Efeu - Die Kulturrundschau

Sehr transparent und federnd

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2014. Die NZZ erinnert an Tage, als deutsche und russische Künstler die moderne Alltagskultur prägten. Und an Tage, als französische und deutsche Künstler über die Gotik stritten. Lateinamerikanische Autoren haben die Nase voll vom magischen Realismus und ergeben sich dem globalen Kult des Individualismus, stellt Zeit online fest. Die FAZ hört nur noch die Beatles in Mono. Und wir wünschen all unseren Lesern einen guten Rutsch und ein frohes neues Jahr!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2014 finden Sie hier

Architektur


N. Ladowski: Architektonische Erscheinung eines Gemeinschaftshauses 1920. © Staatliches Schtschussew Museum für Architektur Moskau. Martin-Gropius-Bau

In zwei Ausstellungen - in Berlin und in Dessau - lernt Bettina Maria Brosowsky (NZZ), wie befruchtend und einflussreich der Austausch zwischen dem deutschen Bauhaus und der Architekturschule Wchutemas in Moskau war: "Während das sowjetische Ausbildungsmodell die freien und die angewandten Künste, die Tradition wie das utopische Potenzial gleichermaßen an einen gesellschaftlichen Auftrag band, sah sich das deutsche Bauhaus ausschließlich als Protagonist einer modernen Alltagskultur. Der russische Autor Ilja Ehrenburg schätzte das Bauhaus zwar als einzig lebendige Kunstschule Deutschlands, die an die Moskauer Wchutemas erinnere, nur fehle die totgesagte Kunst: Man habe "mit dem Lineal das Gefühl verprügelt"."
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Stichwörter: Bauhaus, Bauhaus Dessau, Wchutemas

Literatur

Lateinamerikanische Literatur? Magischer Realismus! Diese lapidare, vor allem europäische Gleichung wollen die jungen Literaten Lateinamerikas schon lange nicht mehr hinnehmen, erklärt Sarah Murrenhoff auf Zeit online. Das liegt vor allem an den historischen Verwerfungen und Entwicklungen seit den lange zurückliegenden Glanztagen eines Gabriel García Márquez, die mit Magie rein gar nichts zu tun haben: "Mit zunehmend zynischen und nüchternen Tönen steigen sie ein in den globalen Kult des Individualismus. Das Erzählen wird wieder knapper: Es muss nicht der allumfassende Roman sein, auch Kurzgeschichten liefern präzise Schnappschüsse. Viele leben nicht mehr in ihrer Heimat oder schreiben gar auf Englisch, so wie Daniel Alarcón. Sein Roman "Lost City Radio" (2007) ist eine Parabel auf die Grausamkeit totalitärer Herrschaft, wie sie in Lateinamerika, aber auch an jedem anderen Ort der Welt aufgetreten ist oder auftreten könnte."

Weitere Artikel: Lothar Müller erinnert in der SZ an E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Die Abenteuer der Silvester-Nacht", die der Autor morgen vor 200 Jahren verfasst hat. In der FAZ ärgert sich Tilmann Spreckelsen darüber, dass jüngere Jugendbücher immer drastischere Gewaltdarstellungen beinhalten.

Besprochen werden eine Neuausgabe von Konrad Bayers Prosasuite "der kopf des vitus bering" ("ein Text, der das Verständnis erschwert, um die individuelle Sinnbildung auf Leserseite zu erleichtern", verspricht Felix Philipp Ingold in der NZZ), Liza Codys Krimi "Lady Bag" (FR, unsere Besprechung hier), eine Gesamtausgabe von Winsor McCays Comicklassiker "Little Nemo" (Tagesspiegel), Gilbert Gatores "Das lärmende Schweigen" (taz) und neue Bücher über das Verhältnis zwischen Religion und Gewalt (FR).
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Bühne

In der Berliner Zeitung gratuliert Doris Meierhenrich der Berliner Volksbühne zum hundertjährigen Bestehen. Außerdem jetzt online bei der FAZ: Martin Gecks Forderung an die Wagner-Regisseure, ein Sabbatical einzulegen.

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Musik

Ernst, wirklich sehr, sehr ernst ist es Hans Zippert (FAZ) mit seiner Empfehlung der stolzen acht Kilo schweren Vinyl-Edition, auf der die Beatles endlich so klingen, wie sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach klingen sollten: In Mono. Und diese Box, meint Zippert, ist bis auf weiteres wirklich erst einmal alles, was man sowohl von den Beatles, aber auch an Musik generell zu besitzen braucht. Man vergesse die alten, nach Kanälen aufgegliederten und dabei dünn gewordenen Stereo-Aufnahmen: Nun klingt die Musik "sehr transparent und federnd, vor allem zentrierter, wie man es bei Mono auch erwarten sollte; denn da kommt die gesamte akustische Information aus einem Lautsprecher. Die Abmischungen erreichen eine erstaunliche räumliche Tiefe, die Produzenten sprechen von einem "beinahe dreidimensionalen Sound". Man braucht dazu auch keine spezielle Mono-Ausrüstung. Die Überlegenheit des neuen Materials wird ohne weiteres auch mit einem Stereotonabnehmer deutlich."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung blickt Markus Schneider auf das Berliner Konzertjahr 2014 zurück. In der Welt freut sich Michael Pilz schon auf die besten "Platten" 2015.

Besprochen wird das Silvester-Konzert der Berliner Philharmoniker, das heute nachmittag noch einmal wiederholt und im Ersten live übertragen wird (Tagesspiegel).
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Film


Lav Diaz: "Norte, The End of History"

Mit lediglich viereinhalb Stunden Laufzeit fällt Lav Diaz" erster regulär im deutschen Kino startende Film "Norte, The End of History" (unsere Besprechung) geradezu kurz aus, zumindest, wenn man die übrigen Filme des philippinischen Regisseurs als Maßstab anlegt. Im taz-Gespräch mit Dominik Kamalzadeh erklärt Diaz, der bei den Dreharbeiten gerne einmal ganze Drehbücher über den Haufen wirft, warum er lieber intuitiv arbeitet: "Der Grundverstand entscheidet, was passieren wird, kein theoretisches Konzept. Ich habe mich bis zu einem gewissen Grad von theoretischen Überlegungen befreien können, die mich am Arbeiten eher gehindert haben. [...] Theorien sind auch nur Konzepte: Wenn man sie anwendet, wird etwas ganz anderes daraus. Eine Theorie kann sich diskursiv ausbreiten, aber der Empirismus ist auf der Seite der Anwendung. Oft wird behauptet, dass sich der Diskurs erst nach der Anwendung befreit, aber in den meisten Fällen ist das nicht so. Theorien sind nur für Kaffee und Zigaretten gut."

Außerdem: Nachrufe auf die im stolzen Alter von 104 Jahren verstorbene Schauspielerin Luise Rainer schreiben Michael Omasta (Berliner Zeitung), Daniel Kothenschulte (FR) und Willi Winkler (SZ). Mehr auf Fandor.

Besprochen werden Frederick Wisemans "National Gallery" (critic.de), Roy Anderssons "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" (critic.de, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), David Ayers Kriegsfilm "Herz aus Stahl" mit Brad Pitt (critic.de, Tagesspiegel, SZ) und Jean-Pierre Améris" "Die Sprache des Herzens" (FAZ).
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Kunst



Deutsch-französische Konflikte wurden auch im Wettstreit um die Kunst der Gotik ausgetragen, lernt Kerstin Stremmel (NZZ) in der Ausstellung "Die Kathedrale" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum: "So ist eins der faszinierendsten Ausstellungsstücke kein Artefakt, sondern ein Zufallsprodukt mit hoher Symbolkraft: ein Wasserspeier, der dem Förderer mittelalterlicher Baukunst im 19. Jahrhundert Viollet-le-Duc zugeschrieben wird. Aus dem Maul des Tieres quillt erstarrtes Blei, das beim Beschuss der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen wegen des daraus resultierenden Feuers aus der Bedachung schmolz und über die Wasserspeier abfloss. Das Fabelwesen scheint beinahe zu ersticken an der Bleimasse, die wie ein aggressives Tier in seinen Schlund eindringt."

In der Zeit staunt Marie Schmidt über die Karlsruher Ausstellung einer zwanzig Jahre alten Installation der feministischen Medienkünstlerin Lynn Hershman Leeson, die darin schon maßgebliche Aspekte unserer heutigen Social-Media-Kultur vorweggenommen hat: "Die Digitalisierung hat künstliche Personen und Interfaces alltäglich werden lassen. Bevor man davon wissen konnte, schuf sich Lynn Hershman schon in den siebziger Jahren einen Avatar, den sie selbst verkörperte. ... Der Blick der männlichen Gesellschaft auf den weiblichen Körper hat ihn schon immer sich selbst fremd werden lassen. Deshalb können künstliches Leben und virtuelle Identitäten von heute eine Frau wie Lynn Hershman nicht erschrecken." (Bild: Lynn Hershman Leeson, iPhone Crack 2010. ©Lynn Hershman Leeson)

In der taz unterhält sich Katrin Bettina Müller mit Bernd Scherer vom Berliner Haus der Kulturen der Welt unter anderem über den Wandel des Zeitbegriffs: "Der Erste Weltkrieg ist der erste, der mit Armbanduhren geführt wurde. Das war die Voraussetzung für die Synchronisierung von Massenangriffen. ... Die mechanische Zeit war eine Voraussetzung des kapitalistischen Wirtschaftens und schrieb sich in die Körper der Menschen ein."
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