerische Geschichten, die das Politische mit dem Phantomhaften mischen. Zwei Filmemacher, die filmen, wie das Leben fließt, nichts ist forciert in ihrem Rhythmus, alles hat seine Zeit." Überhaupt scheint es sich um einen sehr guten Festivaljahrgang gehandelt zu haben, wenn man etwa auch Hannes Brühwilers Abschlussbericht auf critic.de liest. Und Anke Leweke äußert sich in ihrem Fazit im Tagesspiegel insbesondere auch über die dem italienischen Studio Titanus gewidmete Retrospektive lobend. In der NZZ ist Bettina Spoerri leicht betrübt, dass die Schweizer leer ausgingen.

Weitere Artikel: In der Welt unterhält sich Gerhard Midding mit Ken Loach über dessen neuen Film "Jimmy"s Hall".

Besprochen werden Isabell Šubas Satire auf den sexistischen Festivalbetrieb "Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste" (Jungle World) und die Verfilmung von Kerstin Giers Roman "Saphirblau" (Tagesspiegel, kritiken.de).
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