Efeu - Die Kulturrundschau

Kapitalismus ist schon in Ordnung

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27.08.2015. Die Zeit lässt sich von Clemens Setz erklären, wie man einen leistungsstarken Orgasmus bekommt. Der Standard besucht die Foto-Ausstellung "Black & White" in der Albertina. Die SZ hinterfragt die Ambitionen des Musicboards Berlin. Und die Welt sorgt sich um die Chancen von Sebastian Schippers Film "Victoria" bei den Auslandsoscars.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.08.2015 finden Sie hier

Literatur

Clemens Setz lässt in seinem neuen Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" den Freak zurückkehren, der nur vorübergehend die Bühne für den Nerd räumen musste. Ijoma Mangold ist in der Zeit Feuer und Flamme und gleich nach Graz gefahren, um mit Setz auf dem Tandem durch die Stadt zu fahren. Setz erzählt von seltsamen Steckdosen-Reihen in einem Swinger-Club: "Er, Setz, habe dann Kathrin Passig von den Steckdosen erzählt. Ob sie eine Erklärung wisse? Kathrin Passig fiel der Magic Wand, der leistungsstärkste Vibrator von Hitachi, ein. Mit ihm sei sie einmal über 20-mal in Folge zum Orgasmus gekommen. Der Stromverbrauch des Magic Wand ist allerdings so hoch, dass er nicht mit Batterien läuft, sondern ans Stromnetz muss. Aber geht man wirklich in einen Swingerclub, um seinen Magic Wand einzustöpseln?"

Weitere Artikel: Elise Graton spricht in der taz mit Simon Hanselmann über dessen Comic "Hexe Total". In der FAZ schildert Andreas Platthaus die verschlungenen Umwege, die ein als solches erst vor einigen Jahren eindeutig identifiziertes Selbstporträt von Peter Weiss anhand diverser Liebesbeziehungen nahm.

Besprochen werden u.a. Achille Mbembes "Kritik der schwarzen Vernunft" (NZZ), André Gides "Der Griesgram" (NZZ), Ilija Trojanows "Macht und Widerstand" (Tagesspiegel), Hartmut Langes "Der Blick aus dem Fenster" (Tagesspiegel), eine Neuauflage von Guido Crepax" lange Zeit indizierter "Valentina"-Comics (Tagesspiegel) und Katharina Hackers Roman "Skip" (Zeit).
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Film



Nach seinem Doku-Mafiadrama "Gomorrha" (unsere Kritik) wendet sich Matteo Garrone mit einem verschränkten Episodenfilm "Märchen der Märchen" dem reichhaltigen Schatz von Giambattista Basiles Märchensammlung "Pentamerone" zu. Dieser Versuch ist in den Augen von Fabian Tietke allerdings nur moderat gelungen, wie er im Perlentaucher schreibt: "Der Wille zum Welterfolg dringt dabei aus jeder Ritze. ... Interessant wird der Film immer dann, wenn er den Hokuspokus bleiben lässt und sich als in den Traditionen Süditaliens geerdeter Kunstfilm zeigt."

Fritz Göttler beschlichen trotz der prächtigen Landschaften beklemmende Gefühle, gesteht er in der SZ: "Dies ist ein Film der Klaustrophobie. Des Eingeschlossenseins, der Ausweglosigkeit. ... Garrone liebt am Märchen gewissermaßen seine postmoderne Seite, sein Spiel mit Schein und Wirklichkeit - wie es unaufhörlich die Formen und Konturen infrage stellt." Für Andreas Kilbs Geschmack (FAZ) mangelt es "Märchen der Märchen" (wie auch dem zeitgleich startenden "Barfuß durchs Leben" von Marco Tullio Giordana) gehörig an "Italianità": Alle beide seien sie ein ein Beleg dafür, "dass die große Zeit des italienischen Kinos vorbei" sei.

Sebastian Schippers Film "Victoria" wurde aus formalen Gründen für den Wettbewerb um den Auslandsoscar abgelehnt, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt. Für einen ausländischen Film wird dort zuviel Englisch gesprochen. "Es wäre böse Ironie, wenn dieser Film, dem die vom deutschen Kino geforderte Internationalität so mühelos gelingt, genau deswegen der Weg in die Welt versperrt würde, denn der Oscar ist dieses Tor, durch das ein Film muss", meint Rodek.

Weitere Artikel: Carolin Weidner wirft in der taz einen Blick aufs Programm der Berliner dokfilmwoche. In der taz empfiehlt Fabian Tietke eine Berliner Filmreihe zum jugoslawischen Kino der 60er Jahre. Für den Freitag bringt Simone Meier in Erfahrung, welche Hotels im auch früher schon nicht bezahlbaren Locarno die Schweizer Cinephilen in den frühen Neunzigern besetzten, um das alljährliche Filmfestival im Ort besuchen zu können. "Kapitalismus ist schon in Ordnung", sagt Ice Cube im Zeit-Interview mit Thomas Groß, der den NWA-Film "Straight Outta Compton" in einem zweiten Text bespricht. Ronald Düker trifft in Hollywood Werner Herzog und spricht mit ihm über seinen neuen Film "Königin der Wüste". Helmut Schödel schreibt in der SZ zum Tode des Schauspielers und Regisseurs Peter Kern. Einen großartigen Auftritt hatte dieser damals in Hermes Phettbergs "Nette Leit Show":



Besprochen werden das HipHop-Biopic "Straight Outta Compton" (taz, Perlentaucher, mehr in unserer gestrigen Kulturrundschau) und die britische Serie "The Game" (ZeitOnline).
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Bühne

Die Zeit hat Peter Sloterdijks Beschreibung seiner "Reise zu den Festspielen" nach Bayreuth online nachgereicht. Besprochen werden ein beim Festival Schloss Britz aufgeführter "Barbier von Sevilla" (Tagesspiegel) und eine südafrikanische Adaption der "Bohème" (Welt).
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Architektur

In der NZZ schreibt Roman Hollenstein zum fünfzigsten Todestag Le Corbusiers. Jürgen Tietz bescheinigt den Brüdern Benedikt und Ansgar Schulz, mit der von ihnen entworfenen Leipziger Kirche St. Trinitatis, "einen spannungsvollen Dreiklang formuliert [zu haben], der aus den Höhendominanten von Kirchenraum und schlankem Glockenturm sowie dem dazwischen sich erstreckenden kreuzgangartig offenen Pfarrhof besteht". (Dankwart Guratzsch geißelte kürzlich in der Welt ihre "entfesselte Leidenschaftslosigkeit")
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Stichwörter: Tietz, Jürgen, Le Corbusier

Kunst


Minor White, Zwei Scheunen bei Dansville, New York 1955. Albertina, Wien © Minor White

Zwei Theorien verbanden sich mit der Erfindung der Fotografie, lernt Roman Gerold in der Foto-Ausstellung "Black & White" in der Wiener Albertina, schreibt er im Standard: Die Vertreter des Piktorialismus begriffen die Fotografie als "Erweiterung der Malerei, nicht als deren Überwinderin". Die Dokumentaristen erhofften sich dagegen "aufrichtigere, wahrere Darstellungen" als in der zeitgenössischen bildenden Kunst: "Bemerkenswert vorausweisend auf eine Zeit, die an Fotografien wesentlich stärkere Zweifel haben sollte, erscheint indes die Arbeit Metamorphosen des Schweizer Fotografen Helmar Lerski: Man glaubt, die Porträts verschiedener Personen zu sehen. In Wahrheit fotografierte Lerski allerdings das immergleiche Antlitz im neuem Licht."

In der SZ bringt Thomas Steinfeld Hintergründe zum rätselhaften Dadaisten Karl Waldmann, dessen angebliche Werke seit einiger Zeit im Betrieb herumgereicht werden, von dem aber noch nicht einmal überliefert ist, ob es ihn überhaupt gegeben hat. Vor allem ärgert ihn, wie einige Kuratoren berechtigte Zweifel zu zerstreuen versuchen. Das empfindet er als "entschlossene Absage an das Museum als Institution".

Weiteres: Daniel Kortschak wirft für die FR einen Blick aufs Programm der kommenden Ars Electronica in Linz. Besprochen wird eine Ausstellung mit Bildern von Erich Heckel und Max Kaus im Brücke-Museum in Berlin (Tagesspiegel).
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Musik

Mit sichtlichem Unbehagen nimmt Ralf Krämer in der SZ zur Kenntnis, dass sich Berliner Veranstaltungen wie Atonal und das ansehnlich geförderte, vom Musicboard Berlin ausgerichtete Festival Pop-Kultur sich in Gestus und Wortwahl mit zusehends hochkulturellen Ambitionen schmücken. Ihm drängt sich der Verdacht auf, "dass sich das Musicboard Berlin kraft seiner staatlichen Mittel und der eigenen kuratorischen Kompetenz auch künstlerisch selbst verwirklichen will - und mit der Popmusik ausgerechnet jene Musik zur Erfüllung ihrer elitären Ansprüche heranzieht, die sich ursprünglich einmal durch ihre massenhafte Reproduzierbarkeit einem breiten Publikum zur Verfügung stellte."

Weitere Artikel: In der taz erinnert Christian Werthschulte an die dieser Tage auch mit einem Kinofilm gewürdigten Anfänge der GangstaRap-Pioniere N.W.A.: Durch sie "wurde Realness zur Leitwährung von Hip­Hop, die erst durch den Futurismus von ­Timbalands offensiver Künstlichkeit gegen Ende der Neunziger wieder abgewertet wurde." Jakob Buhre (Berliner Zeitung) unterhält sich mit dem Musiker Matthew Herbert. Eleonore Büning zieht nach dem Lucerne Festival in der FAZ Bilanz: Sie hörte dort "die besten Orchester der Welt ". Markus Ganz stellt in der NZZ Alex Price vor, den Produzenten der diesjährigen Zürcher Street-Parade-Hymne. Hannes Stein besucht für die Welt eine Ausstellung über Folkmusik im Stadtmuseum von New York. Peter Richter resümiert in der SZ das Afropunk-Festival in Brooklyn, an dem ihm besonders gut gefällt, "wie cool und elegant die Leute hier mit Erfreulichem wie Enttäuschendem umzugehen wissen" und dass Grace Jones zu ihrem "Slave To The Rhythm"-Klassiker "Hula-Hoop in einem Reifen [tanzt]" (passend dazu gibt es auf Pitchfork teils ziemlich tolle Fotos vom Festival und ein ausführliches Feature über Jones). Und dem us-amerikanischen Rolling Stone hat Ralf Hütter von Kraftwerk eines seiner seltenen Interviews gewährt.
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