Efeu - Die Kulturrundschau

Sogenannte Bildungsbürger

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2016. Der Freitag amüsiert sich mit dem Hokuspukus von Via Lewandowsky. Die Filmkritiker denken anlässlich von Sokurows Filmessay "Francophonia" über den Louvre unter deutscher Besatzung und über Kunst und Krieg nach. Der Autor Gregor Hens erzählt in der NZZ, was er beim Deutschunterricht für Flüchtlinge lernte. Der Tagesspiegel beklagt die Missachtung der Sperrfrist bei Buchkritiken. Die taz  porträtiert den Komponisten David Behrman.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.03.2016 finden Sie hier

Musik

Wie den Kölner Eklat deuten, als Zuschauer den Abbruch eines Steve-Reich-Stücks mit dem Cembalisten Mahan Esfahani durch Klatschen erzwangen (mehr dazu im gestrigen Efeu)? Über diese Frage zerbrechen sich die Feuilletons den Kopf. In der FR hält Judith von Sternburg das Ereignis für "eine merkwürdige Kölner Entgleisung". Auf ZeitOnline seufzt Volker Hagedorn: "Köln war musikalisch mal ein Avantgarde-Mekka!" Wichtig ist ihm die Feststellung, dass auch der brüskierte Cembalist in einem Blog darauf hinweist, dass ihm Ablehnung nur von einer Minderheit entgegen schlug: "Es war nicht die nächste 'Sturmabteilung' sozial schwacher Ungebildeter, die am Sonntag in der Philharmonie wie in einem späten Weimar gegen die Avantgarde anbrüllte. Es waren, wie Esfahani in seinem klugen Posting beschreibt, wütende alte Männer, Abonnenten, sogenannte Bildungsbürger. Akademiker, die vor der Veränderung der Welt - und sie verändert sich jetzt! - so viel Angst haben, dass sie die eigene (Kultur-)Geschichte vergessen."

In der taz porträtiert Franziska Buhre den Komponisten David Behrman, der heute in Berlin einen Vortrag zum Thema "American Experimental Music and Its Role in Germany from the 1950s" hält: "Die Interaktion zwischen menschlichen und elektronischen Akteuren war David Behrman in den fünf Jahrzehnten seines Schaffens stets wichtig. Eine Anordnung für verstärkte oder verfremdete Instrumente, Computer, selbstgebaute Synthesizer, Mikrofone, Lautsprecher oder Lichtsensoren enthält bei ihm immer den subtilen Brückenschlag zwischen humanen und automatisierten Komponenten." Hier eine Komposition aus den späten 60ern:



Weiteres: In der SZ porträtiert Harald Eggebrecht den Bratschisten Antoine Tamestit. "Schafft mehr Konzertsäle!", ruft Björn Woll in der Zeit deutschen Politikern zu.

Besprochen werden das neue Album "This Unruly Mess I've Made" von Macklemore (Tagesspiegel), Konzerte von Konstantin Wecker (FR) und Wanda (Tagesspiegel), ein Bruckner-Zyklus der Berliner Staatskapelle unter Daniel Barenboim in Tokio (FAZ), sowie das vom Netzwerk Norient herausgebene Buch "Seismographic Sounds", das SZ-Kritiker Jörg Scheller nur wärmstens empfehlen kann: "Ein unverzichtbares Kompendium für kosmopolitische Liebhaber von Popmusik zwischen Lokalem und Globalem, Mainstream und Underground, Techno-Avantgarde und Folklore, Politik und Kommerz."
Archiv: Musik

Kunst

In der NZZ stellt Melanie Keim die Vorarbeit von Marguerite Humeau mit dem Computerwissenschaftler Mathias Bürki für die Manifesta 11 vor. Es geht um Liebe! "Laut Humeaus Nachforschungen könnten Liebesgefühle das erste Mal bei Vorgängern der Säugetiere vor etwa 150 Millionen Jahren aufgetreten sein. Dieser Moment soll nun für die Manifesta an der ETH nachgestellt werden: durch zwei sich autonom bewegende, künstliche Wesen. Ob es zwischen den Computern, die auf Liebesfähigkeit programmiert sind, zum Balztanz oder gar zu einer Liebesgeschichte kommt, ob die ausgeschütteten Hormone Liebesgefühle wecken, wird bei Ausstellungsbeginn in vier Monaten noch ungewiss sein. Wie bei natürlichen Lebewesen hängt dies vom Spiel der Roboter ab, deren 'Gefühle' nicht programmiert sind."

Sarah Alberti vom Freitag hat mitunter gut lachen in Via Lewandowskys Ausstellung "Hokuspokus" im Museum der bildenden Künste in Leipzig: Zu sehen gibt es dort "narrative Absurditäten und technisch ausgeklügelte Objekte. ... Es [sind] Störfaktoren, die den Blick fürs Alltägliche schärfen: Ein Feuer hat den gedeckten Tisch in Brand gesetzt, doch die Sitzgruppe blieb unversehrt. Stehend auf Kunstrasen steckt ein Fernsehbildschirm den Zuschauern die Zunge heraus.."

Besprochen werden die Sigmar-Polke-Ausstellung im Frankfurter Städel (FR), eine Ausstellung von William Tucker im Kunstmuseum Winterthur (NZZ) und die Delacroix-Ausstellung in der National Gallery in London (SZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Zwei kurze Architekturvorstellungen in der NZZ: Roman Hollenstein begeistert sich für Francesco Buzzis mit neuester Robotertechnologie ausgestattete Wohnhäuser in Solduno. Und Jürgen Tietz weist auf eine Ausstellung zum Architekten Harry Seidler im Architekturmuseum der TU Berlin hin.
Archiv: Architektur

Bühne

Viele Opernpremieren, aber trotz eingebauter Aktualität keine tiefschürfenden Analysen erlebte NZZ-Kritiker Christian Wildhagen in diesem Frühjahr. Er macht eher eine Tendenz zum modischen Video und Regiekitsch aus: "Gut möglich, dass man demnächst, analog zu jüngsten Regieansätzen im Sprechtheater, auch die Ereignisse an Europas Grenzen oder die skandalösen Vorkommnisse der Kölner Silvesternacht beispielsweise in einer 'Aida'-Produktion wiederfindet. Ob damit etwas für das Werk gewonnen wäre? Es gibt mittlerweile einen Kitsch des Regietheaters, wenn Aktualität durch wohlfeiles Herbeizitieren bloß noch behauptet wird."

Außerdem: Rüdiger Schaper unterhält sich für den Tagesspiegel mit Annemie Vanackere, der Intendantin des Berliner Hebbel am Ufer.
Archiv: Bühne

Film



Tazlerin Barbara Wurm schätzt Alexander Sokurow als großen Freigeist des Weltkinos, als einen, "der im heutigen Kino nur noch an der Wacky-Werner-Herzog-Skala gemessen werden kann". Sein Filmessay "Francofonia" über das Ringen um den Louvre unter dem Vichy-Regime bestätigt ihr Urteil: Es ist "Sokurows persönlicher Gipfelsturm", lobt sie. "Die großen Nationen, ihr Geist (und ihre Geister), Europa und die Kunst, die Welt und ihr Verbleib - das ist hier Thema. Der Film: Ein Kommentar zum ewigwährenden Verhältnis von Kunst und Krieg, Humanismus und Macht sowie (Kultur-)Erbe und Ideologie." Auch Patrick Holzapfel ist im Perlentaucher voll des Lobs: "Die Rhetorik des Films [bewegt sich] auf höchstem Niveau, denn immer wenn man das, was einem in philosophischen, polemischen und todernst-verspielten Assoziationen vermittelt wird, hinterfragen möchte, übernimmt der Film die Frage selbst. Was bleibt ist ein Gedankenstrom, der einen so schnell nicht loslassen wird." In der Welt ging Swantje Karich dagegen die "schauderhafte Kritiklosigkeit" des Films gewaltig auf die Nerven. Walter Grasskamp findet ihn in der Zeit zu "überfrachtet"

Weiteres: Das Filmmuseum Potsdam zeigt Klassiker des Spionagefilms, berichtet Andreas Hartmann in der taz. Der Film Comment veröffentlicht Auszüge aus einem Gespräch zwischen Martin Scorsese und Jerry Lewis, das beide im Oktober 2015 in New York geführt haben. Für den Freitag schaut Juliane Leopold neue Serien.

Besprochen werden Andrew Bujalskis "Fitness" (Perlentaucher), Pablo Traperos "El Clan" (taz), Hans Steinbichlers Neuverfilmung von "Das Tagebuch der Anne Frank" (ZeitOnline, SZ), Michael Bays Kriegsfilm "13 Hours: The Secret Soldiers Of Benghazi" (taz, FAZ), Jay Roachs Biopic "Trumbo" (NZZ) und der neue Disneyfilm "Zoomania" (NZZ, "Die Bildsprache schwingt elegant vom Drolligen zum Pathos und zurück", freut sich in der FAZ Dietmar Dath).
Archiv: Film

Literatur

Der Schriftsteller Gregor Hens erzählt in der NZZ, was er beim Deutschunterricht in einer Berliner Notunterkunft für Flüchtlinge lernte. Etwa, "dass Integration weniger eine Frage der Verpflichtung ist als des Angebots: Wer eine Gesellschaft zu schätzen lernt, wer Berufsaussichten oder andere Gründe hat, Deutsch zu lernen und die Landessitten zu verstehen, der tut es im Normalfall auch - und zwar mit einer Freude, die man in normalen Klassenzimmern und Seminarräumen nicht jeden Tag erlebt."

Im Tagesspiegel ärgert sich Gerrit Bartels darüber, dass aktuelle Romane wie Heinz Strunks "Der goldene Handschuh" und Siegfried Lenz' aus dem Nachlass veröffentlichter "Überläufer" von einigen Zeitungen unter Missachtung der von den Verlagen verhängten Embargo-Sperren deutlich vor dem Erscheinungsdatum besprochen werden: "Warum will immer jemand der Erste sein, Hype-Taktgeber? Zeugt das jetzt von mehr Kompetenz? Wem nützt das bloß?" Passend dazu bespricht Klaus Bittermann heute in der taz mit "Panikherz" den neuen Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre (Auslieferungsdatum: 10. März).

Weiteres: Der Freitag bringt einen Vorab-Auszug aus Jörg Magenaus neuem Buch "Princeton 66: Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47". Maxim Biller darf im Interview mit der Zeit auf einer ganzen Seite seinen neuen Roman loben. Und auf arte kann man sich einen einstündigen Porträtfilm über den ziemlich durchgeknallten SF-Autor Philip K. Dick ansehen.

Besprochen werden Ronja von Rönnes Debütroman "Wir kommen" (taz), Wilfrid Lupanos und Grégory Panacciones Comic "Ein Ozean der Liebe" (Tagesspiegel), Matthias Nawrats Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" (NZZ), Garry Dishers Krimi "Bitter Wash Road" (Welt) und Siegfried Lenz' "Der Überläufer" (Welt, FAZ, mehr dazu hier). Mehr zur Literatur im Netz in unserem Metablog Lit21.
Archiv: Literatur